Peter Michael Lingens

Ineffizienz als erste Wahl

Ineffizienz als erste Wahl

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Wenn man die große Koalition, wie die überwältigende Mehrheit der Österreicher, für die beste Form des Regierens hält, war Ostern tatsächlich ein Fest der Auferstehung: Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Regierung für die nächsten Monate wirklich arbeiten statt wählen ­lassen will. Alfred Gusenbauer wollte das schon immer, denn er konnte bei Neuwahlen nur verlieren. Die ÖVP wollte es in dieser Legislaturperiode bisher noch nie, denn sie glaubte sich – wirtschaftlich nicht völlig zu Unrecht – um einen verdienten Sieg gebracht. Dass sie es plötzlich doch will, hat drei Ursachen: die Veröffentlichung des „Plan Nr. 1“ über vorgezogene Neuwahlen im profil, die es Molterer & Schüssel unmöglich gemacht hat, ihn im laufenden Jahr in die Tat umzusetzen; das Wissen, dass die FPÖ der größte Profiteur von Neuwahlen wäre und dass Heinz-Christian Strache eher mit der SPÖ als mit ihr koalierte, weil er sich so als einziger Wahrer bürgerlicher Interessen profilieren könnte; und die Zusammenarbeits-Appelle von Heinz Fischer und Erwin Pröll, die die Stimmung der Bevölkerung spiegeln. An eine dauerhafte Einsicht der ÖVP in den Nutzen großkoalitionären Regierens glaube ich nicht.

Im Gegensatz zu Fischer und Pröll glaube ich nämlich auch nicht, dass es diesen Nutzen gibt (wenn man von der unmittelbaren Nachkriegszeit absieht): Österreichs erste Alleinregierung unter Josef Klaus hat wesentlich mehr weitergebracht als die große Koalition davor. Die Alleinregierung Bruno Kreiskys hat wesentlich mehr weitergebracht als diverse Koalitionen danach. Die von mir aus anderen Gründen wenig goutierte kleine Koalition zwischen ÖVP und Freiheitlichen war nichtsdestotrotz weit effizienter als die große Ko­alition davor und die große Koalition von heute. Die gesamte, durch jeden politischen Beobachter überprüfbare Evidenz der letzten Jahrzehnte spricht dafür, dass die große Koalition die relativ erfolgloseste, die Alleinregierung die relativ erfolgreichste Regierungsform gewesen ist und dass die kleine Koalition irgendwo dazwischen liegt. Aber die Österreicher wollen’s nicht wahrhaben – vermutlich aus demselben Grund, aus dem Abstimmungen zwischen rivalisierenden Kandidaten bei uns als „Kampfabstimmung“ diffamiert werden, statt zu begreifen, dass es der Sinn der Demokratie ist, zwischen Alternativen zu wählen.

Es ist das Wesen der großen Koalition, dem Wähler ­diese Alternative so weit wie möglich vorzuenthalten: Ihr Programm ist zwangsläufig immer ein (gequälter) Kompromiss. Wenn ÖVP und SPÖ einander als mandatsstärkste Partei ablösen, verschiebt sich dieser Kompromiss marginal nach rechts oder nach links. Grundsätzlich Neues kann zwangsläufig nicht herauskommen.
Und auch die Personen sind nach Neuwahlen fast durchwegs dieselben, höchstens auf anderen Sesseln. Demgegenüber besteht das Problem jeder kleinen Koalition ebenso grundsätzlich darin, dass einer kleinen Partei ein weit überproportionaler Einfluss auf die Politik eingeräumt wird, weil sie sich als Zünglein an der Waage zwangsläufig teuer verkaufen kann. Das ist nicht so schlimm, wenn eine „rechte“ Partei wie die FPÖ mit einer „bürgerlichen“ Partei wie der ÖVP koaliert, denn dann stimmt zumindest beider Stoßrichtung halbwegs überein, sodass sie einander nicht blockieren. (Ähnliches gälte für eine kleine Koalition zwischen SPÖ und Grünen.)

Nur dass eine kleine Rechtspartei, die neben einer großen Rechtspartei mitregiert, dies immer mit einem Wählerschwund vom Schmiedl zum Schmied bezahlt. (So wie sich vermutlich – wenn auch nicht im selben Ausmaß – die Grünen abnützten, wenn sie an der Seite der SPÖ mitregierten.) Intelligente Politiker – zu denen Strache durchaus zählt – haben daher begriffen, dass es für die FPÖ weit nützlicher ist, mit der SPÖ zu koalieren. Womit wir freilich prompt beim Grundproblem einer solchen Konstellation landen: Die Stoßrichtung passt überhaupt nicht zueinander (siehe blaue und rote Bildungs- oder Integrationspolitik).

In Österreich kommt ein Spezialproblem dazu: Die FPÖ ist keine normale Partei, sondern ein Sammelbecken von Funktionären, die in Deutschland unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stünden. Gleichzeitig ist sie dennoch die führende dritte Kraft, sodass kleine Koalitionen zwangsläufig Regierungsbeteiligung eben dieser Funktionäre bedeuten. Das ist in meinen Augen höchst unhygienisch, hat aber noch keine der Großparteien vom Koalieren abgehalten. Wir werden also ewig zwischen ineffizienten großen und unappetitlichen kleinen Koalitionen pendeln. Derzeit haben nur wir dieses Problem, aber demnächst wird auch Deutschland es haben: Nicht mehr die FDP, sondern die „Linke“ wird jene dritte Kraft sein, die die Regierungsmehrheit beschert. Dann werden „Ehemalige“ der ostdeutschen Diktatur Deutschlands Politik mitbestimmen – oder man wird auch dort immer öfter zur großen Koalition Zuflucht nehmen müssen. Denn die mit Abstand erfolg­reichste Regierungsform – die Alleinregierung – lässt das Wahlrecht in beiden Staaten nur in Ausnahmefällen zu. Jeder vernünftige Politiker schlösse daraus, dass man dieses Wahlrecht ändern muss. (Es muss ja nicht gleich so extrem wie das britische werden.) Zumindest in Deutschland wird diese Diskussion demnächst stattfinden. Hier gilt Diskussion als „Streit“.