„Ich war nie der ­Beruhigungsonkel“

Fritz Plasser: „Ich war nie der ­Beruhigungsonkel“

Bilanz. Politologen-Doyen Fritz Plasser über die österreichische Boulevarddemokratie

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Fritz Plasser kann sich noch gut erinnern. Es muss 1981 gewesen sein, als ihm ein deutscher Politikwissenschafter-Kollege ein Gutachten faxen wollte. Plasser machte sich auf die Suche nach einer derartigen Maschine – und fand tatsächlich eine im hintersten Eck der ÖVP-Parteizentrale. Unausgepackt. Niemand hatte gewusst, wozu das merkwürdige Gerät dient. Der Quantensprung an Technologie ist es nicht, der dem 65-jährigen Doyen der Politikanalyse den Wechsel in den Ruhestand leicht macht; da könne er schon mithalten, sagt er. Seit vier Jahrzehnten ist Plasser geübt, Muster politischer Entscheidungen zu sezieren. Zuletzt konnte er sich über den Zustand der Politik nur wundern. Er macht das erhöhte Tempo für den Niveauverlust verantwortlich.

Plasser: Die enorme Beschleunigung der Politik ist sehr problematisch. Wir nähern uns einer instant democracy, in der die Zeit für Entscheidungen bis auf Nanosekunden verknappt ist. Es gibt kein Innehalten mehr, das führt zu zunehmender Oberflächlichkeit. Auch die Politikvorbereitung hat sich extrem verkürzt. Vor 30 Jahren bereiteten Politiker ihre Auftritte mit viel Ernsthaftigkeit vor, an den ersten Reden zur Lage der Nation von ÖVP-Obmann Alois Mock wurde wochenlang gearbeitet. Da ging es nicht um einen Sager in der „Zeit im Bild“, sondern um Inhalte.

profil: Verunmöglicht das hohe Tempo fundierte Politik?
Plasser: Es verlockt viele, sich dem Tempo hinzugeben. In einer überkommunizierten Realität mit Twitter, Facebook und Co gibt es den Druck und die Verlockung, permanent präsent zu sein – in einer Dichte, die nicht mehr bewältigbar ist. Entsprechend schaut die Politik aus. Die Anzahl der beeindruckenden Parlamentarier ist sehr klein geworden. Ich sehe niemanden, der das Auftreten oder die Rhetorik eines Heinrich Neisser hätte. Heute werden nicht einmal rhetorische Mindestqualitäten erfüllt, bis hin ins Kanzleramt. Frühere Regierungsspitzen kamen der Statur der Eloquenz viel näher – Bruno Kreisky etwa, Franz Vranitzky in den ersten Jahren und, bei aller Kritik, Wolfgang Schüssel.

profil: Hätte ein langsam nuschelnder Politiker wie Kreisky heute eine Chance?
Plasser: Eine derartige Persönlichkeit wie Kreisky würde die Möglichkeiten der Kommunikation nutzen, aber Distanz dazu halten. Zudem würde gerade Kreiskys Entschleunigung wirken. Ich will die beiden Persönlichkeiten nicht einmal ansatzweise vergleichen – aber nehmen Sie Herrn Stronach. Er steht für absolutes Ignorieren der Regeln der Mediendemokratie und bewusstes Brechen von professionellen Auftrittsmustern. Gerade dieses Nicht-Stromlinienförmige ist offensichtlich Teil seines Erfolgs.

profil: Welcher Politiker hat Sie im Lauf der Jahrzehnte überrascht?
Plasser: Auch wenn dies für viele zunächst überraschend klingen mag: Viktor Klima. Ich war mehrmals bei ihm eingeladen. Beim ersten Gespräch rechnete ich mit einer Aufmerksamkeitsspanne von maximal einer Stunde. Es wurden drei Stunden dichter Diskussion, in denen ich eine reflektierende Person kennen lernte, die dem öffentlichen Bild des simplen Phrasendreschers überhaupt nicht entsprach.

profil: Glauben Politiker, sich dümmer stellen zu müssen?
Plasser: Von vielen wird die Anforderung, volkstümlich oder populär zu sein, als Notwendigkeit missinterpretiert, sich durch Plattheit anbiedern zu müssen.

