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„Feuchtgebiete”: Ekeljux oder Porno-Feminismus?

Kino. „Feuchtgebiete”: Ekeljux oder Porno-Feminismus?

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Die Lust am Brechreiz ist hoch. Vor allem bei jenen, die vorher schon wussten, wie sehr sie gegen jenes Werk sein würden, für das sie seit Monaten Werbung machten: "So ekelhaft wird der Kinofilm“, titelte die "Bild“-Zeitung bereits im Juni. Auf allen Kanälen schürten die Marketingspezialisten die Angst vor den Exzessen der nun nicht mehr nur les-, sondern auch hör- und sichtbaren "Feuchtgebiete“. Ein Jugendfilm sei das, der Jugendschutz brauche. Die erste Version des Trailers musste wegen "sexuell expliziter Inhalte“ bei Facebook gesperrt und aus dem Netz genommen werden. Und die Kinoversion von "Feuchtgebiete“ (Österreich-Kinostart: 23.8.), so hieß es, enthalte Szenen, die "das Zartgefühl einiger Zuschauer verletzen könnten“. Mehr noch: Sie sei "nicht geeignet für Zuschauer unter 16 Jahren - Ausweiskontrolle beim Einlass“. Kein Wunder also, dass nach so viel Vorabwarnungen die Mehrzahl der deutschen Kritiker nach Ansicht des fertigen Films darin erleichtert "ein Ereignis“ sehen möchte. Es war natürlich zu ahnen, dass "Feuchtgebiete“ schon mehr oder weniger salonfähig sein würde: Wo das konservative ZDF bereitwillig koproduziert, ist wahrhaft Unstatthaftes nicht zu vermuten.

Als die Verfilmung des Charlotte-Roche-Romans am Sonntag vorvergangener Woche beim Filmfestival in Locarno zur Weltpremiere gelangte, gab die Autorin Vielsagendes zu Protokoll: "Vor Jahrzehnten haben Frauen öffentlich ihre Büstenhalter verbrannt, um die Emanzipation voranzutreiben. Das muss man leider immer mal wiederholen.“ Immerhin hat sich die kluge Frau Roche neben ihrem Selbstporträt als Neo-Suffragette, die mit sexpositivem Feminismus gegen sich wieder verfestigende Weiblichkeitsklischees antritt, auch einen Sinn für das Verspätete ihres Tuns bewahrt. Denn eigentlich hatten die sexuelle Revolution nach 1968 und spätestens die Punk-Bewegung der mittleren 1970er-Jahre die Fronten schon einmal geklärt. Der Feminismus hatte längst erreicht, dass sich Frauen nicht mehr vor allem über Anmut, Dezenz und Wohlgeruch definieren lassen mussten. Und doch war Roches Rundumschlag offenkundig nötig. Denn in den 1980er-Jahren hatte man die Entkrampfung des Geschlechterverhältnisses schnell wieder verdrängt und in den 1990er-Jahren dann so konsequent vergessen, dass schon damals alle Erinnerungen an die Ära der sexualpolitisch wehrhaften Frauen in ein anderes Jahrtausend zu verweisen schienen.

Weibliche (Anti-)Pornografie
Es sind vermutlich dennoch nicht so sehr die feministischen Aspekte des Romans (siehe auch Rosemarie Schwaigers Analyse), die dem 2008 erschienenen Buch zweieinhalb Millionen Käufer allein in Deutschland beschert haben. Der Voyeurismus, den "Feuchtgebiete“ selbstverständlich mitbedient, war da wohl eher Zugpferd. Dabei ist die weibliche (Anti-)Pornografie, auf die Roche setzt, nicht ohne moderne Vorbilder: Elfriede Jelineks Sex-Sprachdekonstruktion "Lust“ erregte fast 20 Jahre vor "Feuchtgebiete“ die Feuilletons mit einem ungleich präziseren Verständnis für die soziale Sprengkraft des Obszönen - und mit dem Versuch, die brutalisierte pornografische Sprache wider den Chauvinismus nutzbar zu machen. Aber es ist Roches direkter, gänzlich untheoretischer Zugang, der Massen-Appeal gewährleistet. Der Film zum Bestseller beherzigt daher die Grundregeln seiner Vorlage: Sei krass, laut und simpel. Alles andere findet sich von selbst.

+++ „Danach ist nichts mehr von dir übrig” – Interview mit Charlotte Roche +++

Aber ohne Ironie geht im Kino gar nichts mehr: Ehe die Inszenierung noch begonnen hat, wird ein Insert eingeblendet, das einem Leser von "Bild-Online“ zugeschrieben wird. Roches Buch "sollte nicht verfilmt werden“, es sei "nichts weiter als ein Spiegel dieser traurigen Gesellschaft“. Und: "Wir brauchen Gott.“ Die freundliche atheistische Heldin des Romans sieht das anders. Sie beschreibt sich als "nervenschwach, gestört und unglücklich“ - was übrigens auch für den Rest der weiblichen Linie ihrer Familie gelte. Das Mädchen zieht daraus die Konsequenz: Es lässt sich sterilisieren, um nicht noch mehr kaputte Kinder in diese Welt zu setzen.

Krankhafte Schmutzphobie
Regisseur David Wnendt nutzt zunächst jede Chance, Scham- und Geschmacksgrenzen zu übertreten - und dabei das Entertainment nicht zu vergessen. Gleich eingangs lädt er auf eine computeranimierte Reise in die Minimonster-Wunderwelt einer Bakterienkultur ein, die auf der Klobrille einer verdreckten öffentlichen Toilette wuchert. Seine Heldin, die 18-jährige Helen, wird mit Skateboard und Girl-Rock-Soundtrack vorgestellt. Ihre Teenagerrevolte richtet sich auch gegen die krankhafte Schmutzphobie ihrer Mutter. Der Einstiegssatz des Romans ("So lange ich denken kann, habe ich Hämorrhoiden“) gibt den Ton vor: Helen suhlt sich mit dauerjuckendem Anus sehr bewusst im Dreck, vor den Zumutungen der Gesellschaft rettet sie sich in Selbstverletzung, Exhibitionismus, Drogenrausch und ungehemmten Sex mit Fremden. Waschen hält sie für kontraproduktiv: Wir alle seien bloß "Tiere, die sich paaren wollen“; es sollte daher stets "leicht und betörend aus der Hose riechen“. So taucht Helen in ihr ganz persönliches Ekel-Universum: in eine Schleimrevue mit Spermapizza und Vaginalflora-Experiment.

Wnendt denkt die hysterischen Reaktionen seines jugendlichen Publikums auf die Bilder, die er ihnen schenkt, gleich mit: "Feuchtgebiete“ blättert sich betont heiter durch ein Lexikon des Unerfreulichen, das von Anal-Inkontinenz und Menstruationsmalerei bis zum offenen Zynismus reicht. Aber Wnendt bewegt sich auf gesichertem Terrain, kitzelt mit dauerbeschwingter Musik und einer Vielzahl von Spaßmontagen, in denen Körperflüssigkeiten unentwegt mit Lebensmitteln assoziiert werden, die Nerven seiner Kundschaft. Und schließlich hat auch Helens Psychopathologie einen nachvollziehbaren Hintergrund: Sie ist von den lieblosen Eltern (Meret Becker, Axel Milberg) geschädigt, deren Trennung sie nicht verkraftet hat. So steht hinter der Schmutz-Apotheose der "Feuchtgebiete“ doch nur die romantische Utopie der Heldin, der Kleinmädchentraum von Mamis und Papis ewiger Liebe. Auch wenn es am Ende natürlich existenziell wird und ernster, als die deutsche Kino-Comedy erlaubt: Da Helen im Spital wegen eines Afterrisses auf den netten Pfleger Robin (Christoph Letkowski) trifft, kann sich die Subversion der Hygieneverweigerung alsbald in Love-Story-Konventionen auflösen.

Überraschende Momente
Dass der Film dennoch keine Fluchtreflexe provoziert, liegt am ungewöhnlichen, verhaltenen Stil der Hauptdarstellerin: Die Schweizerin Carla Juri, die schon zum Zeitpunkt der Dreharbeiten neun Jahre älter war als das Mädchen, das sie darstellt, hat sich einen wunderlich raunenden, an Roche orientierten Sprechsingsang antrainiert, der nie gezwungen erscheint. So gelingen Juri überraschende Momente - sie spielt, als improvisierte sie. Aber auch sie kann darüber nicht hinwegtäuschen, dass "Feuchtgebiete“ weit weniger mutig ist, als die deutsche Filmindustrie das gerne hätte. Die Kinogeschichte ist an "skandalösen“ Frauen und tabubrechenden Teenagern keineswegs arm. Schon die 21-jährige Catherine Deneuve stellte 1965 in Roman Polanskis Psychothriller "Ekel“ ein unter Sexualpanik und Wahnvorstellungen leidendes Missbrauchsopfer dar, das sich - mit drastischen Konsequenzen - in seiner Angstwelt verbarrikadierte. Punkgestus und Pornolust trieb auch die Französin Virginie Despentes um, als sie 1999 ihren eigenen, 1993 verfassten Roman "Baise-moi“ verfilmte. Und US-Regisseur sowie Autor Harmony Korine hat sich seit seinem Debüt "Kids“ (1995) darauf spezialisiert, die psychischen Verschiebungen zu protokollieren, die in übersexualisierten Teenager-Lebenswelten zu beobachten sind: Sein umstrittener Film "Spring Breakers“ (2012) zeugte erst unlängst vom heftigen Wirklichkeitsverlust einer konsumsüchtigen Jugend.

„The Bling Ring”
Sofia Coppolas soeben auch in Österreich gestarteter Film "The Bling Ring“ erzählt nun - wie "Feuchtgebiete“ - nicht nur von adoleszenter Grenzüberschreitung, sondern auch von der Sehnsucht nach einem neuen Kino, das so monoton, so anti-narrativ ist wie Facebook oder Online-Pornos: Jede Episode gleicht der nächsten, das Spaßlevel bleibt konstant, Dramaturgien werden rückstandsfrei entsorgt. Die Libido der Jungen hat sich in die Warenwelt verschoben. So sieht der Teenager-Hedonismus 2013 aus: konsumistisch, zeigefreudig, radikal öffentlich. Alles geht. Peinlichkeit war gestern.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.