Gewichtspflege

Gewichtspflege: Ein Glossar zu Ulrich Seidls „Paradies"-Trilogie

Kino. Ein Glossar zu Ulrich Seidls „Paradies"-Trilogie

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Alkohol. Kein Seidl-Film ohne Ethanol-Abusus: In „Paradies: Hoffnung“ greifen zwei minderjährige Diätcamp-Insassinnen, ehe sie für einen nächtlichen Landdisco-Trip heimlich aus dem Fenster steigen, zum bewährten Jägermeister-Doping. Eine sturzbetrunkene junge Russin befingert in „Paradies: Glaube“ die sich aufdrängende katholische Missionarin, die es da wagt, den guten Wodka in den Ausguss zu leeren. Und auch die Wiener Sextouristinnen, die in „Paradies: Liebe“ den kenianischen Beachboys in die Falle gehen, saufen sich schon tagsüber an der Hotelbar in Laune. Die hochprozentige Enthemmung hat bei Ulrich Seidl fast immer auch mit  Sex zu tun.

Bildkomposition. Gegen das Rauschhafte seiner Erzählungen setzt Seidl eine radikal kontrollierte visuelle Umsetzung. Seine oft streng symmetrisch gebauten, streng verdichteten Einstellungen bringen beunruhigende Weltbilder auf den Punkt.

Casting. Seidls Filme könnten ihre Wirkung ohne die sorgsame Besetzung nicht entwickeln. Das von den Stars bis in die Statisterie exakt passende Ensemble findet der Regisseur seit je gemeinsam mit seiner Casterin Eva Roth – in zermürbenden, oft monatelangen Auswahlprozessen.

Depression. Wird der Arbeit Seidls gern unterstellt, trifft aber, bei aller  Einsamkeit seiner Figuren, selten zu. Das Leben ist kein Kindergeburtstag, aber als mutmaßliche Botschafter des nackten Infernos machen Seidls Filme eindeutig zu viel Spaß. Siehe auch:  Posse.

Einsamkeit. Seidls General­thema.

Fett. Das Übergewicht als Symptom einer dekadenten Gesellschaft thematisiert Ulrich Seidl in den „Paradies“-Teilen eins und drei: Er zeigt Menschen, deren Körper gängigen Schönheitsnormen nicht entsprechen, und ihre Ausweichbewegungen (in die Dritte Welt, ins Diätlager). Auf seine Außenseiterinnen blickt er durchaus liebevoll: Hässlich ist in Seidls Filmen niemand.

Geld. Nur der erste Teil der „Paradies“-Serie dreht sich um Ökonomisches: Liebe ist käuflich. Glaube und  Hoffnung sind mit Geld nicht zu haben.

Hoffnung. Als der „Paradies“-Abschlussteil vor wenigen Wochen im Rahmen der Berlinale uraufgeführt wurde, erschien die Teenager-Geschichte vor allem der deutschen Presse zu wenig gewichtig, zu milde. Dabei bietet der Film (für Seidl) Überraschendes: nicht nur sanft optimistische Tonfälle, sondern auch eine – nach den härteren Bestandsaufnahmen der Folgen von gekauftem Sex und religiösem Wahn – ungeahnte Zärtlichkeit.

Improvisation. Kein Dialog ist bei Seidl vorab fixiert. Seine Mimen wählen ihre je eigenen Worte, reagieren auf Unerwartetes zwangsläufig instinktiv.

Jargon. So sehr Seidl als Bilderstürmer gilt, so präzise lotet er sprachliche Eigenheiten aus: „Paradies: Hoffnung“ ist auch als Dokument aktueller Teenager-Sprechweisen zu verstehen.

Kreisbewegungen. In den latent klaustrophobischen Inszenierungen Seidls drehen die Menschen ihre Runden (im und vor dem umzäunten Luxusresort in Mombasa; durch die Zimmer eines Einfamilienhauses, an den Rollstuhl gefesselt; am Gelände und in den kahlen Korridoren des Diätcamps), kommen immer wieder an denselben Punkten an: eingesperrte Menschentiere.

Laien. Es ist ohne Hintergrundwissen kaum möglich, in Seidls Filmen die Amateure von den Profidarstellern zu unterscheiden. Siehe auch  Casting.

Muttergottes. Wandert von Tür zu Tür, getragen von einer katholischen Fundamentalistin. Aber nicht nur „Paradies: Glaube“ zeugt davon: Ulrich Seidl schätzt die Intimität seiner Bet- ebenso sehr wie jene seiner Bettszenen.

Nirgendwo. Die Anonymität der Schauplätze Seidls sind Ausdruck jener allgemeinen Gültigkeit, die der Regisseur seinen Filmen zuschreibt. Das „Paradies“ ist ein Un-Ort.

Obszönität. Die Irritation, die aus der sachlichen Darstellung des „Geschmacklosen“, des „Unschicklichen“ erwächst, nützt Seidl für sich.  Tabus lässt er nicht gelten. Über die Stränge schlägt er dabei gern.

Posse. Die Groteske liegt dem Seidl-Kino stets nahe. Und seine Heldinnen entwickeln ihren eigenen Witz: „Paradies: Hoffnung“ ist Camp-Kino in jedem Sinn des Wortes.

Quote. Wird bei Seidl nicht erfüllt. Politische Korrektheit lehnt er ab, mehrheitsfähig muss er nicht sein.

Realismus. „Authentizität“ gehört zu Seidls Lieblingsbegriffen. An eine Form der „Wahrheit“, die sich auch aus Stilisierung und Kinokünstlichkeit ergibt, glaubt er fest.

Sex. Die „Paradies“-Trilogie bewegt sich in Sachen Sex von der Praxis zurück zur Theorie: von den ungenierten Sugarmamas über den am Sexentzug leidenden Muslim bis zu den Halbwüchsigen, die dem Thema im dritten Teil nur ausufernde Gespräche widmen können. Konkret oder abstrakt: Die Libido motorisiert Seidls Kino.

Tabu. Behindertenspaß und Gruppensex, Frauenhass und Blasphemie, Pädophilie und Rassismus: Seidl ist kein Eisen zu heiß. Er ziehe den Aufruhr der Stille eben vor, erklärt er lakonisch.

Urlaub. Der „Paradies“-Dreiteiler spielt, wie schon „Hundstage“, im Sommer. Wo der Arbeitsalltag Pause macht, gähnt der Abgrund umso herzhafter.

Voyeurismus. Zur Schaulust bekennt sich Ulrich Seidl rund­her­aus. Sie ist die Grundlage seines Mediums. Das Kino lässt, nicht nur bei Seidl, tief blicken.

Weiblichkeit. Der Regie-Blick auf die drei Frauengeschichten in „Paradies“ ist strikt männlich, das Drehbuch allerdings entschieden weiblich mitbestimmt: Veronika Franz sorgt seit anderthalb Jahrzehnten als Seidls Koautorin für die nötige feministische Färbung.

Xenophobie. Der Fremdenhass gehört seit „Good News“ (1990) zu den zentralen Forschungsgebieten Seidls: Mit den „Paradies“-Themen Sextourismus und Religionskonflikt setzte er seine Studien fort.
Yucca. Klassische Zimmerzierde. Die eingetopfte Palmlilie ist in Seidls Kleinbürgerdomizilen allgegenwärtig.

Zynismus. Wird Seidl gern unterstellt. Dabei ist Häme nicht das Movens dieses Filmemachers. Der Begriff ist besser zu ersetzen durch ein anderes Z-Wort: den Zorn.

Die Österreich-Premiere von „Paradies: Hoffnung“ wird am Dienstag zur Eröffnung des Austro-Filmfestivals Diagonale in der Grazer List-Halle stattfinden. Ab 15. März läuft der Film regulär in hiesigen Kinos.

Am Sonntag, 17.3., ab 14 Uhr wird (in Kooperation mit profil) im Gartenbaukino die komplette Trilogie erstmals in Wien zu sehen sein – in Anwesenheit des Regisseurs und seiner Hauptdarstellerinnen.

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Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.