Fritz Plasser ist ein nüchterner Intellektueller, dem Kraftausdrücke fremd sind. Vielleicht fehlen selbst ihm deshalb kurz die Worte, als er für den profil-Fototermin im Plenarsaal des Parlaments sitzt. Der unwürdige Bauzustand des Hohen Hauses sei durchaus symbolisch: „Der Parlamentarismus ist unter dem westeuropäischen Durchschnitt entwickelt.“ Schuld daran ist die Spezialausformung der österreichischen Politik als Parteiendemokratie. Als Plasser im Jahr 1974 seine Dissertation schrieb, waren 75 Prozent aller Österreicher emotional an SPÖ oder ÖVP gebunden. Heute sind es noch knapp 35 Prozent – und 55 Prozent wollen von keiner Partei etwas wissen. Für diese enorme Parteienverdrossenheit macht Plasser vor allem einen Mann verantwortlich: Jörg Haider.

Plasser: Das populistische Moment ab den 1980er-Jahren war im internationalen Vergleich bemerkenswert. Österreich war hier Vorreiter, Berlusconi begann damit erst 1994. Dieses populistische Moment ging nicht mit Haiders Tod zu Ende. Die von ihm niedergerissenen Zäune konnten nicht mehr hochgezogen werden. Nur das erklärt, warum ein Stronach auf zehn Prozent kommen kann, obwohl er kein Programm vorzuweisen hat. Haider hat den traditionellen Parteienstaat destabilisiert. Und er ist bis heute nicht wieder konsolidiert.

profil: Müsste man Haider dafür nicht bis zu einem gewissen Grad dankbar sein?
Plasser: Dazu fehlt mir die Größe. Immerhin hallen Ressentiments, die Haider verbreitete, bis heute als Echo nach. Schon 1995 wiesen wir in einer Studie die nachgerade militante Einstellung zu Ausländern nach. Diese Fremdenfeindlichkeit ist in Österreich im internationalen Vergleich stark ausgeprägt.

profil: Woran liegt das?
Plasser: Österreich ist eine Boulevarddemokratie. Der Boulevardsektor sucht im europäischen Vergleich seinesgleichen und betreibt seit vielen Jahren in informeller Koalition mit politischen Akteuren redaktionellen Populismus, der den politischen Populismus verstärkt. Die Boulevardkampagnen gehen weit über das ­hinaus, was die deutsche „Bild“-Zeitung betreibt, und werden zudem mit Steuergeldern alimentiert.

profil: Wird die Macht des Boulevards nicht überschätzt? Das Trommeln für ein Berufsheer etwa nutzte zuletzt wenig.
Plasser: Ohne die „Kronen Zeitung“ wäre das Votum noch eindeutiger für die Wehrpflicht ausgegangen. Aber Sie haben Recht: Die Macht des Boulevards wird von Politikern vielfach überbewertet. Alle Detailanalysen zeigen, dass „Kronen Zeitung“ und Co ihr unglaubliches Einflusspotenzial nur entfalten können, wenn die Führungs- und Überzeugungskraft einer Regierung gering ist. Sobald eine Regierung standfest bleibt und gut begründet argumentiert, schwindet die Veto-Macht des Boulevards.

Schon im Kindergarten begann Plasser mit Feldforschung. In nicht repräsentativen Stichproben und etwas eigennützig erhob er etwa „Wer will keinen Spinat?“. Innenpolitik war zentraler Bestandteil des Familienlebens, schon der Großvater war bei den Christlichsozialen engagiert. Bis heute erinnert sich Plasser an eine Wahlkampfveranstaltung der ÖVP in den 1950er-Jahren, zu welcher der Großvater den Volksschüler mitnahm: Bundeskanzler Julius Raab hatte damals Opa und Enkel Plasser an der Hand genommen und in die erste Reihe geführt. Das prägte. Schon während seines Studiums in den 1970er-Jahren begann Plasser für die ÖVP mit Grundlagenforschung und verließ die Bundesparteileitung im Jahr 1990.

