Gerichtsmedizin: Spurensuche im Augiasstall
Der Mann im dunklen Anzug, weißen Hemd und Krawatte empfindet sich als Marathonläufer mit Bleigürtel, der 15 Minuten verspätet startet und trotzdem als Erster ins Ziel kommen will. Manfred Hochmeister, 47, leitet seit Jahresbeginn das Wiener Institut für Gerichtsmedizin. Er hat mit dem Institut auch gleich einen in der Vorwoche bekannt gewordenen Rechnungshofrohbericht über die dort eingerissenen Zustände übernommen, der nicht nur ihm die Schweißperlen auf die Stirne treibt.
Denn die Prüfer fanden dort im Untersuchungszeitraum 20012002 nicht nur bauliche und hygienische Zustände vor, die teilweise jeder Beschreibung spotten. Sie kritisieren auch die lukrative private Gutachtertätigkeit, welche die angestellten Sachverständigen zu einem beträchtlichen Teil während ihrer Dienstzeit entfalteten, ohne ihren Dienstgeber dafür angemessen zu entschädigen. Ja, die RH-Prüfer stießen sogar auf vereinzelte fragwürdige Praktiken bei der Erstellung von Gutachten, sodass es nun zu klären gilt, ob es womöglich Gerichtsentscheidungen gibt, die auf solch fragwürdigen Gutachten fußen. Aufsicht und Kontrolle waren mangelhaft beziehungsweise gar nicht vorhanden nicht im Institut, nicht seitens des Dienstgebers oder von Behörden, welche die Sachverständigen mit der Erstellung von Gutachten beauftragten.
Jene Mitarbeiter des Instituts, die laut Rechnungshof für die kritisierten Zustände verantwortlich sind, haben inzwischen ihre Geschütze in Stellung gebracht. Sie schwärzen Hochmeister bei der Ärztekammer an er verfüge für seine Position über keine ausreichende Qualifikation; sie holen sich juristische Unterstützung bei der Gewerkschaft Hochmeister habe kein Recht, sich über ihre privatwirtschaftliche Sachverständigentätigkeit unter Nutzung der Institutseinrichtungen zu informieren; sie formulieren Anzeigen und verkehren mit ihrem neuen Chef vielfach nur noch via Anwaltsschreiben, sodass man rasch zu dem Schluss kommt: Diesem Mann kann man zu seinem Job kaum gratulieren.
Fehlentwicklung. Hochmeisters Vorgänger Georg Bauer, der im Zentrum der RH-Kritik steht und der mit Ende Oktober in Pension geht, kostet das alles nur ein müdes Lächeln. Von profil um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen im RH-Bericht gebeten, winkt er ab: Jetzt nicht. Er werde aber zur rechten Zeit zu den medialen Berichten der letzten Tage ausführlich Stellung nehmen. Immerhin leitete er nach dem Abgang des legendären Wilhelm Holczabek im Jahr 1989 das Institut fast 15 Jahre lang. Der Vorwurf, dass es in dieser Zeit zu jenen Fehlentwicklungen kommen konnte, die der Rechnungshof jetzt ausgerechnet im 200. Jahr des Bestehens des Instituts aufs Korn nimmt, trifft aber die Politik und die Verantwortlichen in den Ministerien mindestens genauso wie den im Abgang begriffenen Bauer.
Vorerst handelt es sich bei der RH-Kritik nur um einen Rohbericht, in den erst die Stellungnahmen der Kritisierten eingearbeitet werden müssen. Erfahrungsgemäß fällt der Endbericht etwas milder aus. Allerdings meinen jene, die schon seit Jahren mit dem Finger auf die ihrer Meinung nach schaurige Praxis des Instituts zeigten, dass in einem Rechnungshofbericht ja auch nur erwiesene Tatsachen stünden. Und die können genauso gut bloß die Spitze eines Eisbergs sein.
Durch Jahrzehnte hindurch war das gerichtsmedizinische Institut eines der Flaggschiffe der Wiener medizinischen Schule gewesen, das etliche, in viele Sprachen übersetzte Standardwerke des Fachs hervorbrachte. Es behielt seinen Weltrang im Wesentlichen bis in die Zeit seiner renommierten Leiter Leopold Breitenecker und Wilhelm Holczabek. Unter dem Patriarchen Breitenecker erfuhr das Haus im Jahr 1962 seine bis heute letzte Adaptierung zu einem für damalige Begriffe modernen Institut. Breiteneckers Nachfolger Holczabek, ein etwas umgänglicherer Typus, war in den letzten Jahren seiner Tätigkeit auch Dekan und Rektor und konnte sich folglich nicht mehr ausschließlich dem Institut widmen. Bei seiner Emeritierung im Jahr 1989 äußerte er gegenüber Ministerialbeamten die Befürchtung, dass das Institut zerbröseln könnte.
Etwa um diese Zeit, so erinnert sich Wolfgang Schütz, heute Rektor der Wiener Medizin-Universität (siehe auch Interview), nahm der Umfang der durch Bedienstete des Instituts ausgeübten privaten Gutachtertätigkeit derart zu, dass sich die Frage stellte, wie die Honorierung neben den Bezügen als öffentlich Bedienstete abzuwickeln sei. Denn die Strafprozessordnung bestimmt, dass mit der Erstellung von Gutachten gerichtlich beeidete Sachverständige ad personam zu betrauen seien, nicht aber eine Institution. Bei kleinen Instituten wie etwa in Salzburg, wo es neben der leitenden Gerichtsmedizinerin nur einen Assistenten gibt, wird die Leiterin beauftragt, bei großen Instituten wie in Wien mit seinen 15 Sachverständigen und Spezialisten ist das nicht gut möglich.
Um für die Abwicklung der Honorarflüsse und die Abgeltung der Institutskosten eine praktikable Form zu schaffen, gründeten der Leiter des Instituts, Georg Bauer, und zwei seiner engsten Mitarbeiter eine Gesellschaft nach bürgerlichem Recht durchaus legal und mit Wissen des Ministeriums. Diese Gesellschaft verteilt Honorare an Gutachter sowie an Mitarbeiter, die an der Erstellung von Gutachten beteiligt sind, und führt 15 Prozent ihrer Einkünfte an das Ministerium ab. Ein nach RH-Ansicht zu niedrig bemessener Anteil.
Anläufe versandet. Anfang der neunziger Jahre sah sich das Wissenschaftsministerium (BMWF) veranlasst, die Rechtslage im Zusammenhang mit der wachsenden privaten Gutachtertätigkeit der Wiener Gerichtsmediziner zu analysieren. Zitat aus dem RH-Bericht: Das BMWF kam zum Ergebnis, dass die Sachverständigentätigkeit eine Nebentätigkeit darstellte, die die Sachverständigen entweder während der Dienstzeit mit Erstattung eines Kostenersatzes oder außerhalb der Dienstzeit zu erbringen hätten. Lösungsvarianten (strikte Einhaltung der Vorschriften über die Nebentätigkeit oder Änderung der StPO) wurden nicht umgesetzt.
Weil solche Anläufe, die Dinge sauber zu regeln, wieder versandeten, stand dem Aufblühen der lukrativen Nebentätigkeiten nichts im Wege. Einzelne Gutachter entwickelten enge Vertrauensverhältnisse zu Richtern, Kriminalabteilungen und Prosekturen: Das wirkte sich jeweils durchaus positiv auf das Geschäft mit Leichenbeschauungen, Obduktionen und Gutachten aus. Pro Jahr flossen laut Rechnungshof an die 2,5 Millionen Euro auf das Konto der Gerichtsmediziner. Im Einzelfall machte das monatliche Zubrot oft mehr als das doppelte Gehalt aus.
Gleich mehrfach teilten die Gutachter dem Gericht mit, dass sie sich außerstande sehen, im Rahmen des GMI (Gerichtsmedizinisches Institut, Anm.) Aufträge zur Gutachtenerstattung zu übernehmen, und dem Gericht die unerledigten Akten wieder zurücksandten. Nicht ohne das Ersuchen, doch im Falle einer Betrauung als Gutachter die Gerichtssache an die private Ordinationsadresse zu senden, da dort eine rasche Erledigung gewährleistet sei. Laut RH-Bericht wurden im Jahr 2002 rund 2580 Aufträge im Wert von 637.250 Euro auf diese Art und Weise verrechnet, allerdings bei ungleicher Verteilung: Während die meisten Sachverständigen auf 20 bis 130 Aufträge pro Jahr kamen, die sie am Institut erledigten, gutachtete der Fleißigste 1600-mal im Jahr in seiner Privatordination. Er kassierte dafür zusätzlich zu seinem Bundesgehalt und dem Zubrot aus der Sachverständigengesellschaft ein jährliches Honorarvolumen von 350.000 Euro.
Mit dem Aufblühen des Gutachtergeschäfts ging der wissenschaftliche Output des Instituts sukzessive zurück. Im Jahr 2002 sei, bemängelte der Rechnungshof, für mehr als die Hälfte der 15 akademischen Mitarbeiter keine messbare wissenschaftliche Tätigkeit nachzuweisen. Und für die Jahre davor falle der Befund nicht anders aus.
Die Auftraggeber erwiesen sich als durchaus großzügig. So zahlte etwa die Stadt Wien für eine sanitätspolizeiliche Obduktion 500 Euro, die Stadt Graz hingegen nur 76.
Neben der wissenschaftlichen Qualität ließ offenbar bald auch die Qualität der Gutachten nach. Der Rechnungshof soll festgestellt haben, dass bei einzelnen Gutachten Gewebsschnitte befundet worden seien, ohne dass ein Nachweis für die Existenz dieser Gewebsschnitte existiere. Der verdächtigte Gutachter soll sich damit rechtfertigen, er habe die Gewebsschnitte in der Mittagspause oder am Wochenende befundet und anschließend weggeworfen, weil das Gutachten rasch fertig sein musste. Es soll aber Zeugen dafür geben, dass mitunter auch inexistente Gewebsschnitte befundet und abgerechnet worden seien.
Ein ehemaliger Mitarbeiter des Hauses soll den Rechnungshof auf die Personalakte einer bestimmten Gutachterin hingewiesen haben. Daraus sei nämlich ersichtlich, dass diese zur Sachverständigen bestellt wurde, obwohl ihr gesetzlich dafür vorgeschriebene Praxisjahre fehlten.
Räumliche Mängel. Zum Niedergang der Sitten kam, dass die räumlichen Mängel des Hauses immer drückender wurden. In den 92 Kühlfächern des Leichenhauses wurden zumeist zwischen 100 und 125 Leichen aufbewahrt, sodass fallweise bis zu drei Tote in den Laden übereinander lagen. Die hygienischen Verhältnisse waren im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend (siehe auch Zitate aus dem Rechnungshofbericht). Die Zustände in der Wiener Gerichtsmedizin hatten sich auch unter Forensikern in Deutschland und der Schweiz herumgesprochen was zur Folge hatte, dass sich lange Zeit kein Gerichtsmediziner von Rang fand, der einer Berufung nach Wien folgen wollte.
Als besonders abschreckend erschien potenziellen Bewerbern um den Wiener Lehrstuhl unter anderem auch die im alten Universitätsorganisationsgesetz vorgeschriebene Wahl des Institutsleiters durch die drittelparitätisch besetzte Institutskonferenz. Denn in der Praxis bedeutete dies, dass ein neu berufener Ordinarius kaum Aussicht hatte, auch die Leiterposition des Instituts zu erklimmen. Im speziellen Umfeld des Wiener Instituts war auch klar, dass die Institutskonferenz stets jenen Mann zum Leiter wählen würde, der in der privaten Gesellschaft der Sachverständigen für die Verteilung der Zubrote zuständig ist.
Widerstand. Der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Bern, der Österreicher Richard Dirnhofer, lehnte eine Berufung aus all diesen Gründen ebenso ab wie Stefan Pollak, Institutsdirektor in Freiburg im Breisgau. 1998 entschied sich SPÖ-Wissenschaftsminister Caspar Einem für den Österreicher Manfred Hochmeister, einen in Basel und Bern ausgebildeten DNA-Spezialisten. Nach Auslaufen des alten UOG bestellte die nunmehr autonome Universität diesen Mann auch zum Institutsleiter. Der will jetzt das Kunststück wagen, den Augiasstall auszumisten und die Wiener Gerichtsmedizin gegen massiven inneren Widerstand wieder zu einem international renommierten Institut zu machen.