Handwerk: Zurück in die Zukunft
Wenn Lajos Bálint Füße vermisst, ist er ganz in seinem Element. Ob Geschäftsleute, Ärzte oder Anwälte - jeder Kunde muss knapp eine Stunde Zeit opfern, wenn er seine Füße vom Schuhmachermeister im ersten Wiener Gemeindebezirk an mehr als 70 Stellen vermessen lassen will. Keine Fehlstellung, keine mögliche Druckstelle entgeht Bálints geschultem Auge. Auf einem großen Bogen Papier hält er penibel jedes Detail fest.
Jenes Lasergerät, das er dabei zum Vermessen einsetzt, sei zwar "kein Ersatz für langjährige Erfahrung und das richtige Fingerspitzengefühl". Dennoch ist Bálint stolz darauf, der Schuhmacher mit der modernsten Produktionsweise im gesamten deutschsprachigen Raum zu sein. "Mein Mann war schon immer ein Computerfreak ", berichtet Gattin Katharina Bálint. Bereits Ende der achtziger Jahre interessierte sich der Schuster, der in Siebenbürgen geboren wurde, für Spezialsoftware zur Maßschuhproduktion und verband traditionelles Handwerk mit moderner Technologie: Seit 1992 entwirft und bearbeitet Bálint seine Leisten mittels modernster Computer.
Ist der Fuß einmal vermessen, lässt Bálint aus den Daten ein dreidimensionales Modell anfertigen. Über eine ISDN-Leitung gelangt der Entwurf anschließend nach Deutschland, wo an einer speziellen Maschine die Leisten gefräst werden. Zurück in Wien, werden sie von Bálint händisch nachbearbeitet, in seiner Werkstatt in Rumänien werden Leder und Einlagen produziert, und nach gut zwei Monaten ist der Schuh fertig. Qualität brauche eben Zeit, lautet Bálints Kredo: "Jeder Schuhmacher, der einen Schuh in weniger als drei Wochen fertig stellt, ist unseriös." Rund 1000 Euro kostet ein Paar Schuhe aus Bálints Werkstatt, dafür erhalte der Kunde "eine in Massenfertigung nicht erzielbare individuelle Passform".
Innovation mit Tradition. Dem klassischen Rollenbild des Handwerkers entspricht Bálint nicht gerade. "Ein Handwerker ist jemand, der die Grundanforderungen erfüllt, aber keine neuen Horizonte zu eröffnen vermag", beschreibt Thomas Huber, Trendforscher am Hamburger Zukunftsinstitut und Autor einer soeben erschienenen Studie zum Thema "Zukunft des Handwerks", das gängige Klischee.1) Derauf anspruchsvolle manuelle Arbeit spezialisierte Mensch, so Huber, sei nach verbreiteter Auffassung "jemand, der in der hyperkomplexen Wirtschaftswelt des 21. Jahrhunderts nur noch mühsam einzuordnen ist und mit Sicherheit nicht dem Ideal der Wissensgesellschaft entspricht". Einst war sogar festgeschrieben, wie verwerflich das Abweichen von den traditionellen Pfaden des Berufs angeblich sei: "Kein Handwerksmann soll etwas Neues erdenken, erfinden oder gebrauchen", heißt es in einer Zunfturkunde aus dem Jahr 1523.
Margarete Czerny, Expertin für kleinund mittelständische Wirtschaft am Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo), glaubt hingegen, dass in Ansätzen wie jenem, den Bálint verfolgt, die wahren Chancen für Österreichs derzeit rund 61.800 Handwerksbetriebe liegen - in der Kombination von tradierter handwerklicher Expertise und kluger Innovation, vielfach verknüpft mit moderner Technik. "Es eröffnet sich ein zukunftsträchtiger Markt, wenn es gelingt, das traditionelle Handwerk mit neuer Technologie zu verbinden", sagt Czerny. "Mit den ganz traditionellen Modellen allein kann man nicht mehr lange mithalten."
Dieser Überzeugung folgte auch Martin Morocutti, als er Mitte der neunziger Jahre als damals 23-Jähriger eine alteingesessene Wiener Messerschmiede übernahm - eine Form des Selbstständigmachens, die zurzeit auch von Interessenvertretern forciert wird, weil mangels geregelter Nachfolge immer mehr Klein- und Kleinstbetriebe vom Markt verschwinden.
Globale Messerschmiede. Morocuttis Entscheidung, den im Jahr 1928 vom Großvater gegründeten Handwerksbetrieb zu übernehmen, erschien alles andere als zeitgemäß - wer sollte zum Messerschmied gehen, wenn jeder Supermarkt Billigstmesser im Sortiment hat? Doch Morocutti fand eine Lösung: Vor sechs Jahren richtete er eine Homepage ein und gründete die knifeshop.com Handels GmbH. "Am Anfang waren mein Vater und mein Bruder nicht sehr begeistert", erinnert sich Morocutti. "Sie meinten, ich solle mich mehr um das Kerngeschäft kümmern, statt mit dem Internet zu experimentieren."
Doch Morocuttis Rechnung ging auf: Dank Internet global präsent, war der Betrieb nun nicht mehr auf Laufkundschaft angewiesen, die eine stumpfe Schere oder ein altes Küchenmesser schleifen lassen wollte. Stattdessen können heute Kunden aus aller Welt, die hochwertige Produkte vom Messerschmied schätzen, aus einem reichhaltigen Angebot wählen - unterteilt in Kategorien wie Haushalt, Taschenmesser, Schnitzwerkzeuge, Sportmesser oder Antike Waffen. Zudem gibt es auf der Homepage Funktionen wie "Gestalten Sie Ihr Messer". Vor allem von Kunden aus den USA, berichtet Morocutti, würde die Qualitätsware stark nachgefragt. Inzwischen erbringt der Internetverkauf mit einer halben Million Euro Umsatz das Fünffache des herkömmlichen Geschäfts.
Auch Margit Pedretscher, Friseurmeisterin aus Graz, wählte einen für ihre Branche eher unkonventionellen Ansatz. Die 40-Jährige tingelt seit sieben Jahren mit einem seltsamen, dreißig Kilogramm schweren Gefährt durch Graz und Umgebung. Wenn sie zu Kunden ins Haus kommt, bringt Pedretscher derart gleich den ganzen Frisiersalon mit. "Die Leute wollen Zeit sparen, aber auf den Komfort eines Frisiersalons nicht verzichten", erläutert Pedretscher die Idee hinter ihrem Geschäftsmodell.
"Margit's fahrender Frisiersalon" ist ein inzwischen patentiertes System, das sie gemeinsam mit ihrem Bruder, von Beruf Techniker, entwickelt und gebaut hat. Das kompakte Konstrukt lässt sich auseinander klappen und präsentiert sich dann als Arrangement von Tisch, Spiegel, Lampe und Waschbecken. Auch Gegenstände wie Fön, Bürsten, Kämme, Scheren und Handtücher sind in dem Spezialgerät auf engstem Raum verstaut - und sogar eine aufblasbare Trockenhaube. Einfach sei die Entwicklung des fahrenden Frisiersalons nicht gewesen. "Wir haben ja darauf schauen müssen, dass alles ganz stabil, aber trotzdem leicht und wendig ist", sagt Pedretscher.
Multifunktionsgefährt. Vor sieben Jahren wagte die frühere Angestellte "den Sprung ins kalte Wasser". Heute betreut sie mit zwei Angestellten pro Tag zwischen 15 und 20 Kunden. Kinder, Mütter von Babys oder Behinderte nehmen den Hausservice ebenso in Anspruch wie Geschäftsleute. Pedretscher: "Zu denen komme ich direkt in die Firma." Auch Krankenhäusern und Seniorenheimen stattet sie regelmäßig Besuche ab. Immer wieder staunen die Leute dort über Pedretschers eigenartiges Gefährt. "Wenn ich mit meinem Wagerl in den Spitalsgängen oft etwas schnell unterwegs bin, rufen manche Patienten: Machts Platz, das Sauerstoffgerät kommt." Pedretscher ist überzeugt, mit ihrer Idee einem Trend zu gehorchen: "Flexibilität steht bei mir im Vordergrund. Ich bin rund um die Uhr für meine Kunden da. Ich komme, wann und wohin sie wollen."
Klare Erfordernisse des Marktes waren auch für Günther Seebacher, Druckspezialist aus Hermagor, ausschlaggebend, an innovativer, zuvor nicht verfügbarer Technologie zu tüfteln. Eine EU-Vorschrift betreffend die Formatierung bestimmter Beipackzettel machte den Kärntner Unternehmer in kürzester Zeit zu einem gefragten Mann im Druckergewerbe.
In Eigenregie entwickelte Seebacher eine hoch spezialisierte Druck- und Endverarbeitungsmaschine, mit der kleine Broschüren im A6-Format in Hochglanzqualität gedruckt, geschnitten, gefalzt, geheftet und zuletzt mit einem Faden versehen werden können. Mit seinem System sei er absoluter Pionier gewesen, behauptet der Drucker, der den Betrieb einst von seinem Lehrherrn übernommen und sich lange mit der weniger lukrativen Herstellung von Reiseprospekten durchgeschlagen hatte. "Bis heute gibt es nur drei solche Maschinen in ganz Europa", sagt Seebacher.
Inzwischen produziert er Beipackzettel für Luxusgüter wie Weinflaschen, Haute Couture oder Kosmetikartikel - und ist damit sogar als Partner für Großdruckereien interessant, denen sich Seebacher als Spezialist für Miniformate präsentiert. Auf diese Weise nascht der Kärntner an den Aufträgen seiner Branchenkollegen mit und erspart sich zudem den Außendienst. Seebacher: "Es fallen immer wieder Aufträge im A6-Format ab, die andere nicht ausführen können." Zwei Millionen Euro Umsatz bringen die kleinformatigen Broschüren im Jahr, die Kunden kommen aus Italien, Deutschland und der Schweiz. Freilich ist es nicht immer moderne Technologie, mit der geschickte Handwerker ihre Profession ins neue Jahrtausend zu retten trachten. Manch eine Innovation fußt auch darauf, sich besonders intensiv mit alter Handwerkskunst zu befassen und diese weiterzuentwickeln, an aktuelle Bedürfnisse anzupassen, überliefertes Wissen mit modernern Verfahren zu kombinieren und derart einzigartige Produkte zu schaffen. "Es sind Leistungen jenseits der reinen Hardware, über die sich ein erfolgreiches Unternehmen in Zukunft primär definieren wird", glaubt Studienautor Thomas Huber.
Dieser Philosophie folgte auch Thomas Hundegger, Sägewerksbetreiber aus Waldhausen in Oberösterreich. Der 31-Jährige hat das Sägehandwerk bei seinem Vater erlernt und das Unternehmen Hundegger KG vor zweieinhalb Jahren übernommen. Hundegger entwickelte aus einem dänischen Patent ein bisher nicht übliches Verfahren, mit dem man Holz in kaltem Zustand biegen kann. "Wir stauchen das Holz leicht vor, ähnlich wie die Knickstellen bei einem Strohhalm, und können es so rasch in jeden gewünschten Zustand biegen ", erklärt Hundegger. Seine Biegetechnik ist derzeit weltweit einzigartig, und die technische wie handwerkliche Innovation wurde vom österreichischen Forschungsförderungsfonds finanziell unterstützt.
Ähnlich ist der Ansatz von Josef Kalchgruber. Ein Baubiologe brachte den Binder und Tischlermeister aus Taufkirchen in Oberösterreich auf die Idee, es mit Badewannen aus Holz zu versuchen. Kalchgruber, der die aussterbende Binderkunst von seinem Vater lernte, entwickelte in mehrjähriger Arbeit ein Spezialverfahren, mit dem er jährlich 40 Stück seiner wasserdichten, ebenmäßig glatten Wannen baut. Kalchgruber benutzt ausschließlich langsam gewachsenes, wintergeschlagenes Lärchenholz: "Im Winter ist das Holz ruhiger, quillt oder reißt nicht." Bis zu fünf Jahre lang muss es trocknen, bevor es Kalchgruber zu Badewannen verarbeitet.
In 30-stündiger Arbeit werden die einzelnen Holzteile bearbeitet und ineinander verankert. Mit Naturharzöl imprägniert, sind die Wannen nicht nur wasserdicht, sondern auch äußerst strapazfähig. Dank des aktuellen Wellness-Trends erfreut sich Kalchgrubers hölzernes Bademobiliar reger Nachfrage. "Ich wollte zurück an den Ursprung der Badekultur", sagt der Bindermeister. 1520 Euro kostet ein Unikat aus Kalchgrubers Werkstatt. Während andere Binder mit wirtschaftlichen Problemen kämpfen, ist der Oberösterreicher am Expandieren. Der 37-Jährige verkauft seine hölzernen Badewannen heute außer in Österreich auch in Bayern und der Schweiz.
Neues Erscheinungsbild. In manchen Fällen reicht es aber offenbar schon, Altbewährtes quasi mit einem neuen, zeitgemä ßen Anstrich zu versehen. Diesem Prinzip gehorchten Christian Schrödl und Michael Blaha, als sie vor drei Jahren eine Wiener Kaffeerösterei übernahmen. "Ich habe in der Nähe dieser Rösterei gewohnt und immer den Kaffee getrunken", sagt Schrödl. Als der Eigentümer den Betrieb zusperren wollte, entschlossen sich die beiden, das Unternehmen zu modernisieren. Blaha kam aus der Gastronomie, Schrödl war in Werbung und Marketing tätig gewesen. Rasch vollzog man einen Standortwechsel zum stärker frequentierten Naschmarkt, und Schrödl erneuerte das Erscheinungsbild mittels Logo und neuer Corporate Identity.
Heute rösten die Jungunternehmer 14 Kaffeevariationen, davon viele hochqualitative Sorten aus Kuba oder Mexiko. Zusätzlich können die Kunden bei der Christian Schrödl KEG auch traditionelle Kaffeemaschinen und Zubehör wie Tassen kaufen.
Das im Grunde simple Konzept scheint aufgegangen zu sein: Schon in den ersten sechs Monaten nach der Übernahme betrug der Umsatz so viel wie zuvor in einem ganzen Jahr.