Grasser: „Eine Schlacht verloren, nicht den Krieg“
profil: Sie waren so etwas wie der Wortführer jener EU-Länder, die verlangt haben, dass die EU dem Wortlaut des Stabilitätspakts gemäß handelt. Jene, die diese Position verfechten, operieren als Begründung mit dem Begriff „Glaubwürdigkeit“: Wenn sich die Euro-Zone nicht strikt an ihre selbst verfassten Regeln hält, lautet das Argument, wäre die Glaubwürdigkeit dahin, das Vertrauen in den Euro schwände, damit auch Interesse und Nachfrage nach Euro, sein Kurs würde schließlich sinken. Seit Dienstag Früh ist bekannt, dass Deutschland und Frankreich dem Stabilitätspakt zuwiderhandeln können, ohne dass Sanktionen verhängt werden. Der Kurs des Euro hat aber so gut wie überhaupt nicht reagiert. Wie das?
Grasser: Devisenmärkte reagieren kurzfristig nur dann, wenn etwas Unvorhersehbares passiert. Also wenn zum Beispiel der US-Präsident völlig überraschend und unerwartet eine wichtige politische Ankündigung macht. Oder wenn ein Terroranschlag wie der 11. September passiert. Wenn man es hingegen mit einer Entwicklung zu tun hat, die ziemlich absehbar auf ein bestimmtes Ergebnis zusteuert, dann wird das Ereignis von den Finanzmärkten schon vor dessen Eintreffen „eingepreist“. Mit anderen Worten: Bei der Entwicklung, welche die Devisenkurse über die vergangenen Wochen hinweg genommen haben, haben die Akteure auf den Finanzmärkten bereits damit gerechnet, dass sich Deutschland und Frankreich über den Pakt hinwegsetzen könnten. Insofern war auch keine kurzfristige Reaktion des Eurokurses zu erwarten.
profil: Gesetzt den Fall, es wurde „eingepreist“: Wäre dann nicht die Tendenz, die der Eurokurs in den letzten Wochen gezeigt hat, umso erstaunlicher? Der Kurs ist ja sogar etwas gestiegen. Wäre das Vertrauen der Anleger in den Euro angesichts des zerbröselnden Stabilitätspakts tatsächlich geschwunden, hätte der Kurs wohl schrittweise nachgegeben.
Grasser: Derzeit sind es vor allem die langfristigen Aspekte, die die Kursbildung auf den Devisenmärkten bestimmen. Allen voran die gewaltigen Ungleichgewichte im US-Bundeshaushalt und in der US-Leistungsbilanz, die nun offenbar zunehmend ernst genommen werden. Das legt einen niedrigen Dollarkurs nahe. Im Vergleich dazu muss man sich anschauen, was Europa für Investoren an interessanten Aspekten zu bieten hätte: In den vergangenen paar Jahren hat in den meisten EU-Ländern ein gewaltiger Strukturwandel eingesetzt, den man zuvor jahrelang aufgeschoben hat. Geht Europa diesen Weg zügig weiter, verbessern sich die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum um einiges. Dazu kommt, dass der EU-Raum außenwirtschaftlich kein Defizit aufweist und dass die Budgets der EU-Staaten von amerikanischen Defizit-Größenordnungen weit entfernt sind. Das alles spricht für eine Veranlagung in Euro statt in Dollar. Es sind also diese langfristigen Aspekte, die derzeit die Devisenkurse wesentlich bestimmen, und insofern haben die jüngsten Brüsseler Beschlüsse nichts an der Stärke des Euro geändert.
profil: Andererseits hat Amerika derzeit kurzfristig bessere Wachstumsaussichten und auch ein höheres Wachstumspotenzial als das derzeitige EU-Europa.
Grasser: Ich glaube, dass Europa bessere Chancen auf ein stabileres Wachstum hat als die USA – eben vorausgesetzt, die EU-Länder machen ihre noch fehlenden strukturpolitischen Hausaufgaben. Genau in diesem Licht sehe ich das Einhalten des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Entscheidend ist, die Attraktivität des Standorts Europa für Investoren zu erhöhen. Denn das Geld der internationalen Finanzmärkte fließt dorthin, wo es die besseren Standortfaktoren vorfindet. Ein wichtiger Standortfaktor ist Vertrauen. Dazu gehört, dass man die Spielregeln, die man sich gegeben hat, auch konsequent einhält. Tut man das nicht – siehe Deutschland und Frankreich –, dann leidet das Vertrauen, und das ist der Faktor, der dann die Bedeutung des Euro unterhöhlt.
profil: Die Erfahrung gerade der letzten Jahre hat aber gezeigt, dass kurzfristige Faktoren auf den Finanzmärkten mindestens genauso wichtig sind wie die langfristigen so genannten fundamentalen Faktoren: Die US-Defizite existieren seit Jahren, und trotzdem war der Dollar so lange stark und der Euro schwach.
Grasser: Seither hat sich doch Wesentliches geändert. Zum Beispiel ist es Faktum, dass Washington jetzt Interesse an einem niedrigen Dollarkurs hat, um im Wahljahr dem Wirtschaftswachstum auch von der Exportseite her möglichst starke Impulse zu geben. Die US-Regierung kennt durchaus Mittel und Wege, um auf die Kursbildung des Dollar an den Devisenmärkten einzuwirken. Natürlich ist diese Politik Washingtons nicht die einzig kursentscheidende Einflussgröße, aber sicher ein die Stärke der Währung mit beeinflussender Faktor.
profil: Für Sie ist Glaubwürdigkeit also das entscheidende Argument. Nun sagen Sie aber selbst, dass die Finanzmärkte auf das Zerbröseln des Pakts gar nicht reagieren, sondern dass derzeit dort die Entscheidungen aus anderen Motiven fallen. Daraus wäre zu schließen, dass die europäische Wirtschaftspolitik andere Prioritäten als die Einhaltung des Pakts setzen kann, ohne Angst haben zu müssen, dadurch den Euro aus den Angeln zu heben.
Grasser: Keineswegs. Da verkürzen Sie meine Argumentation. So wie Finanzminister den globalen Preis des Goldes nicht bestimmen, so bestimmen sie auch nicht den Wechselkurs zwischen Euro und Dollar. Worum es geht, ist der langfristige Aspekt, die Frage der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens.
profil: Es heißt, Sie schärfen Ihr Profil im Kampf um die Gleichbehandlung von kleinen und großen EU-Staaten.
Grasser: Natürlich liegt mir an einer solchen Gleichbehandlung. Glauben Sie, dass es einer Gemeinschaft zuträglich ist, wenn man offen demonstriert, dass sich die Kleinen an Regeln zu halten haben, die Großen diese Regeln aber nach Belieben brechen können?
profil: Würde man jetzt in den großen EU-Ländern mit gewaltigem Druck aus Brüssel zusätzliche Ausgabenkürzungen erzwingen, dann würde dies, wie viele Ökonomen argumentieren, eine weitere Schwächung der Nachfrage bedeuten und das zarte Pflänzchen der Konjunkturerholung abwürgen. Und zwar auch in jenen Ländern, die mit diesen großen EU-Ländern außenwirtschaftlich stark verflochten sind – also auch Österreich.
Grasser: Ich wäre froh, würden Ökonomen wie Politiker endlich von der Illusion Abschied nehmen, dass man fehlende Markt-Nachfrage durch öffentliche Nachfrage ausgleichen kann.
profil: Sie glauben überhaupt nicht an die kurzfristige Nachfragewirksamkeit zusätzlicher Staatsausgaben? Auch nicht auf europäischer Ebene, und auch nicht, wenn das Geld in echte Zukunftsprojekte – etwa solche der Infrastruktur – fließt?
Grasser: Ich glaube, dass ein anderer Faktor schwerer wiegt: Wenn etwa Deutschland sein Defizit ausufern lässt, steigen die Zinsen nicht nur für die deutsche Staatsschuld, sondern im gesamten Euro-Raum und auch in Österreich. Der kleine und kurzfristige positive Effekt, den ein Deficit Spending bringt, ist die großen, mittelfristigen Probleme, die folgen, nicht wert. Außerdem ist gerade Österreich ein schönes Beispiel dafür, wie man trotz schwacher Konjunktur ein zweimaliges Nulldefizit und gleichzeitig eine wirtschaftliche Wachstumsrate über dem EU-Durchschnitt erzielen kann – und das ganz ohne Deficit Spending.
profil: Zumindest was das zweimalige Nulldefizit betrifft, waren da wohl auch andere Faktoren im Spiel. Aber um zu den Zahlen zu kommen, an denen sich Maastricht-Vertrag und Stabilitätspakt festklammern: Hier handelt es sich doch nicht um ökonomisch sinnhafte Werte. So dürfen etwa die Defizite drei Prozent des BIP nicht übersteigen. Diese drei Prozent sind völlig willkürlich gewählt.
Grasser: Das leugne ich nicht. Aber man hat sich auf die drei Prozent in einer Zeit festgelegt, als die Inflation in Europa höher war als jetzt. Würde man heute diesen Grenzwert festlegen, würde statt der drei Prozent wahrscheinlich eineinhalb oder zwei Prozent im Vertrag stehen. Die drei Prozent Defizit sind die Spielregeln eines Vertrages, der mit allen Bürgern der EU abgeschlossen wurde. Die Spielregeln sind nicht das Problem – sie helfen vielmehr, Probleme zu meistern. Aber es darf nicht sein, dass alle gleich sind, aber manche doch gleicher.
profil: Wichtig ist also nicht, dass die Spielregeln ökonomisch Sinn machen, sondern wichtig ist Vertragstreue um der Vertragstreue willen.
Grasser: Wenn Ökonomen, auch österreichische Ökonomen, sagen, man müsse bei der Interpretation des Stabilitätspakts im Sinne der Konjunktur einfach flexibler sein, dann kann ich das so nicht nachvollziehen. Deutschland und Frankreich haben es in den letzten Jahren auch nicht geschafft, ihr strukturelles Budgetdefizit – das ist das um konjunkturelle Faktoren bereinigte – zu verringern, geschweige denn jedes Jahr um einen halben Prozentpunkt zurückzufahren, wie sich die EU-Kommission das wünscht. In beiden Ländern ist das strukturelle Defizit vielmehr in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. De facto könnte die Auswirkung einer „flexiblen Interpretation“ des Pakts nur allzu leicht die sein, dass das Druckmittel dafür, dass man seine Hausaufgaben macht, wegfällt. Und wo zieht man bei „flexibler Interpretation“ dann die Grenze?
profil: Man könnte, um die EU-Länder vehementer zu den notwendigen strukturellen Änderungen zu veranlassen, den Stabilitätspakt zum Beispiel dahingehend umformulieren, dass man ebendiese konjunkturellen Komponenten herausrechnet und die Betrachtung künftig auf geänderte Salden fokussiert. Plädieren Sie für eine Änderung des Stabilitätspakts?
Grasser: Ich bin der Auffassung, der Stabilitätspakt sollte bleiben, wie er ist. Die Länder, die gegen ihn verstoßen, haben jetzt eine Frist eingeräumt bekommen, binnen derer sie bestimmte Maßnahmen durchführen sollen – widrigenfalls kann die EU das Verfahren gemäß Stabilitäts- und Wachstumspakt inklusive der Möglichkeit von Sanktionen gegen sie wieder aufnehmen. Ich vertraue darauf, dass die Länder diese ihre Chance nützen.
profil: Reihum geht man aber mittlerweile davon aus, dass bald eine große Debatte über das Modifizieren des Pakts einsetzen wird.
Grasser: Ich seh das anders. Ich hielte es für falsch, den Pakt in der jetzigen Form über Bord zu werfen. Zugegeben – wir haben um den Stabilitätspakt eine Schlacht verloren. Aber nicht den Krieg.