Kulturkampfzonen

Israel. Gegensätze erschüttern die israelische Gesellschaft und bringen schillernde Politstars hervor

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Muslime, Muezzin, Morgengebet. Im Nahen Osten gehören die drei Ms zum Alltag. Knapp vor Sonnenaufgang erschallt der Ruf aus dem Lautsprecher, um die schlummernden Gläubigen ins Gotteshaus zu locken. "Ich bin für die Freiheit der Religion“, sagt Anastassia Michaeli. "Aber ich habe viele Mütter gesehen, ihre Augen, sie sind schlaflos. Das ist Krieg.“ Die Mütter, von denen Michaeli spricht, sind nicht die muslimischen Mütter der Region. Bei der israelischen Parlamentsabgeordneten haben sich die jüdischen Nachbarn aus Siedlungen und aus angrenzenden Städten über den Lärm vom Minarett beschwert. Deshalb will die Politikerin der russischen Immigrantenpartei Israeli Beitenu den Lautsprecherruf nun per Gesetz verbieten lassen. "Es geht mir nicht um Politik“, sagt Michaeli. "Es ist ein Umweltgesetz.“

Muezzin, Mütter, Michaeli.
So beginnt ein Kulturkampf. In Israel tobt derzeit an jeder Ecke eine Schlacht um religiöse Werte, ethnische Abgrenzung, soziale Klasse und politische Visionen. Dabei geraten die ideologischen Fronten immer mehr durcheinander. Die aus Russland stammende Politikerin Anastassia Michaeli schlägt ein Gesetz vor, das sich gegen eine islamische Tradition richtet. Außerdem aber kracht es zwischen ultraorthodoxen Fanatikern und der generell religiös moderaten Öffentlichkeit Israels: Rechtspopulistische Nationalisten fordern eine Rückkehr zu den "alten“ zionistischen Werten der eher links-säkularen Gründergeneration; Friedensaktivisten sehen sich als Agenten westlicher Mächte verunglimpft, obwohl "westliche“ Werte wie die Demokratie in Israel immer hochgehalten wurden.

Aus den sozialen Zeltprotesten im Sommer 2011, die in einer Demonstration von einer halben Million Israelis gipfelten, ist ein Winter harter politischer Auseinandersetzung geworden. Lange wurden die massiven sozialen Spannungen vom Konflikt der Israelis mit den Palästinensern überdeckt. Inzwischen haben beide Seiten die Hoffnung aufgegeben, dass die jeweils andere Frieden will. Dafür brechen nun alle religiösen, sozialen und ethnischen Gräben auf, die seit der Staatsgründung 1948 die Gesellschaft Israels durchzogen haben. "Israel war seit Beginn im Ausnahmezustand, doch jetzt explodiert alles um uns herum“, meint der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk.

Anastassia Michaelis Laune ist exzellent, ihr lacht das politische Glück. Die ehemalige Schönheitskönigin aus St. Petersburg vertritt heute im israelischen Parlament die russische Immigrantenpartei Unser Haus Israel von Außenminister Avigdor Lieberman, die drittstärkste Partei in der Knesset. Die 36-jährige Russin war einst orthodoxe Christin, Ingenieurin und Sekretärin, heiratete dann einen israelischen Geschäftsmann, wanderte 1997 nach Israel aus und konvertierte zum Judentum. Sie gebar acht Kinder und moderierte das Frühstücksfernsehen im russischen "Kanal 9“, bevor sie als Politikerin Karriere machte. Nach einem erfolglosen Anlauf bei der zentristischen Kadima-Partei holte Lieberman die talentierte Selfmade-Frau in seine rechtsradikale Partei der russischen Einwanderer. In diesem "Haus“ ist sie nun Schönheitskönigin und Einpeitscherin in Personalunion. Die Knesset, das Parlament, ist ihr Laufsteg und ihre Karriereleiter.

"Anfangs war es schwierig, ich hatte ja keine Erfahrung in der Politik“, erzählt Michaeli. Außerdem habe sie erst mühsam Hebräisch lernen müssen, und zwar mit einem Privatlehrer, der sogar ihren russischen Akzent ausgemerzt hat. Heute steht sie in der Abgeordneten-Kantine der Knesset und wechselt mühelos vom Russischen ins Hebräische und weiter ins Englische - stets umringt von einer Meute aus persönlichen Assistentinnen, denen sie Anweisungen gibt, und linken wie rechten männlichen Kollegen, die mit ihr flirten wollen und denen sie ebenfalls Anweisungen gibt. Wenn sie aber über Geschlechterrollen spricht, dann gibt sie sich zahm: "Mein Mann ist der Kapitän meines Schiffes“, sagt die multiple Karrierefrau. "Er kennt sich in Politik und Wirtschaft besser aus als ich.“

Sie selbst sei ja nur in die Knesset gekommen, um die Interessen der Mütter zu vertreten. Seit sie zum Judentum konvertiert ist und koscher isst, trägt sie auch keine Hosen mehr. Sie zeigt auf ihr schlankes Bein, an dem ein eng anliegender Rock bis über die Knie geht. "Meine Hosen aber, die habe ich zu Hause aufgehoben“, meint sie verschwörerisch. Sie sagt auch: "Ich habe ein starkes Bedürfnis, erfolgreich zu sein. Es ist mir egal, wo.“ Inhaltliche Kompromisse sind Kollateralschäden, die sie weglächelt.

Es scheint völlig an ihr vorbeizugehen, dass ihr Muezzin-Bann-Gesetz von vielen Kritikern als Symbol für die fortschreitende Desensibilisierung der israelischen Gesellschaft gegenüber den Rechten und Traditionen der eingesessenen arabischen Bevölkerung angesehen wird. "Ich will nur den Lärmpegel senken“, erklärt sie. "In Österreich gibt es auch ein Gesetz, dass der Muezzin nur am Freitag zum Gebet rufen darf. Überhaupt: Die Muslime können doch auch durch Radio und Internet zum Gebet gerufen werden.“ Den Einwand ihrer Kritiker, dass es bereits ein Lärmschutzgesetz gebe, lässt sie nicht gelten, es reiche nicht weit genug. Mit Diskriminierung der Palästinenser habe dies nichts zu tun: "Die Politik überlasse ich unserem Parteivorsitzenden Avigdor Lieberman, ich kümmere mich nur um Familienrechte, Bildung und Umweltfragen.“

Ihrem Chef ist das nur recht. Der ehemalige Türsteher aus Moldawien ist seit 2009 Außenminister. Ihm droht dieses Jahr ein Korruptionsprozess, doch in Israel erfreut sich der ultrarechte Provokateur großer Beliebtheit als jemand, "der sagt, was viele denken“: Israelische Araber würde er gern in die Westbank "transferieren“; die europäischen Regierungen nennt er "irrelevant“.

Sein Regierungspartner, Premierminister Benjamin Netanjahu von der rechten Likud-Partei, moderiert zwischen den ultrarechten und moderateren Mitgliedern seiner Regierungskoalition. Seit Monaten schlagen die Abgeordneten von Israel Beitenu und Likud fast täglich Gesetze im Parlament vor, die Israels interne Demokratie untergraben. Einige schafften es bereits durch erste Lesungen, viele werden nach öffentlichen Protesten noch einmal geprüft. Anastassia Michaelis Muezzin-Bann hat Netanjahu auch hintangestellt, nachdem Präsident Schimon Peres gesagt hatte: "Ich schäme mich für dieses Gesetz.“

Diesen Winter wird im Parlament eine ganze Reihe von "Loyalitäts“-Gesetzen diskutiert. Der Vorschlag eines Likud-Abgeordneten, dass Führerscheine nur jenen ausgestellt werden, die sich zum "jüdischen Staat Israel loyal“ erklären, wird noch überarbeitet. Ebenso die Idee, dass in Israel nur Oberster Richter werden darf, wer in der Armee gedient hat. Beide Gesetzesvorhaben zielen auf den Ausschluss der israelischen Araber aus dem öffentlichen Leben und Ämtern. Denn muslimischen und christlichen Arabern muss "Loyalität zum jüdischen Staat“ schwerfallen. Deshalb dürfen sie von Anbeginn an auch nicht in der Armee dienen.

Die Gegensätze in der israelischen Gesellschaft werden im 63. Jahr des Staates immer schärfer. Von den 7,8 Millionen Israelis sind 1,6 Millionen Araber, 700.000 ultraorthodoxe Juden, eine Million russische Einwanderer, die in den neunziger Jahren ins Land kamen, und 500.000 Siedler im Westjordanland (200.000 davon in Ostjerusalem). Die gesellschaftlichen Konzepte dieser Gruppen sind sehr unterschiedlich. Die Mehrheit der Israelis ist zwar weder extrem religiös noch politisch radikal, doch die Ränder spielen verrückt. In der israelischen Stadt Beit Schemesch wurde im Dezember ein achtjähriges Mädchen angespuckt, weil es ultraorthodoxen Fanatikern nicht züchtig genug angezogen war. Die israelische Armee hat Donnerstag vergangener Woche wieder rechtsextreme gewalttätige Siedler aus dem Westjordanland ausgewiesen. Israelische Soldaten halten heute nicht nur die Palästinenser nieder. Sie kämpfen auch gegen die fanatische Siedlerjugend, die Moscheen verwüstet und gegen die eigene Armee konspiriert.

Die allgemeine Verwirrung ruft nun neue Ideologen auf den Plan. Der 30-jährige Gründer der Partei Im Tirzu, Ronen Schoval, ruft: "Wir müssen uns auf die Werte des Zionismus rückbesinnen!“ Schoval hilft bei der Ausarbeitung rechter Gesetzesvorschläge wie der neuen NGO-Richtlinie. Besetzungskritische Organisationen sollen keine Finanzierung von ausländischen Regierungen mehr erhalten dürfen. Das Gesetz ist noch in Überarbeitung. Schoval meint: "Wir müssen dem Volk eine Stimme geben, es ist frustriert, weil die Eliten den Willen des Volkes nicht respektieren.“

Will das Volk aber, dass Frauen in Autobussen getrennt von den Männern sitzen? In manchen öffentlichen Autobussen haben die Ultraorthodoxen durchgesetzt, dass Frauen "freiwillig“ hinten sitzen. Als sich eine Frau jüngst weigerte, wurde sie angepöbelt und vom Schaffner gebeten, den Platz zu wechseln. Sie blieb sitzen. Tanja Rosenbildt wird heute als Heldin gefeiert. Liberale Israelis raufen sich die Haare über den Zustand ihrer Demokratie. "Es ist so weit gekommen, dass wir unsere demokratischen Grundwerte verteidigen müssen“, seufzt Rabbi Uri Ayalon.

Der Reformrabbiner hat im Herbst mit seiner Gruppe Jeruschalmim (Jerusalemer) eine Kampagnge gegen den Ausschluss von Frauen aus der öffentlichen Werbung in Jerusalem begonnen. Seit eineinhalb Jahren gab es in Jerusalem keine Plakate mehr, auf denen Frauen abgebildet waren. Ultraorthodoxe Rabauken hatten Werbungen mit Frauenfotos jahrelang beschmiert und zerrissen. Also ließen die Agenturen Frauen in ihren Kampagnen einfach weg. Als Rabbi Ayalon dies bemerkte, startete er die Kampagne "Unzensuriert“. Frauen ließen sich fotografieren, Sympathisanten hängten die Plakate an ihre Privatbalkone. Ayalon: "So haben wir Jerusalem die Frauen zurückgegeben.“

Der israelische Kulturkampf steht wohl erst am Anfang. Das Internet ist in der Hightech-Nation Israel ein wichtiges Schlachtfeld. Anastassia Michaeli erfuhr dies jüngst auf der eigenen Facebook-Seite. Am Tag, nachdem die Abgeordnete ihr Muezzin-Bann-Gesetz vorgestellt hatte, schickten ihr Hunderte Palästinenser elektronische Morgengebete. "Allahu akbar …“, riefen Muezzine in den YouTube-Clips: "Gott ist groß.“

Dass sie nicht nur verbal ausfällig werden kann, bewies Michaeli am Montag in der Knesset, dem israelischen Parlament. Sie überschüttete den arabisch-israelischen Abgeordneten Ghaleb Majadele mit einem Glas Wasser. Der Grund: Michaeli war während einer Debatte bei einer Sitzung des Bildungs-, Kultur- und Sportausschusses als “Faschistin” und “dreist” bezeichnet worden. Majadele hatte sie zudem aufgefordert, den Mund zu halten, weil er sich bei einem Statement unterbrochen fühlte.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz