Es waren einmal … die Antisemiten

Ideologie. Warum Rechts­-­außen-Parteien plötzlich der Judenfeindlichkeit entsagen

Drucken

Schriftgröße

„Ich liebe Hitler.“ Mit diesem hässlichen Satz musste sich vergangene Woche tout Paris auseinandersetzen; am härtesten traf es die Hippen und Schönen, denn der Ausspruch stammte von einem der Ihren: von John Galliano, einem seit vielen Jahren gefeierten britischen Designer und Wahlfranzosen, einem Aushängeschild der Mode­metropole Paris. Nun prangte ein Hakenkreuz auf der Nobel-Marke Galliano. Der Arbeitgeber des 50-Jährigen, das Haute-Couture-Unternehmen Dior, setzte den flamboyanten Bohemien vor die Tür. Die Polizei ermittelte wegen rassistischer Beleidigungen, die Galliano gegenüber einem Paar in einem Lokal getätigt haben soll.
Von jemandem aus dem libertären, progressiven Milieu der schönen Künste hatte man solch finsteres Verhalten nicht erwartet. Doch die wahre Pointe sollte noch kommen. Ausgerechnet Marine Le Pen meldete sich zu Wort, die Vorsitzende der allgemein als rechtsextrem eingestuften französischen Partei Front National. Die Tochter des vielfach wegen antisemitischer Äußerungen verurteilten Parteigründers Jean-Marie Le Pen zeigte sich zutiefst empört über Gallianos Aussage und erleichtert darüber, dass man ihn sofort entlassen habe. Sein Verhalten sei „untragbar“.
Seltsam. Dass Künstler gegen antisemitische Ausfälle rechtsextremer Politiker protestieren, kennt man. Aber umgekehrt?
Wie es aussieht, werden wir uns an den zur Schau gestellten Antifaschismus einer Marine Le Pen gewöhnen müssen. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, den Front National vom Antisemitismus-Vorwurf reinzuwaschen. Als sie im vergangenen Jänner für das Amt der Parteivorsitzenden kandidierte, stellte sie öffentlich klar, wer in ihrer Partei nicht mehr willkommen sei: katholische Fundamentalisten, Pétainisten – also Anhänger von Philippe Pétain, dem Staatschef der französischen Nazi-Kollaborationsregierung – und Leute, die „von der Shoah besessen“ sind. Antisemiten also. Prompt kehrten ­einige altgediente Recken der Partei den ­Rücken.
Die 42 Jahre alte Juristin Le Pen, zweifach geschiedene Mutter von drei Kindern, sagt Dinge, die ihr verlässlich reaktionärer Vater nie über die Lippen gebracht hätte. Mit dem Hinweis auf die Gefahr des radikalen Islam stellt sie sich schützend vor „Juden, Frauen, Homosexuelle und ganz normale weiße Franzosen“ – eine zweifelhafte und dennoch revolutionäre Formulierung für eine rechtsextreme Politikerin.
Le Pen ist mit ihrem Strategiewechsel nicht allein. Vergangenen Dezember unternahmen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, Filip Dewinter vom flämischen Vlaams Belang, René Stadtkewitz, Gründer der rechten deutschen Gruppierung „Die Freiheit“, und Kent Ekeroth von den Schwedendemokraten eine Reise mit originellem Ziel: Israel. Dort veröffentlichten die gestandenen Rechtsaußen-Politiker eine „Jerusalemer Erklärung“, in der sie sich mit dem Judenstaat solidarisch zeigen, der „einer islamischen Terrorbedrohung ausgesetzt“ sei. „Unser Herz ist mit euch“, sagte Strache zu jüdischen Siedlern (profil 2/2011). Mit dem Ausflug ins Heilige Land schaffte es die rechte Reisegruppe immerhin in das amerikanische Magazin „Newsweek“.
Außerdem gab es Applaus für den Israel-Trip aus der Richtung jüngerer rechter ­Formationen, wie etwa der deutschen pro-Bewegung, die sich dem Kampf gegen die angebliche Islamisierung Deutschlands ­verschrieben hat. pro-Chef Markus Beisicht sagte, Israel und Europa seien „mit den gleichen Problemstellungen“ befasst.
Schließlich gibt es am rechten Rand
der westeuropäischen Parteienlandschaft auch einen Geert Wilders, dessen militante antiarabische Haltung im Nahost-Konflikt mit dem Terminus „pro-israelisch“ nur unzureichend beschrieben werden kann.
Aber kann das alles wahr sein? Entsagt die extreme Rechte in Westeuropa dem Antisemitismus und verbrüdert sich dauerhaft mit dem Judenstaat?
Für diese Annahme spricht zunächst vor allem eine pragmatische Überlegung: Mit Antisemitismus ist in Westeuropa keine Wahl mehr zu gewinnen. Mehr noch, Nick Griffin, Chef der rechtsextremen British National Party, analysierte vor einigen Jahren, dass es wenig Sinn mache, etwa „über ‚jüdische Macht‘ zu lamentieren“, denn damit sei garantiert, dass es „jedem einzelnen Journalisten in der westlichen Welt die Nackenhaare aufstellt“. Die BNP nahm sich diese Erkenntnis allerdings selbst kaum zu Herzen.

Ausgedient. Die Abscheu der Journalisten ist nur ein winziger Aspekt eines Phänomens: Der Antisemitismus hat offensichtlich als politischer Faktor in Westeuropa ausgedient. profil traf vor einigen Jahren den inzwischen verstorbenen, einstigen Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Rabbi Arthur Hertzberg. Dieser hatte als Autor von Standardwerken über den Antisemitismus Erstaunliches zu sagen: „In der mehr oder minder geschlossenen weißen und christlichen Welt hatte das Feindbild Jude eine ganz konkrete Funktion. Die jüdische Religion war die konkrete Negation des Christentums. In den mittlerweile ethnisch durchmischten und säkularisierten Gesellschaften hingegen verliert der Jude seine zentrale Stellung als Feindbild.“ Das Resultat: Die Bedeutung des Antisemitismus als politische Sinn- und Identitätsstiftung ist verschwunden.
Wer sich heute als Antisemit zu erkennen gibt, verabschiedet sich von jeglicher politischer Relevanz und wird zu einer Art lächerlich-gruseliger Jahrmarktattraktion.
Die Vertreter traditionell antisemitischer Parteien spüren dies. Ob sie in der Lage sind, einen echten ideologischen Bruch mit ihrer Vergangenheit zu bewerkstelligen, ist fraglich. Meist steht einem ernsthaften intellektuellen Prozess das Leugnen im Weg, zumindest was den öffentlichen Diskurs angeht. Heinz-Christian Strache etwa antwortete profil auf eine schriftliche Anfrage, ob er sich heute von einschlägig antisemitischen Aussprüchen von FPÖ-Politikern distanziere: „Mir sind keine solchen Aussagen bekannt.“
Marine Le Pen hingegen tastet sich in dieser Richtung etwas weiter vor und stellt klar, dass sie die antisemitischen Aussagen ihres Vaters zurückweist – etwa seinen berüchtigten Ausspruch, die Gaskammern des Dritten Reichs seien „ein Detail der Geschichte“ gewesen. Natürlich spielen auch biografische Umstände eine Rolle, etwa das simple Faktum, dass für die aktuelle Politikergeneration die Blütezeit des Antisemitismus nur noch eine historische Ära ist.
Aber selbst eine durch Pragmatismus und machtpolitischen Instinkt motivierte Abkehr von antisemitischer Rhetorik hat Folgen für die jeweiligen Parteien. Weil der Antisemitismus sich nicht mehr zur politischen Instrumentalisierung eignet, muss im Sinne von Hertzbergs Theorie der Selbstvergewisserung durch ein Feindbild ein neuer „Jude“ her. Diesen haben die rechtsextremen Parteien in Westeuropa längst gefunden: den Muslim.

Anti-Islam-Politik. Das gilt nicht für die osteuropäischen Länder. Die profil-Autoren Gergor Mayer und Bernhard Odehnal haben es in ihrem Buch „Aufmarsch – Die rechte Gefahr aus Osteuropa“ (Residenz Verlag) analysiert: „Da es in osteuropäischen Ländern so gut wie keine Zuwanderung gibt, richtet sich die Aggression gegen die eigenen Minderheiten, vor allem gegen Roma (in allen Ländern), gegen Juden (besonders in Ungarn, Serbien und der Slowakei), gegen Homosexuelle (praktisch überall).“
In den alten EU-Mitgliedsstaaten hingegen ist Anti-Islam-Politik zur wesentlichen Konstanten der Rechten geworden. BNP-Chef Nick Griffin hat auch diesen Aspekt seiner Strategie dargelegt: „Es leuchtet ein, dass eine so genannte ‚islamophobe‘ Position, die eine große Zahl von gewöhnlichen Leuten anspricht, eine wesentlich bessere Medienpräsenz mit sich bringt.“
Nicht nur das. Im Gegensatz zu antisemitischen Topoi sind vergleichbare Polemiken gegen Muslime nicht geächtet. Im Gegenteil. Den folgenden Satz etwa würde man vielleicht Le Pen, Wilders oder Strache zuschreiben: „So führt eine direkte Linie von der Al Kaida im Irak und der Intifada in Palästina zu den Jugendlichen mit ‚Migrationshintergrund‘ in Neukölln und Moabit.“ Geschrieben hat ihn der jüdische Publizist Henryk M. Broder. Auch die Einschätzung, der Islam sei „ein destruktiver, nihilistischer Todeskult“, klingt nach einem wüsten Rechtsextremen – sie stammt jedoch von der in Somalia geborenen Feministin und Intellektuellen Ayaan Hirsi Ali.
Somit erweist sich Anti-Islam-Politik als geniale Waffe der neuen Rechten. Sie können ungehemmt lospoltern und sich dabei in der Mitte der Gesellschaft wähnen.

Angewidert. Die neue große Erzählung der Rechtsaußen-Parteien lautet in etwa so: „Unsere Kultur ist vom Islam bedroht, der sich in Europa durch die Einwanderung von Muslimen ausbreitet. Die Situation Israels ist ein exemplarischer Fall für diese Gefahr.“ Und so kommt es, dass nicht etwa der europäische und der arabische Antisemitismus zu einer politischen Kraft verschmelzen, sondern stattdessen der Islamhass der Rechtsextremen plötzlich in Solidarität mit Israel mündet. Die Juden reagieren auf diese unerwartete Annäherung zunächst verständlicherweise skeptisch bis angewidert – haben doch dieselben Leute, die auf einmal das Heilige Land für sich entdecken, vor Kurzem noch Holocaust-Leugner hofiert.
Andererseits hören es manche Juden, die den radikalen Islam als reale Bedrohung empfinden, gern, wenn zum Beispiel Ma­rine Le Pen in die Menge donnert, man müsse den Muslimen klarmachen, dass „Europa kein Kalifat“ sei. Die ältere Generation von Juden dürfte gegen die Versuchung, rechtsextrem zu wählen, wohl immun sein. Die israelische Online-Nachrichtenplattform „Gysen International News“ veröffentlichte jedoch bereits unter dem Titel „Juden, die Marine lieben“ einen Aufruf, auf keinen Fall dem Ruf der blonden Sirene zu erliegen. Le Pen zu wählen, nur weil sie die anti­islamische Kandidatin sei, wäre der falsche Weg, so die Warnung.
Das Begraben des Antisemitismus oder die Gründung neuer rechtsextremer, pro-israelischer Parteien mag unglaubwürdig erscheinen, verlogen oder zynisch – eines ist es jedenfalls: erfolgreich. Marine Le Pen überflügelt in Umfragen bereits jetzt ihren Vater. Man traut ihr sogar zu, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr den zweiten Wahlgang zu erreichen. Das schaffte Jean-Marie Le Pen zwar im Jahr 2002 auch, doch er schlitterte in der Stichwahl in ein Debakel, weil sich die ganze ­Nation hinter Le Pens Gegenkandidaten Jacques Chirac vereinte. Le Pen war ganz einfach das Schreckgespenst, das es zu verhindern galt. Mit Marine Le Pen jedoch hat sich das Bild des Front National gewandelt, und immer mehr Wähler, vor allem der konservativen Partei UMP, können sich auch vorstellen, Le Pen zu wählen.

Konsequenzen. Alain Minc, ein Berater von Staatspräsident Nicolas Sarkozy, glaubt, der Front National werde sich zu einer Partei ähnlich der deutschen CSU entwickeln. Der Sohn eines jüdischen Widerstandskämpfers sagte in einem Radio-Interview, es falle ihm schwer, über Marine Le Pen dasselbe Urteil zu fällen wie über Jean-Marie Le Pen, da ihre Ansichten über die Shoah so eindeutig divergierten. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut äußert sich noch eindeutiger: „Der Antisemitismus der extremen Rechten ist vorbei. Jean-Marie Le Pen ist ein Antisemit, aber seine Tochter ist definitiv keine Antisemitin.“
Das tatsächliche oder auch nur vermeintliche Ende des politischen Antisemitismus hat mehrere Konsequenzen:
E Der Antisemitismus verschwindet in noch stärkerem Maß aus der Öffentlichkeit. Das heißt nicht, das nicht noch ein Bodensatz vorhanden wäre, der in unbewussten Bildern tradiert würde, oder dass es nicht noch Mandatare gäbe, die gelegentlich für antisemitische Äußerungen gut wären.
E Auf der politischen Ebene rücken die rechtsextremen Parteien dank akzeptierter pro-israelischer Haltungen noch weiter in die Mitte und verlieren zusehends den Makel der Unwählbarkeit.
E Das eröffnet neue Möglichkeiten für Mehrheiten rechts der Mitte. Der grüne Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit hält bereits nach den französischen Präsidentschaftswahlen eine Allianz des Front National mit der konservativen UMP für möglich.
E Die rechten Formationen erhöhen den Druck auf die anderen Parteien im Wettstreit um die radikalste Anti-Islam-Politik.

Soll man sich über das Verblassen des politischen Antisemitismus freuen? Sicher, wenn auch nicht ungeteilt, denn alles deutet darauf hin, dass es die rechtsextremen Parteien stärker macht. Wird sich die Judenfeindlichkeit andere Ventile suchen? Fragen Sie John Galliano.

Mitarbeit: Georg Hoffmann-Ostenhof, Martin Staudinger

Lesen Sie im profil 10/2011 ein Interview mit Marie Le Pen über die antisemitischen Aussagen ihres Vaters.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur