Kopf voll Stroh
Es ist ein alter, kranker Mann, der hier gegen das Vergessen ankämpft: Ich war ein Tor, der sich aufgemacht hatte, ein Held zu werden und den Feind zu schlagen. Vor mehr als sechs Jahrzehnten ließ sich der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk, heute 82, freiwillig in der sogenannten Palmach-Armee verpflichten, die einen Staat schützen sollte, der kurz zuvor von der Politik sanktioniert worden war: Am 29. November 1947 hatte die UN-Vollversammlung die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat beschlossen. Bis heute dauern die militärischen Auseinandersetzungen, in wechselnder Vehemenz und Brutalität, in der Mittelmeerregion an. Kaniuk war zum Zeitpunkt der völkerrechtlichen Legitimation Israels bereits Palmach-Kämpfer. Er war Teil eines verlorenen Haufens von Soldaten, die sich unversehens im Zentrum von Krieg, Chaos und Tod fanden. Ohne eine einzige Schießübung absolviert zu haben, ohne Panzer, mit wenigen Gewehren, die Stempel mit Hakenkreuzen trugen, ging es gegen die arabischen Milizen.
Es war 1948, die Zeit des Kinderkreuzzugs, schreibt der Autor in 1948, einem als Roman klassifizierten Erinnerungsbuch, in dem ein späteres Ich die Torheiten seines jüngeres Ichs betrachtet mit Skepsis und Abscheu: Erinnerung ist das, was ich als Erinnerung aufzeichne. Er habe als junger Mann, wie viele seiner Mitstreiter, den Kopf voll Stroh gehabt, resümiert Kaniuk. Juvenile jüdische Cowboys seien sie gewesen, die nicht wissen konnten, dass Israel eine Art Irrenhaus in der Wüste werden würde, über und über bestäubt mit dem Knochenmehl der Juden, die nicht lebend eingetroffen waren.
Neben Kaniuk, der mit 17 Romanen (Adam Hundesohn) zu Israels produktivsten und bekanntesten Schriftstellern zählt, erkundet mit David Grossman aktuell auch einer der wichtigsten Exponenten der jüngeren israelischen Autorengeneration die krisen- und kriegszerrüttete Historie des Landes. In der Totenklage Aus der Zeit fallen, die sich nur auf den ersten Blick als Lyrik zu erkennen gibt und im Grunde ein auf verschiedene Sprecher aufgeteilter Schmerzensschrei ist, schreibt Grossman, 59, über einen familiären Trauerfall: 2006 kam Uri, der damals 20-jährige Sohn des Romanciers, ums Leben, als dessen Panzer im Südlibanon von einer Hisbollah-Rakete getroffen wurde. Aus der Zeit fallen ist als Text außerhalb des vertrauten Zeit- und Ortsempfindens angesiedelt, ein kleiner Schreiberwauwau berichtet darin, poetisch verfremdet, von den Ereignissen: Mit konventioneller Literatur ist dem Schmerz nicht beizukommen. Sein Tod, klagt der Hinterbliebene im Buch, mache ihn zur abgestreiften leeren Haut eines Vaters, dessen Sohn Opfer eines endlosen Kriegs geworden sei.
Aus der Zeit fallen und 1948 verlieren sich jedoch nicht im Taumel des Grauens. Schreckensbilder blitzen in 1948 nur selten auf: der in zwei Hälften zerfetzte Kamerad, das abgeschnittene Ohr eines Arabers in der Zigarettenpackung. Kaniuks freimütig eingestandenes Tappen im Nebel des Vergessens erzeugt Bilder ohne Ballast, fast so etwas wie die Essenz des Schreckens: So half Kaniuk, Holocaust-Überlebende an Bord kleiner Schiffe, die auf dem Meer trieben, zu bergen. Er begegnete dabei Menschen mit grauem Antlitz, lebenden Toten aber auch Frauen mit Fuchspelzen um den Hals, die auf dem Weg ins gelobte Land, eine Region der prallen Sonne, Skiausrüstungen unter dem Arm hatten. Gewissenbisse plagen Kaniuk, als er Zeuge wird, wie sich 1500 Menschen, die dem Inferno der Shoah entkommen sind, rabiat eines zuvor geräumten arabischen Dorfs bemächtigen. Sie kamen aus dem Mülleimer der Geschichte, lässt Kaniuk sein jugendliches Alter Ego sagen, das sich selbst in einem Mickymaus-Krieg wähnt: Für sie bedeutete Krieg Wehrmacht, Nazis, Gestapo, Güterzüge, graue Baracken und auf zu Gott durch die Krematorien.
Yoram Kaniuk: 1948. Aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama. Aufbau, 248 Seiten, EUR 20,60
David Grossman: Aus der Zeit fallen. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser, 126 Seiten, EUR 17,40