Down-Syndrom: Das verschwindende Kind
Emma hat eben ihren ersten Geburtstag gefeiert. Sie ist klein. Eigentlich könnte man sie für halb so alt halten. In ihrer Lebensphase ist das noch kein Vorteil. Sie kann noch nicht sitzen. Andere Kinder sind dazu meist mit sechs bis acht Monaten in der Lage. Aber Emma kann lachen. Mit Sorgenfalten auf der Stirn in die Welt schauen. Und richtig wütend brüllen, wenn sie findet, dass ihr eigentlich längst die Milchflasche zustünde.
Emma besitzt das 21. Chromosom aufgrund einer unüblichen Verteilung des Erbguts in dreifacher Ausführung; sie ist ein Down-Syndrom-Baby. Viele Dinge wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nie erlernen. Ein völlig selbstbestimmtes Leben wird sie nie führen können. Aber mit der entsprechenden Förderung und Unterstützung wird sie klar sprechen und später lesen, rechnen und schreiben lernen. Einen Schulabschluss machen. Einen Beruf ausüben. Sie kann mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von siebzig Jahren rechnen. Die irische Großmutter hat sich bei Emma durchgesetzt: Sie ist rothaarig. Zufrieden gurgelt sie Mamamama und tätschelt das Gesicht ihrer Mutter. Evelyne Faye ist Französin und mit dem profil-Fotografen Philipp Horak verheiratet.
Laut der Wiener Down-Syndrom-Ambulanz leben heute in Österreich geschätzte 9000 Menschen mit dieser Behinderung, die die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen stark einschränkt. Eine exakte Statistik existiert nicht. Auch deswegen, weil imFehlbildungsregister der Statistik Austria nur jene Diagnosen erfasst werden, die bereits zum Zeitpunkt der Geburt feststanden. Viele Fehlbildungen werden aber erst später gesichert diagnostiziert und deswegen nicht statistisch erfasst. Mit Letztstand 2011 wurden in Österreich sechs Säuglingen Trisomie 21 attestiert, 2010 waren es noch doppelt so viele. An anderen Chromosomenanomalien litten 2011 acht Säuglinge, 2010 waren es noch 14. Die häufigsten Formen der bei der Geburt konstatierten Fehlbildungen sind körperlicher Natur: deformierte Füße und Gaumenspalten. Laut einer Mikrozensus-Befragung der Statistik Austria aus dem Jahr 2007 schätzen sich in Österreich 85.000 Menschen als intellektuell eingeschränkt und an Lernproblemen leidend ein, wobei der Grad der geistigen Benachteiligung in dieser Umfrage nicht erfasst ist. Wie viele Down-Syndrom-Kinder einem Spätabbruch zum Opfer fallen, kann nur geschätzt werden. Experten sprechen von 90 Prozent. Emmas Trisomie-21-Diagnose kam erst viele Stunden nach ihrer Geburt und völlig überraschend. Sie wurde ihrer erschöpften und noch sehr glücklichen Mutter im Wiener St. Josef Krankenhaus nach der Geburt vom Bauch genommen, weil sie angeblich dringend Sauerstoff brauchte: Da hatte ich noch keinerlei Verdacht. Ich dachte nur, dieses Kind ist viel kompakter als mein erstes fast wie eine kleine, süße Kartoffel.
Evelyne hatte schon fröhliche SMS-Botschaften von Emmas gelungener Ankunft an die in ganz Europa verstreuten Verwandten verschickt. Und dann begann der Albtraum. Plötzlich hieß es, Emma leide an einem Herzfehler, sie müsse nach Glanzing, in die Kinderstation des Wilhelminenspitals, verlegt werden. Ihr Vater begann verzweifelt zu googeln. Herzfehler bei Neugeborenen wurden in der Suchmaschine häufig in Zusammenhang mit dem Down-Syndrom erwähnt. Fragen begannen durch seinen Kopf zu schießen. Von den Ärzten sollte er noch lange keine Antwort bekommen nur verlegenes Herumgedruckse und nebulose Andeutungen.
Es verging ein halber Tag, ehe Emmas Eltern im menschenleeren Gang der Kinderklinik Glanzing von einem Arzt, den sie erstmals in ihrem Leben zu Gesicht bekamen, zwischen Tür und Angel, die verlegene Frage Sind Sie mit Trisomie 21 vertraut? gestellt bekamen. Beim Abschluss des Gesprächs erklärte er den beiden, dass sie ihre Tochter erst am folgenden Tag ab 12 Uhr sehen könnten. So seien eben die Besuchszeit-Vorschriften.
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