Die Wirtschaft ruft nach ausländischen Fachkräften

Gescheit gescheitert: In Österreich verkümmern die Talente

Zuwanderung. Im Land verkümmern die Talente

Drucken

Schriftgröße

Die Hörer des Jugendsenders FM4 hatten ihren Spaß mit „Muhi“, wenn er einmal in der Woche seltsame Worte in den Äther sprach: „Abols nekrit talu no Celma.“ Oder: „Aloha No Au Ia Oe.“ Die Anrufer im Radiostudio durften dann ihre Übersetzungen zum Besten geben. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ auf Lettisch oder „Ich liebe dich“ (wörtlich: Glückseligkeit kommt von dir zu mir.) auf Hawaiianisch schüttelte nicht so schnell jemand aus dem Ärmel.

„Muhi“, der mit vollem Namen Muhamed Mesic heißt, hat in den 25 Jahren seines Lebens einiges erledigt: 56 Sprachen gelernt, zwölf davon fließend, Japanologie und Judaistik studiert, seinen Doktor jur. fast in der Tasche. Für eingefleischte FM4-Hörer ist das nichts Neues. Doch vermutlich wissen die wenigsten, dass es für ihr Sprachengenie in Österreich keine Arbeit gibt. Personalchefs, die seinen Lebenslauf in die Finger bekommen, sind regelmäßig fassungslos und begeistert – bis die Sprache auf seinen bosnischen Reisepass kommt.

Muhamed Mesic kam 2002 mit einem Studentenvisum nach Österreich. Inzwischen fühlt er sich hier mehr als irgendwo sonst auf der Welt zuhause: „Ich würde gerne mein Herr-Doktor-Schild auf die Tür meiner Wiener Wohnung schrauben.“ Das Fremdenrecht könnte ihm einen Strich durch seine Zukunft machen. Als Nicht-EU-Bürger darf er nach dem Studium nur als Schlüsselkraft arbeiten. Bislang hat der 25-jährige Bosnier kein Unternehmen gefunden, das ihm zum Einstieg die dafür vorgeschriebenen 2500 Euro Monatsgehalt zahlt.

Die Wirtschaft will die Zuwanderung steuern und verlangt nach Fachkräften aus dem Ausland. Doch das Gros der Migration besteht aus Familiennachzug, Wanderungen innerhalb Europas sowie den in Österreich geborenen Ausländern und lässt sich weder steuern noch verhindern. Schlüsselkräfte tragen zur gesamten Zuwanderung nur einen kleinen Teil bei. Ihnen will die Regierung mit einer „Rot-Weiß-Rot-Card“ den Weg ebnen. Gewohnt feinfühlig formulierte Innenministerin Maria Fekter, was politisch unerwünscht sei: „unqualifizierte Analphabeten aus irgendwelchen Bergdörfern“ und „Zuwanderung in die Armut oder in die soziale Hängematte“.

Viele talentierte und gut ausgebildete Fachleute sind längst im Land und werden täglich daran gehindert, sich zu entfalten. 16.000 Menschen wurden in den vergangenen vier Jahren als Flüchtlinge anerkannt, darunter Rechtsanwälte, Chirurgen, Architektinnen, Anlagenbauer, Lehrer, die mit Diplomen und akademischen Abschlüssen aufwarten können. Die meisten von ihnen arbeiten weit unter ihrem Ausbildungsniveau.

So wie Idi Issa.
Der 46-Jährige hatte im Kongo Mathematik und Physik an Gymnasien unterrichtet. Im zweiten Kongokrieg zwang ihn eine Rebellenarmee, die Waffe in die Hand zu nehmen. Nachdem sein Bruder vor seinen Augen erschossen worden war, flüchtete er nach Österreich. Seine Familie kam erst zwei Jahre später mithilfe der UN nach. Vier Jahre lang musste Issa um Asyl kämpfen. Danach suchte er Arbeit. Er klopfte bei allen internationalen Schulen an – und blitzte überall ab. Issa machte eine Ausbildung zum Projektmanager. Doch der einzige Job, den er bekommen konnte, war Lagerarbeiter in einem Baumarkt. Jetzt, mit 46, ist sein Rücken lädiert, und er sucht wieder Arbeit, „einfach nur eine leichtere“. Der Traum, in Österreich gemäß seinen Fähigkeiten arbeiten zu können, ist längst geplatzt.

Wieder bei null.
In Österreichs Asylheimen versauern qualifizierte Fachkräfte, die in der Industrie dringend gebraucht würden. Mohsen Ebrahmini Meymand wird bald 30. Bevor er zum Christentum übertrat und nach Österreich floh, baute der Iraner in seiner Heimat Kraftwerksturbinen für Siemens. Nun sitzt er im niederösterreichischen Grimmenstein und hofft auf einen guten Ausgang seines Asylverfahrens. Meymand lernt Deutsch, hält sich über das Internet auf dem Laufenden. Doch seine Hightech-Kenntnisse werden mit den Monaten, die in der abgelegenen Flüchtlingspension verstreichen, nicht besser.

Im Verschludern von Talenten ist Österreich Spitzenklasse. Laut OECD sind 21 Prozent der qualifizierten Ausländer in minderwertigen Jobs tätig. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es 12,5 Prozent.

Vergangene Woche in einem Seminarraum im Integrationshaus in Wien. 16 Männer und Frauen bereiten sich hier auf einen Job im Sozialbereich vor. Bis auf einen Tierarzt-Assistenten aus Mazedonien, der acht Sprachen spricht, haben alle ein fertiges Studium. In Österreich halten sie sich als Putzfrauen, Supermarkt-Verkäuferinnen, Staplerfahrer und Laborhilfen über Wasser. Jeder hat zermürbende Versuche hinter sich, ein Doktorat anerkennen zu lassen. „Ich stehe bei null“, klagt die Ukrainerin Ruslana Holzschuh. In ihrer Heimat lehrte sie Russisch. „Hier lässt man mich nicht einmal an einer Volksschule unterrichten.“

Al Hamed Younes absolvierte das Studium Lebensmittel- und Biotechnologie im Irak. In Österreich wollte er an der Universität für Bodenkultur weitermachen. Doch bis auf zwei Fächer war alles nichtig, was er studiert hatte. Wie ein Bittsteller pilgerte er von einem Professor zum anderen, legte Zeugnisse und Lehrpläne vor. Ein Chemieprofessor zog die Augenbrauen hoch: „Sie haben nur 24 Stunden Labor gemacht, hier haben wir 25.“ Dann drückte er einen „Nein“-Stempel auf das Papier und wies ihm die Tür. Younes’ Frau ging nach Deutschland. Ihr war am AMS eine Stelle als Reinigungsfrau angeboten worden. Sie lehrt nun Psychiatrie an einer Universität.

Abgekanzelt.
„Nicht nur wir verlieren viel, sondern auch Österreich“, konstatiert die Regisseurin Al Wazzan Howida bitter. Im Irak hatte sie ihre eigene Werbeagentur und produzierte Dokumentarfilme: „Ich bin geboren, um zu arbeiten.“ Warum solle sie ihre Talente verstecken? Ihre Kurskollegin Amah Rachael Itah, Sprachwissenschafterin aus Kamerun, erzählt von befreundeten Ärzten, Rechtsanwälten, Wissenschaftern, die nach Großbritannien oder Kanada weiterzogen. „Oft haben sie mich gefragt, was ich hier noch mache.“ Sie und ihre beiden Töchter leben gern in Österreich, doch an den Tagen, an denen sie am AMS abgekanzelt worden war, wäre sie ihren Freunden am liebsten nachgezogen.

Norbert Bichl vom Beratungszentrum für Migrantinnen und Migranten in Wien versteht, dass AMS-Berater mit ausländischen Diplomen wenig anfangen können, „aber unser ganzes System ist darauf ausgerichtet, Menschen auszuschließen und scheitern zu lassen“. Das sei, aus rein ökonomischer Sicht, „einfach nur dumm“. Niemand weiß, wie viele gut ausgebildete Zuwanderer am AMS als Hilfskräfte geführt werden, weil ihre Diplome nicht nostrifiziert wurden. „Wir müssen auf das schauen, was die Menschen können und Angebote schaffen für Qualifikationen, die wirklich fehlen“, fordert Migrationsforscher Bernhard Perchinig. Stattdessen einigte sich die Regierung auf zusätzliche Hürden: Künftig müssen Zuwanderer vor ihrer Einreise Deutschkenntnisse nachweisen. Ein verkehrtes Signal, findet Perchinig: „Österreich ist mit dem Anwerben von Spitzenleuten ohnedies spät dran und hat inzwischen das Image eines geschlossenen Landes.“

In Kreisen der Wirtschaft formiert sich mittlerweile Widerstand. 2009 wanderten rund 107.000 Menschen nach Österreich zu, sie kommen zu einem Großteil aus Deutschland und der restlichen EU, der Rest aus Drittstaaten. Gleichzeitig verließen jedoch 87.000 das Land. „Wir müssen allmählich schauen, dass wir nicht die besten Köpfe verlieren“, mahnt Thomas Oliva, Ex-Geschäftsführer der Industriellenvereinigung und Vorsitzender der Wiener Zuwanderungskommission. Die Besten der Besten ziehen dorthin, wo das Leben angenehm ist, ihre Lebenspartner gute Jobs finden, ihre Kinder internationale Schulen besuchen können. „Wir stehen im internationalen Wettbewerb und bieten zu wenig Anreize, nach Österreich zu kommen“, konstatiert auch Peter Koren, Vizegeneralsekretär der Industriellenvereinigung. Im Boomjahr 2007 mussten heimische Wirtschaftslenker machtlos zusehen, wie eine Welle von 40.000 slowakischen Facharbeitern an ihnen vorbei nach Irland zog.

Nicht gerade förderlich ist da eine angstbesetzte und fremdenpolizeilich geführte Debatte. Das muss auch Koren einräumen: „Die Industrie hat das größte Interesse an einem weltoffenen Klima.“ Doch davon ist wenig zu spüren: Akademiker mit ausländischen Namen berichten durchgängig, sie würden bei schriftlichen Bewerbungen sofort aussortiert, fast nie komme es zu einem persönlichen Gespräch. Heimische Universitäten klagen über Fremdengesetze, die Spitzenkräfte aus Drittstaaten abhalten. Erst kürzlich musste Friedrich Roithmayr, Vizerektor der Johannes Kepler Universität in Linz, einem Solarenergie-Experten aus Indien absagen. Die Uni hätte für den Mann sechs Monate über das Forschungsprojekt hinaus haften müssen.

Noch weniger versteht Roithmayr, dass Studenten aus Drittländern um viel Geld ausgebildet werden, nur um sie anschließend daran zu hindern, ihr Wissen anzuwenden. Die Mazedonierin Leyla ist dafür ein klassisches Beispiel. Die ausgebildete Zahnärztin spricht Russisch, Türkisch und Serbokroatisch, drei Zuwanderersprachen, die in jedem Spital gebraucht werden. Jetzt hängt sie in der fremdenrechtlichen Warteschleife. Nicht nur die Wiener Grüne Maria Vassilakou fordert inzwischen, Menschen wie Leyla eine Arbeitserlaubnis zu geben. Geht es nach ihr, sollten auch gleich jene 11.000 Babys, die jedes Jahr als Ausländer in Österreich geboren werden, eingebürgert werden: „Sie bleiben sonst Bürger zweiter Klasse und finden vielleicht nicht einmal einen Lehrplatz.“

„Das Fremdenrecht regiert überall hinein und desavouiert Österreich“, wettert der Wiener Rechtsanwalt Herbert Pochieser. In seiner Kanzlei häufen sich Fälle von Asylwerbern, die – enerviert von der heimischen Bürokratie – nach Amerika weiterziehen. Einer seiner Mandanten, ein Iraner, saß jahrelang im Flüchtlingslager in Traiskirchen fest, bevor er dem Ruf an eine US-Eliteuni folgte. Er wurde ein berühmter Medizinprofessor und Inhaber eines Herzklappenpatents.

Träumen lassen.
Olivia und Jean Marie Biziyaremye können den Ruf nach ausländischen Fachkräften nicht mehr hören. Die Frau hatte in Ruanda Medizin studiert. Er studierte an der TU Graz Architektur, finanziert mit Geldern aus der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Der Bürgerkrieg in Ruanda riss das Paar aus ihren Zukunftsplänen. Jean Marie Biziyaremye blieb in Österreich, seine Frau kam nach. Doch er bekam nie eine Chance, als Architekt zu arbeiten. In seiner Not bewarb er sich als Bautechniker, CAD-Zeichner, schließlich als Arbeiter am Bau. Überall wurde er abgewimmelt: „Überqualifiziert.“ Eines Tages packte Jean Marie Biziyaremye seine Koffer und übersiedelte nach London. Innerhalb von zwei Monaten fand er dort einen gut bezahlten Job in einem Architekturbüro.

Er wäre dort geblieben, hätte seine Frau es nicht mühsam geschafft, ihr Studium anerkennen zu lassen. Sie machte in Wien gerade den Turnus. Danach ging auch sie auf Stellensuche. Als sie in einem Wiener Spital nach der ärztlichen Direktion fragte, wies die Dame am Schalter ihr den Weg: „Für Putzen musst du dort.“

Auch Olivia und Jean Marie Biziyaremye denken manchmal daran, das Land zu verlassen: „Es ist zynisch, wenn Politiker Ausländern vorwerfen, das System auszunützen. Wir wollen nichts als arbeiten und etwas beitragen.“ Ihre österreichischen Freunde sind Doktoren und Diplomingenieure wie sie, doch sie sind beruflich erfolgreich. Jean Marie Biziyaremye hingegen ist seither zum Nichtstun verurteilt, seine Frau Olivia arbeitet in einem Labor und sucht weiter nach einer Stelle als Spitalsärztin. „Ich habe Angst, dass unsere Kinder einmal fragen: Wozu lernen? Das bringt ja nichts.“ Die beste Werbung für die von der Regierung geplante Rot-Weiß-Rot-Card für hochqualifizierte Zuwanderer wäre nach Ansicht ihres arbeitslosen Vaters, „Ausländern hier eine Chance zu geben und ihre Kinder träumen zu lassen, dass es in Österreich möglich ist, etwas aus sich zu machen“.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

war von 1998 bis 2024 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges.