Interview: „Kein historisches Schicksal“
profil: Nationalratspräsident Andreas Khol hat erklärt, die Österreicher sollten entweder Kinder kriegen oder sich auf Zuwanderung einstellen. Innenminister Ernst Strasser hat das als eine „Drohung“ zurückgewiesen. Ist Zuwanderung eine Bedrohung?
Bauböck: Das hängt ganz vom Standpunkt ab. Liberale Ökonomen werden uns immer erklären, dass völlige Bewegungsfreiheit weltweit optimal ist für die Wirtschaft, weil sie zum effizientesten Einsatz von Arbeitskräften führt.
profil: Viele fürchten aber gerade die Liberalisierung des Arbeitsmarktes.
Bauböck: Gerade europäische Sozialstaaten können den Arbeitsmarkt nicht völlig freigeben, wenn sie sich weiter als Sozialstaaten behaupten wollen. Der Wunsch, bestimmte Mindeststandards bei Löhnen und Arbeitsbedingungen aufrechtzuerhalten, ist deshalb ein Argument für die Beschränkung der Zuwanderung. Gleichzeitig spricht heute das Argument der Sicherung des Wohlfahrtsstaates dafür, Zuwanderung liberaler zu handhaben. Denn der Wohlfahrtsstaat droht an Überalterung zugrunde zu gehen. Aus ganz simplen demografischen Gründen kommt ein Alterssicherungssystem, das darauf basiert, dass die heute Arbeitenden die Pensionen der Ruheständler finanzieren, in die Krise.
profil: Kann Zuwanderung allein dieses Problem beheben?
Bauböck: Nein. Um die Relation zwischen Pensionisten und Arbeitenden zu stabilisieren, bräuchte man Zuwanderung in dermaßen gigantischen Dimensionen, dass sie politisch nicht verkraftbar wäre.
profil: Wieso können Staaten wie die USA, Kanada und Australien Einwanderung in viel größerem Maße verkraften?
Bauböck: Die nordamerikanischen Gesellschaften und Australien sind aus Zuwanderung hervorgegangen – wobei man natürlich dazu sagen muss, dass diese Zuwanderer anders waren als unsere heutigen Einwanderer. Das waren Kolonialisten, die die einheimische Bevölkerung vertrieben haben. Trotzdem hat sich historisch das Bewusstsein herausgebildet, eine Nation von Einwanderern zu sein. Daher war es von der Mentalität her leichter, die Tore offen zu halten für die weitere Zuwanderung.
profil: Funktioniert hat das aber auch in diesen Gesellschaften nicht immer.
Bauböck: Nein, alle diese Länder haben ihre großen historischen Krisen durchgemacht, in denen der so genannte Nativismus oder die Ablehnung der Zuwanderung die Oberhand gewonnen hat. Das war in den USA in den zwanziger Jahren der Fall, in Australien gab es bis in die siebziger Jahre die Politik des „White Australia“, die besagte: Nach Australien dürfen nur Zuwanderer kommen, die weiß sind.
profil: Wie wurde diese Politik überwunden?
Bauböck: Die USA hatten in den zwanziger Jahren Quoten für jede Einwanderernation festgesetzt, um die Immigration aus Europa zu drosseln. Erst im Zuge der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren kam es zu einer Debatte, ob solche nationalen Einwanderungsquoten nicht rassistisch sind. Mit einem ganz unscheinbaren Begleitgesetz wurde das Quotensystem abgeschafft. Die Folge war, dass die Zuwanderung nun hauptsächlich aus Lateinamerika kam – was eigentlich gar nicht beabsichtigt war. In Australien gab es in den siebziger Jahren auch ein demografisches Argument. Man sagte: Bitte, wir sind im südostasiatisch-pazifischen Raum zu Hause, von da sollen die Zuwanderer kommen. Wie Kanada hat Australien daher seine traditionelle Zuwanderungspolitik umgestellt und sich zum Multikulturalismus bekannt. Australien und Kanada sind die einzigen Staaten der westlichen Welt, die sich offiziell als eine multikulturelle Demokratie deklariert haben.
profil: Ist es überhaupt möglich, dass in Europa eine ähnliche Mentalität entsteht? Oder fehlen dazu die nötigen historischen Voraussetzungen?
Bauböck: Solche Mentalitäten hängen doch auch von den Rahmenbedingungen ab. Was einer Gesellschaft nützt, das schlägt langfristig auch mentalitätsmäßig zu Buche. Zum Beispiel in Frankreich: Es ist das einzige traditionelle Einwanderungsland Europas, schon seit dem 19. Jahrhundert. Damals waren die Geburtenzahlen niedrig, und man brauchte Immigranten für die Armee. Das führte zu einem relativ großzügigen Staatsbürgerschaftsgesetz und einer inklusiven, assimilatorischen Identität.
profil: Ansonsten herrscht aber in Europa bis heute das Bewusstsein einer ethnischen, nationalen Identität vor.
Bauböck: Nehmen wir das Beispiel Deutschland. In der Literatur findet sich immer das Stereotyp, dass Deutschland das ethnische Volkstum festgeschrieben hat und sich daher nur gegenüber den Aussiedlern offen halten, aber die türkischen Einwanderer niemals als gleichberechtigte Staatsbürger anerkennen kann. Mit dem Regierungswechsel 1998 wurde das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht grundlegend reformiert, das Abstammungsprinzip stark eingeschränkt und das Territorialprinzip eingeführt. Noch vor zehn Jahren hätten viele solche Reformen in Deutschland für unmöglich gehalten. Das ist ein Signal dafür, dass eigentlich in allen westlichen Gesellschaften das Potenzial für diese Reformen vorhanden ist und dass man gesellschaftlichen Konsens dafür erzielen kann, wenn man politisch entsprechend dafür wirbt, die Diskussion versachlicht und den Populisten das Wasser abgräbt.
profil: Wenn man die politischen Verhältnisse in Europa betrachtet, scheint es nicht gerade in diese Richtung zu gehen.
Bauböck: Es ist immer möglich, dass man in politische Niederlagen hineinschlittert. Trotzdem ist das deutsche Beispiel sehr lehrreich für Österreich: Es zeigt, dass es möglich ist, die Reform der Staatsbürgerschaft anzupacken und im Wesentlichen durchzusetzen. Und obwohl das Zuwanderungsgesetz erst einmal auf Eis gelegt ist, gibt es einen relativ breiten Konsens zwischen der Industrie, den Wirtschaftsinteressen, weiten Kreisen der Konservativen, der Sozialdemokraten bis hinein in die Gewerkschaften, dass man eine geregelte, rationale Zuwanderungspolitik braucht.
profil: In Österreich scheint eher das Gegenteil zu passieren.
Bauböck: Von Anfang an gab es seitens der hiesigen Regierungen nie den Versuch, die Debatte auch über Einbeziehung von Experten zu versachlichen und in die Öffentlichkeit zu tragen. Das trifft auch die große Koalition und sogar die Periode, in der die Sozialpartner dominant waren in der Einwanderungspolitik in den siebziger und achtziger Jahren.
profil: Wie kann sich das Bewusstsein dann jetzt ändern?
Bauböck: Auch den Österreichern, die auf Altenpflege angewiesen sind, ist inzwischen bewusst geworden, dass die Altenpfleger alle aus dem Ausland kommen. Es gibt also nicht nur einen Einwanderungsbedarf im Bereich der Computertechnologie. Das ist den Österreichern doch zu vermitteln! Davon sind schließlich so viele Familien betroffen. In Deutschland ist der Bewusstseinswandel schon sehr weit: Die Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlicht gerade eine große Serie über den türkischen Mittelstand, der in Deutschland den Aufstieg geschafft hat. Das Phänomen wird Österreich auch erleben; ein Beispiel dafür ist schon der Aufstieg des türkischen Einwanderers Attila Dogudan zum Top-Caterer Do & Co. In der Wirtschaft geht das immer ein bisschen schneller als in der Politik. Aber wenn irgendwann von den Zuwanderern auch Wählerstimmen zu holen sind, wird es mit ihrer Integration auch politisch ganz schnell vorwärts gehen. Wenn die Parteien vernünftig sind, werden sie Kandidaten mit Migrationserfahrung auf wählbare Listenplätze setzen. Diese Ankerpersonen werden die Zuwanderer anziehen und politisches Lobbying betreiben. Das dauert alles ein bisschen, ist aber nicht aufzuhalten.
profil: Heute schon sind 25 Prozent der Einwohner Wiens Ausländer oder Eingebürgerte. Wird Europa künftig ethnisch vollkommen gemischte Städte haben?
Bauböck: Das ist schon heute der Fall. Grundsätzlich glaube ich, dass das Thema Migration und Integration für die großen Städte eine Chance ist, sich gegenüber den Nationalstaaten zu emanzipieren. In den meisten Staaten gibt es ja den Mentalitätsgegensatz zwischen der metropolitanen und der ländlichen Bevölkerung. Am Land, wo weniger Ausländer leben, gibt’s bekanntlich immer mehr Ausländerfeindlichkeit. In der Stadt kann man das besser überwinden. Die Stadtpolitik könnte versuchen zu sagen: Staaten regeln die Einreise der Einwanderer und den Zugang zur Staatsbürgerschaft; wir, die Städte, wollen eine eigene Form der Stadt-Bürgerschaft entwickeln, die für Zuwanderer offen und von der Staatsbürgerschaft abgekoppelt ist. Das ist die alte Idee der Wohnbürgerschaft, die ich seit zehn Jahren zu propagieren versuche: Wer auf Dauer in der Stadt niedergelassen ist, hat automatisch Zugang zu allen Rechten, die die Stadt vergibt. Zu sozialen Diensten genauso wie zum kommunalen Wahlrecht.