Plasser: Es war höchste Zeit zu wechseln, um den Berufsweg an der Universität einschlagen zu können. Man hat mich danach noch einige Jahre immer wieder für Expertisen kontaktiert. Empirische Befunde zu präsentieren war oft unangenehm, weil es stets eine Gratwanderung war, nicht zu verletzen, aber auch nicht zu beschönigen. Ich war nie der Beruhigungsonkel. Dafür gab es andere. Diese Offenheit trug mir den Spitznamen „Kassandra“ ein – weil leider meine bitteren Prognosen oft eintraten.

profil: An welche erinnern Sie sich besonders deutlich?
Plasser: Etwa an den Wahlkampf 1986. Die ÖVP unter Alois Mock machte sich damals berechtigte Hoffnungen, erstmals seit dem Jahr 1970 die SPÖ zu überholen. Ungefähr drei Wochen vor der Wahl zeichnete sich in unseren Analysen derart deutlich ein Bild ab, dass ich Mock sagen musste: Es ist over. Die SPÖ wird Erster. Diese Zeit der Politikberatung ist aber vorbei.

profil: Welchen strategischen Rat würden Sie heute der ÖVP geben?
Plasser: Erstens eine Repositionierung vorzunehmen und stärker zu Kernkompetenzen zurückzukehren. Es reicht nicht zu behaupten, eine Wirtschaftspartei zu sein. Das muss mit Inhalten gefüllt werden. Zweitens fehlt die Breite: Was die ÖVP über Jahrzehnte auszeichnete, war die Existenz liberaler urbaner Positionen, wenn diese auch immer minoritär waren. Unter Erhard Busek war diese Prägung auf dem Höhepunkt, unter Wolfgang Schüssel immerhin vorhanden. In den vergangenen fünf, sechs Jahren ist urban oder liberal in der ÖVP nicht mehr zu erkennen, das ist bedauerlich. Die Strömung war eine Möglichkeit, Personen für die ÖVP zu interessieren, die nie ein Parteilokal betreten würden. Die finden jetzt keinen Anker. Das trägt zum deplorablen Zustand der ÖVP bei.­

„Wahlforschung ist keine Wettervorhersage“, doziert Plasser gerne – und lässt sich dann doch auf Prognosen für die Landtagswahlen ein: „Ich gehe davon aus, dass die Landeshauptleute sich halten.“ In Niederösterreich sei die absolute Mehrheit für Erwin Pröll in greifbarer Nähe, sogar in Kärnten könnte Gerhard Dörfler mit „60-prozentiger Wahrscheinlichkeit“ trotz immenser Verluste Landeshauptmann bleiben. Auch für Salzburg erscheint Plasser Platz eins für Gabi Burg-stallers SPÖ derzeit die wahrscheinlichste ­Variante.
Wesentlich instabiler sei die Situation auf Bundesebene: „Die große Koalition hat sich überlebt.“

Plasser: Die große Koalition hat einen Zustand erreicht, bei dem es kein Argument mehr gibt, sie fortzusetzen. Bedauerlicherweise sind offensichtlich die Batterien beider Koalitionsparteien erschöpft. Weder SPÖ noch ÖVP sind zu Politikimpulsen imstande, auch deshalb, weil sie eine Extremform gegenseitiger Animosität erreicht haben. Daher wird die Wahl mit hoher Wahrscheinlichkeit keine tragfähige Mehrheit mehr für SPÖ und ÖVP bringen. Damit wird eine Dreierkoalition wahrscheinlich – und das birgt erhebliches Konfliktpotenzial, schon bei der Regierungsbildung.

profil: Derartige Koalitionsformen funktionieren in anderen Staaten auch.
Plasser: Die von der SPÖ präferierte Dreier­variante ist jene mit den Grünen – das ist aber aus Sicht der ÖVP die schlechteste Konstellation. Sie kann dann zu Recht davon ausgehen, dass sie schon bei der Formulierung des Regierungsprogramms zum Minoritätspartner wird. Seitenverkehrt gilt das für eine Dreierkoalition SPÖ-ÖVP mit einer Rechtspartei, zu der sich wohl die SPÖ nicht breitschlagen lassen wird. Die dritte Möglichkeit wäre Schwarz-Blau, mit oder ohne Stronach. In der ÖVP gibt es nach wie vor führende Proponenten, die damit liebäugeln. Aber in An­betracht der Verflochtenheit mit der EU ist es schwer vorstellbar, die FPÖ in die ­Regierung zu nehmen. Es gibt also einige Optionen, aber keinen Ausweg.

profil: Österreich steuert also auf die Unregierbarkeit zu?
Plasser: Zumindest auf eine schwerwiegende Regierungsbildungskrise. Es gibt keine Erfahrungen, wie man mit einer solchen Situation umgehen kann. Man könnte jetzt zynisch sagen, es werden spannende Wochen. Aber vor derartig spannenden Zeiten sollte man sich hüten.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin