Franz Kafka wäre heute 130 Jahre alt geworden
Die Fakten sind bekannt: Der jüdische Versicherungsbeamte und Schriftsteller Franz Kafka wurde 1883 geboren, er verstarb 1924 an Kehlkopftuberkulose in einem Sanatorium bei Wien. Kafka, auch das ist belegt, verließ kaum je seine Heimatstadt Prag, er war nie verheiratet. Als Beamter fungierte er, bis zu seiner Pensionierung 1922, als stellvertretender Leiter einer Abteilung mit 70 Angestellten. Als Schriftsteller hinterließ er etwa 3400 Seiten Tagebuchaufzeichnungen und literarische Fragmente, dazu rund vierzig abgeschlossene Prosatexte. Mit "Die Verwandlung" schuf Kafka die wohl berühmteste Erzählung des 20. Jahrhunderts, drei seiner unvollendeten Romane - "Der Verschollene", "Der Prozess", "Das Schloss" - zählen, wie etwa Musils "Mann ohne Eigenschaften", zu den Großruinen der modernen deutschsprachigen Epik. Zweimal hat Kafka, der zu Lebzeiten wenig mehr als einige hundert Druckseiten veröffentlichte, aus seinen Manuskripten öffentlich gelesen, seinen testamentarischen Weisungen zufolge sollte sein Nachlass "restlos und ungelesen" verbrannt werden.
"Wir dürfen lesen, staunen, danken"
Seit Jahrzehnten wird versucht, aus Kafka das unergründbare literarische Genie par excellence zu machen. Ein festgefügtes Bild, die blinde Verehrung des Auratischen: Franz Kafka als der kleinlaute und linkische Beamte mit dem rosigen Bubengesicht, der nebenbei, als nächtlicher Kampfschreiber, Weltliteratur produziert; Kafka, der mit seinem Werk einen mehrdimensional verschachtelten, mit Zeichen und Figuren, Mythen und Metaphern überreich ornamentierten Irrgarten erdachte. "Wir dürfen lesen, staunen, danken", schwärmte Kurt Tucholsky.
Schockwelle
Der Wissenschaftslektor Reiner Stach, hat in "Kafka. Die Jahre der Entscheidungen", dem ersten Teil seiner auf drei Bände angelegten Biografie, erstmals genauer hingesehen - und die Ikone der Weltliteratur wieder im Alltag verortet. Kafka "war weder unschuldig noch rein, weder körperlos noch sexuell neutral", schreibt Stach trotzig. Er sei auch nicht, im Gegensatz zur gern kolportierten Fama, nur der strauchelnde Sprössling eines despotischen Vaters gewesen. Auf über 600 Seiten, vorwiegend die Jahre 1910 bis 1915 betreffend, versucht Stach zu ergründen, auf welche Weise "der sozial unscheinbarste Mensch dazu fähig ist, in der Geschichte der Weltliteratur eine Schockwelle auszulösen, deren Echos bis heute nachhallen".
Zusammengekrümmt, erhitzt
Stach ist um große Worte nicht verlegen, des öfteren nimmt er in eine allzu dramatische Diktion Zuflucht ("Kafka lag schlaflos im Bett, zusammengekrümmt, erhitzt"), seine Ausführungen klingen stellenweise seminaristisch (so füllt er Seite um Seite mit mentalitätsgeschichtlichen Verweisen) und im Anspruch auch vermessen (Stach behauptet, es existiere bislang schlichtweg keine große Kafka-Biografie; Klaus Wagenbachs Kafka-Darstellung aus dem Jahr 1958 etwa unterschlägt er schlicht): Trotz solcher Mängel hat Stach eine superbe Biografie vorgelegt.
"Die Zustände in Amt und Familie berühren sich bei Kafka mannigfaltig", hat Walter Benjamin bereits 1934, ohne jegliche Kenntnis von Kafkas Leben gehabt zu haben, festgestellt; Stach belegt eindrucksvoll, dass Kafkas Werk nicht nur auf unkontrollierten dichterischen Schüben basiert, sondern dass dem Schreiben, der "ergiebigsten Richtung meines Wesens" (Kafka), sehr wohl reale Ereignisse zugrunde liegen. Etwa der 13. August 1912: Kafka lernt die Angestellte Felice Bauer kennen, eine bizarre Beziehung inklusive längerer Unterbrechungen und Zeiten des massiven Zweifels beginnt; im Briefwechsel sind possierliche Höflichkeiten ebenso zu finden wie handfeste Beschimpfungen. Ausgelöst durch Bauer, erlebt Kafka, ganz im Gegensatz zur sonstigen Schreibqual, eine fiebrig produktive Zeit: Es entstehen die Erzählungen "Das Urteil" und "Die Verwandlung", Kafka nimmt kurz darauf die Arbeit am "Prozess"-Roman auf. "Kafka in Ekstase", notierte der Dichterfreund Max Brod verwundert in seinem Tagebuch.
"Säuferin"
Nicht ganz ins Bild des mimosenhaften, anämischen Dichters passt auch, dass Kafka bisweilen ungehemmt losschimpfen konnte. Über die Dichterin Else Lasker-Schüler schrieb Kafka sehr real und deftig: "Ich kann ihre Gedichte nicht leiden, ich fühle bei ihnen nichts als Langeweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mir lästig ... ich stelle sie mir immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt."