Helmut A. Gansterer

Helmut A. Gansterer Angst frisst Geist

Angst frisst Geist

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„Auch große Geister haben nur ihre fünf Finger breite Erfahrung.“ Friedrich Nietzsche

Diese Kolumne hat zum Ziel, der Frage nachzugehen, warum das vordergründig Nutzlose noch immer nicht als Grundnahrungsmittel gilt. Warum die Kultur im Allgemeinen als Luxusspeise, die Kunst im Speziellen als exotisches Gewürz abgetan wird; warum zweckfreie Lust und Freude am Spiel, die in der Antike vorrangige Elemente des Lebens waren, heute im Ruf giftiger Nachspeisen stehen. Und warum „Das Denken um des Denkens willen“ gar nichts gilt, daher auch gern mit dem kultivierten Etikett „luftpudern“ versehen wird.

Auf der Suche nach Antwort wählte ich Umwege und die wissenschaftliche Methode der Induktion: Ich schloss von einzelnen, authentischen Erlebnissen aufs Ganze. Etwa so, wie Bildhauer angesichts der 5-Meter-­Statue „David“ von Michelangelo auf den ursprünglichen Marmorblock schließen, aus dem sie gehauen wurde.

Im Einzelnen sah mein Erkundungsweg so aus: Vor einem
Jahr befahl mir ein junger Chefredakteur des Verlags „schau media wien“, Christoph Berndl, die legendären „Wiener Spaziergänge“ von Daniel Spitzer für die frisch geschlüpfte Programmzeitschrift „In Wien“ neuzeitlich aufzugreifen. Aus Respekt für die geliebte Kollegin Evi Deissen, mit deren Tod eine gleichnamige Kolumne versunken war, wählte ich den Titel „Wallfahrten“.

Dieser passte gut. Ich kehrte nach beschaulichem Landleben fromm zu meinem wichtigsten Talent zurück, dem wachen Überleben einer Großstadt-Achtel-Tour bis in den frühen Morgen.

Für Nichttrinker und deutsche LeserInnen übersetzt: ständig in Bewegung, ein Glas Wein pro Lokal. Maximal zwei Gläser, wenn man eine Glühbirne trifft, die gerade hell leuchtet, also Erleuchtung verheißt. Man sammelt auf diese Weise viel menschliche Klasse und neues Wissen.

Auf diesen neuen Tauchfahrten durch Wien entdeckte ich zwei Welten. Eine gute, die ich von früher kannte, und eine ungute, die mir unbekannt war. Zuerst die gute. Sie entspricht dem Kolumnen-Motto „good news“. Man begreift, warum die Mercer-Studie seit Jahren Wien als lebenswerteste Weltstadt auszeichnet.

Auch hier sterben Lokale, aber unüblich viele Ikonen wie Eden, Reiss, Bellini, Wolke, Motto, Roter Engel, Planter’s und die meisten Hotel-Bars überlebten. Und die wertvollen Promis aus der Welt von Kunst & Geist können hier gut privat sein. Sie bleiben unbehelligt. Die Österreicher sind dezenter, als sie selbst flagellantisch glauben. Sie ­begegnen den globalen Stars und dem lokalen stardust ideal: mit distanter Bewunderung. Weshalb die Sterne hier gerne öffentlich strahlen, was der Stadt guttut. Ich hörte dazu schon früh Komplimente von Peter Ustinov (Imperial), Richard Burton (Hotel Bristol) und Mickey Rourke (Plaza-Hilton).

Jetzt, wieder eingetaucht in die Seele Wiens, erkenne ich aber auch die Kulturverwöhnung der Bürger. Anders gesagt: Dekadent seit Jahrzehnten, nehmen sie das eigene Kulturwunder nicht mehr wahr. Zirka 100 Prozent aller Japaner kommen wegen der Hochkultur zu uns, also Oper, Musikverein, Konzerthaus, Mozart, Haydn, Bruckner, dann auch Makart, Klimt und Schiele sowie Schnitzler, Bahr und Zweig. Jüngere wollen auch die aktuelle Wunderstadt kennen lernen, mit tausend modernen Künstlern aller Art. Eine Stadt, die Nobelpreisträger wie Elfriede Jelinek, Oscar-Regisseure wie Stefan Ruzowitzky und Oscar-Schauspieler wie Karl Markovics und Christoph Waltz aus dem Ärmel schüttelt.

An vielen Österreichern, auch Wienern, rasselt dies vorbei, sobald die Zeiten wirtschaftlich strenger werden. In der vermeintlichen Not wird die Kultur zum Feind. Geist und Kultur werden automatisch zurückgestuft, als seien sie nur für die schönen Tage da, so wie Christbaumschmuck nur im Dezember hervorgeholt wird. Dabei weiß man heute, dass Kultur eine Lokomotiv-Branche ist. In modernen Städten schafft sie bereits mehr neue, bunt gestreute Arbeitsplätze als die alte Lok-Branche IT (Informationstechnologie).

Die Künstler selbst darf man nicht fragen. Sie verschlimmern die Sache in ihrer Not. Sie verlangen zuweilen, man möge die Subventionen der Wiener Oper streichen. Man könne damit 10.000 bisher erfolglose Künstler ernähren. Sie begreifen nicht, dass sie damit ein gemeinsames Fundament untergraben. Irgendein Anfang muss aber gemacht werden, um nicht die Kunst weiterhin als erstes Opfer ­jeder Sparwelle preiszugeben.

Vielleicht sollten sich die FreundInnen in der Kunst­politik und in den Medien-Kunst-Ressorts nicht nur dem täglichen, aktuellen Vogelschiss widmen, sondern auch einer aufklärenden Vogelschau, sofern sie selbst eine haben. Sie würde ergeben, dass Kunst und Kultur unendlich wichtiger sind, als sie in Krisenzeiten behandelt werden.

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