„Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war“

Historiker Timothy Garton Ash: „Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war“

Interview. Starhistoriker Timothy Garton Ash über das vertrackte Ergebnis der britischen Wahlen

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Interview: Georg Hoffmann-Ostenhof, Robert Treichler

profil: Die Briten fahren im Straßenverkehr auf der falschen Seite, und nach einer Wahl ohne absolute Mehrheit einer Partei wird der falsche Mann mit der Regierungsbildung beauftragt. So will es die ungeschriebene Verfassung. Im aktuellen Fall hat der bisherige Premier und unterlegene Labour-Chef Gordon Brown den Auftrag erhalten – auch wenn tatsächlich nicht er Regierungsgespräche führt, sondern Tory-Chef David Cameron. Warum ist das so?
Garton Ash: Ich glaube, es gibt in diesem Fall keinen falschen oder richtigen Mann. Es ist überhaupt nicht klar, wer gewonnen hat. Es muss also verhandelt werden. Auf dem europäischen Kontinent und überall anders auf der Welt ist das ganz normal. Man könnte sagen, mit dieser Wahl ist Großbritannien ein Stück normaler und ein Stück europäischer geworden.

profil: Auf dem Kontinent würde aber von vornherein der Chef der stärksten Partei mit der Regierungsbildung beauftragt.
Garton Ash: In Großbritannien kommt zunächst der am­tierende Premier zum Zug, so will es die ungeschriebene Verfassung. Er darf demnach den ersten Versuch machen, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. Wie es heute aussieht, heißt das, dass alles von den Liberaldemokraten abhängt. So wie einst die FDP in Deutschland müssen jetzt die Lib Dems entscheiden.

profil: Die Liberaldemokraten in Großbritannien haben eine ganz andere Tradition als die FDP in Deutschland, sie sind eher linksliberal.
Garton Ash: Es sind auch Wirtschaftsliberale darunter. Aber im Parteiensystem spielen sie jetzt eine ähnliche Rolle.

profil: Was wird passieren?
Garton Ash: So recht weiß das jetzt – Freitagmittag – noch niemand, aber es wird sich in den nächsten Tagen entscheiden, weil die Märkte nicht länger warten werden. Deswegen handelt man unter Druck. Lib-Dem-Vorsitzender Nick Clegg hat sich im Grunde schon festgelegt. Er sagte, die Partei mit den meisten Stimmen und den meisten Mandaten im Parlament – das muss ja nicht dieselbe sein – sollte mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Seine politische Position steht also der Verfassung diametral entgegen. Wenn er dabei bleibt, wird seine Haltung bewirken, dass Großbritannien eine konservative Minderheitsregierung bekommt, geduldet von kleineren Parteien. Bleibt immer noch die Frage, welche Parteien das sind und welche Bedingungen sie stellen.

profil: Könnte Nick Clegg angesichts des öffentlichen Drucks auf Brown seine Meinung ändern und doch eine Regierung mit Labour bilden?
Garton Ash: Alles ist möglich. Aber meines Erachtens wäre das eher denkbar gewesen, wenn sich der enorme Zuspruch für die Lib Dems, die „Cleggmania“, in der Wahl bestätigt hätte. Dann hätte er die Legitimation des Volkes, um seine Position zu ändern. Cleggs Partei hat aber nur einen Prozentpunkt zugelegt, was ein sehr schlechtes Ergebnis für sie ist. Somit fehlt ihm die Legitimität für eine so weit reichende Entscheidung.

profil: Wird die kommende Regierung labil sein? Und wie schlimm wäre das angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Situation des Landes?
Garton Ash: Die neue Regierung muss nicht unbedingt wirtschaftspolitisch schwach sein. Unter den Parteien herrscht weitgehend Konsens darüber, dass ordentlich gespart werden muss und dass die Steuern erhöht werden. Dennoch werden das Wahlrecht und das politische System an sich ein Thema bleiben. Davon bin ich überzeugt, auch deswegen, weil die Konservativen in Schottland nur ein einziges Mandat errungen haben. Sie sind damit eine fast gänzlich englische Partei. Das hat historische Bedeutung.

profil: Nehmen wir den wahrscheinlichen Fall an, dass Cameron schließlich die Regierung bilden wird. Ist das Mandat, das er vom Volk bekommen hat, nicht sehr dürftig? Er trat gegen eine Labour-Regierung an, die 13 Jahre im Amt war und mitten in einer katastrophalen wirtschaftlichen Situation Wahlen abhalten musste. Da sind drei Prozentpunkte Zugewinn ziemlich wenig, nicht?
Garton Ash: Das Bedürfnis nach einer entschiedeneren Politik ist aber da. Die Exekutive ist im britischen System unglaublich stark. Der Mann in Downing Street 10 ist, auch wenn er bei der Wahl relativ schlecht abgeschnitten hat, in einer starken Position. Allerdings ist bei einer konservativen Minderheitsregierung eine weitere Neuwahl wahrscheinlich. Die Regierung wird wohl nicht fünf Jahre im Amt bleiben.

profil: Aber spricht nicht genau das dafür, dass die starken Einschnitte, die nötig sind, im Endeffekt doch nicht in der nötigen Form gemacht werden?
Garton Ash: Ich denke, im Vergleich mit Deutschland wäre es tatsächlich eine schwächere Regierung. Aber im Vergleich mit Griechenland, Portugal oder Spanien – und diesen Vergleich werden die Märkte ziehen – wäre die britische Regierung recht stark.

profil: Es ist das erste „Hung Parliament“ seit 35 Jahren. Erleben wir jetzt das Ende der Ära der absoluten Mehrheiten in Westminster?
Garton Ash: Ja, ich glaube das ist der Anfang vom Ende der absoluten Mehrheiten. Ein Umbruch im politischen System ist nötig. Das Land hat sich verändert. Großbritannien ist ja eine Nation von vier Nationen. Man darf den schottischen und walisischen Einfluss nicht unterschätzen. Da entsteht eine Dynamik zwischen Schottland und England, die auch verfassungsmäßige Veränderungen erzwingt.

profil: Warum haben die Leute doch wieder die altbekannten Parteien gewählt?
Garton Ash: Mir persönlich ist das noch ein Rätsel. Eine Rolle könnte gespielt haben, dass sich die Leute gedacht haben, dass eine Stimme für Clegg eine vergebene Stimme wäre. In der letzten Wahlkampfwoche hat Cameron überzeugen können, während Nick Clegg relativ schwach war. Trotzdem gibt es eine bestimmte Schizophrenie zwischen dem, was die Leute in Umfragen sagen, und dem, was sie wählen. Aber noch etwas dürfte eine Rolle gespielt haben: Ich wage zu behaupten, dass die Bilder von brennenden Banken in Griechenland, wenn auch nur unterbewusst, die Wähler beeinflusst haben.

profil: Sie haben eine Wahlempfehlung für Clegg abgegeben und gehofft, dass das bisherige politische System aufgebrochen wird. Bedeutet sein schlechtes Abschneiden jetzt Stagnation?
Garton Ash: Ja, ich hoffte auf einen Durchbruch in Richtung Systemwandel, den wir dringend brauchen. Ich bin natürlich enttäuscht über das Ergebnis, aber ich glaube, wir bekommen ein moderneres, europäisches System, wenn auch nicht so schnell, wie ich gehofft habe.

profil: Sie wollen das Verhältniswahlrecht?
Garton Ash: Ja. Und ein gewähltes Oberhaus, eine geschriebene Verfassung und ein im Inhalt festgelegtes föderales System, welches das Verhältnis zwischen England, Schottland, Wales und Nordirland regelt. So würde das Bundeskönigreich Großbritannien aussehen.

profil: Lustig: In Österreich wird immer wieder diskutiert, das Mehrheitswahlrecht anstelle des Verhältniswahlrechts einzuführen, weil viele die mühsame Koalitionsbildung nach den Wahlen satthaben, deren Ergebnis meist ein schwammiges Konsensprogramm ist.
Garton Ash: Es gibt das eine Extrem wie in England, wo am Ende eine Partei mit nur einem Drittel der Stimmen die absolute Mehrheit erreichen kann. Zum anderen Extrem gehören Länder wie Israel, wo eine ganze Reihe von Parteien zu einer Regierungskoalition zusammenfinden müssen. Ich glaube, wir in Großbritannien werden zu ­einem System kommen, das proportionale Elemente hat, aber nicht so extrem wie in Israel.

profil: Was erwarten Sie sich vom wahrscheinlichen Premier Cameron?
Garton Ash: Ich erwarte, dass er tut, was er tun muss, das heißt: brutale und schnelle Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben und Steuererhöhungen, um das Defizit in den Griff zu bekommen. Das erwarten die Märkte, das erwartet die Welt, und das erwarten eigentlich auch die britischen Wähler. Cameron ist nicht zu beneiden.

profil: Wie schätzen Sie ihn als politische Persönlichkeit ein?
Garton Ash: Er ist ein klassischer Vertreter der herrschenden Klasse Großbritanniens. Diese Leute kommen immer wieder, sie können sich auch sehr gut anpassen. Cameron ist sozialliberal und gibt sich auch sehr modern. Ich glaube, er wird seine Sache gut machen. Er vefügt auch im Beamtenapparat über eine unglaubliche Kompetenz. Ich glaube, eine Regierung unter seiner Führung würde relativ gut funktionieren, aber die Frage nach der Legitimität würde immer wieder gestellt werden. Er wird nur knapp ein Drittel der Stimmen hinter sich haben, und die vor allem in England.

profil: Mervyn King, der Gouverneur der Bank of England, hat gesagt, die Partei, die jetzt an die Regierung kommt, wird für eine ganze Generation nicht mehr gewählt werden.
Garton Ash: Er hat das wohl bestritten. Aber an dieser ­Aussage ist etwas dran. Cameron wäre deswegen auch ­politisch gut beraten, eine Koalition mit Partnern zu finden, welche die Verantwortung für diesen schmerzlichen Prozess mittragen.

profil: Kommen wir zur Labour Party: Die hat doch nicht so schlecht abgeschnitten, wie prognostiziert wurde. Haben die Wähler am Ende doch geschätzt, was sie 13 Jahre lang geleistet hat?
Garton Ash: Die erwartete Abwanderung von enttäuschten Sozialdemokraten zu den Liberaldemokraten hat nicht stattgefunden. Das heißt, dass das relativ gute Abschneiden von Labour und das schlechte Ergebnis der Lib Dems eng verknüpft sind. Labour hat vor allem in Wahlkreisen gut abgeschnitten, wo alteingesessene Abgeordnete sitzen. Neue Labour-Abgeordnete sind in geringerer Zahl gewählt worden.

profil: Waren die vergangenen 13 Jahre Ihrer Meinung nach eine Ära der Modernisierung und des kulturellen Aufbruchs?
Garton Ash: Das waren sie, dasselbe gilt aber auch für die Thatcher-Jahre. Wenn man Großbritannien richtig einschätzen will, muss man die Abfolge der konservativen Ära Thatcher und der Ära Blair/Brown berücksichtigen.

profil: Das waren zwei Etappen einer Modernisierung.
Garton Ash: Ja, zuerst eine Etappe brutaler wirtschaftlicher Liberalisierung und dann eine sehr sozialliberale Variante davon – mit riesigen Ausgaben der öffentlichen Hand. Der Anteil des Staates am BIP ist um etwa zehn Prozent gestiegen. Meines Erachtens war das ein wenig zu viel des Guten. In den letzten fünf Jahren hätte man mehr sparen müssen. Aber es wusste natürlich niemand, dass die größte Finanzkrise seit 70 Jahren auf uns zukommt.

profil: Was würde eine Regierung Cameron, der EU-Skeptiker angehören, für Europa bedeuten?
Garton Ash: Das wäre ganz offensichtlich ein Problem. Gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik braucht man Großbritannien und natürlich für viele andere aktuelle Probleme der EU auch. Trotzdem: Erstens wollen Cameron und sein Schatten-Außenminister William Hague realistisch und konstruktiv vorgehen, das haben sie überzeugend dargelegt. Zweitens haben sie so viele andere Sorgen, dass der große Krach mit der EU nicht weit oben auf der Agenda der Konservativen stehen wird.

profil: Wenn es aber in den nächsten Jahren zu einem weiteren Integrationsschritt käme, würden doch zumindest die Hinterbänkler der Tories einen Aufstand machen.
Garton Ash: Ja, das ist ein Problem. Großbritannien unter den Konservativen wird weiß Gott kein Motor für die europäische Integration sein. Sollte es eine Vertragsänderung für die ganze EU geben, wollen die Tories ein Referendum abhalten, das haben sie schon angekündigt.

profil: Erwarten Sie nach dieser Wahl eine Phase der politischen Instabilität in Großbritannien?
Garton Ash: Das wird sich in den nächsten Tagen klären. Ich glaube nicht an eine dauerhafte Instabilität, ich glaube, dass die Parteien eine relativ stabile Regierung bilden werden. Aber: Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Es wird keine Rückkehr zur alten Politik geben.