„Junge Frauen werden gestohlen wie Ziegen“

Interview. Ehemalige kirgisische Außenministerin Rosa Otunbajewa über die Lage in ihrem Land

Drucken

Schriftgröße

Interview: Marianne Enigl

profil: Als vor fünf Jahren die „Tulpenrevolution“ das Regime des damaligen Präsidenten wegfegte, haben Sie Kirgisistan als „demokratische Avantgarde“ in Zentralasien bezeichnet. Wie sehen Sie die Situation heute?
Otunbajewa: Wir haben einen dramatischen Rückfall erlitten. Von einer teilweise freien sind wir wieder zu einer unfreien Gesellschaft geworden. Es gibt eine ganze Serie von Gewalt und politischer Verfolgung Oppositioneller. Der jüngste Fall ist der Mord am unabhängigen Journalisten Gennady Pavlyuk im Dezember 2009, vor Kurzem ist der ehemalige Verteidigungsminister zu acht Jahren strenger Haft verurteilt worden – ein Beispiel für die politische Rache, die Präsident Kurmanbek Bakijew an seinen Opponenten übt. Wirtschaftlich liegt unser Bruttonationalprodukt unter jenem von 1991. Alle Kredite und Unterstützungen von internationalen Organisationen haben bisher keinen Effekt gehabt.

profil:
Woran liegt das?
Otunbajewa: Es liegt vor allem an der Schattenwirtschaft, die bei uns 60 Prozent der Ökonomie ausmacht, und an der riesigen Korruption. So zahlen etwa die USA jährlich 60 Millionen Dollar für den Militärstützpunkt, aber wir wissen nicht, wo das Geld ist. Nichts davon ist transparent. Vielleicht ist es ins Budget geflossen, vielleicht haben die Regierenden es für sich verwendet. Das Gleiche gilt für die Gelder, die kanadische Unternehmen für Gold-Schürfrechte zahlen. Eine Folge dieser Verhältnisse ist die ständig steigende Arbeitsmigration. Von den etwa sechs Millionen Einwohnern Kirgisistans arbeitet bereits eine Million anderswo, etwa in Russland. Zurück bleiben die Kinder und Jugendlichen, sie leben bei Großeltern, aber niemand kümmert sich um sie. Immer mehr dieser jungen Leute werden nun in den Drogenschmuggel verwickelt. Da eine der Schmuggelrouten aus Afghanistan durch unser Land führt, haben auch wir die Folgen des Afghanistan-Krieges zu tragen.

profil:
Kirgisistan ist diesen Phänomenen hilflos ausgeliefert?
Otunbajewa: Unsere Staatsinstitutionen sind völlig ineffizient. Ein Grenzsoldat hoch oben in den Bergen verdient etwa 100 Dollar im Monat – dafür, dass er vor dem Drogenhandel die Augen verschließt, bekommt er ein paar Gramm Heroin und kann davon ein ganzes Jahr leben.

profil:
Aus Kirgisistan gibt es zahlreiche Berichte über Brautraub, die Entführung junger Frauen zum Zwecke einer Zwangsheirat.
Otunbajewa: Die Lage der Frauen auf dem Land ist dramatisch. In Kirgisistan sind im vergangenen Jahr laut offiziellen Zahlen 80 Prozent der Frauen vor der Heirat gekidnappt worden.

profil:
Was sind die Gründe dafür?
Otunbajewa: Junge Frauen werden gestohlen wie Ziegen. Man braucht sie als Arbeitskräfte, da wegen der hohen Arbeitsmigration zu wenige Menschen da sind, um für die Familien zu sorgen und das Land zu bebauen. Und immer öfter haben Männer zwei und drei Frauen.

profil:
Es hat sich ja selbst ein kirgisischer Justizminister für die Legalisierung der Polygamie eingesetzt.
Otunbajewa: Er ist nicht mehr im Amt, aber Polygamie nimmt in Kirgisistan zu. Immer mehr reiche Leute haben drei, vier Frauen. In der Privatisierung sammelten sie Unternehmen und Immobilien an, zur Verschleierung verteilen sie das Vermögen auf ihre Frauen. Es gibt auch Minister, die in Polygamie leben. Sie finden das überall in Zentralasien. Wer Geld hat, hat heute mehrere Frauen.

profil:
Heißt das, dass Polygamie sich vor allem in der Oberschicht ausbreitet?
Otunbajewa: Es gibt sie in allen sozialen Schichten. Polygamie ist verschwiegener Alltag, niemand verurteilt sie. Es ist kein öffentlicher Skandal, wie das Verhältnis von Monica Lewinsky und Bill Clinton es war. Es kommen zwar immer wieder Fälle an die Öffentlichkeit, aber es gibt auch viele Frauen, die Polygamie unterstützen. Eine ihrer Begründungen ist, Polygamie sei besser als die Ausbreitung von Prostitution. Tatsächlich ist sie eine vielfache Verletzung von Menschenrechten der Frauen, denn ihre rechtlichen Ansprüche sind völlig ungeklärt, ihre Kinder haben nicht einmal einen richtigen Familiennamen.

profil:
Sie waren mehrmals Außenministerin Ihres Landes, jetzt sind Sie sozialdemokratische Abgeordnete und offene Kritikerin der politischen Verhältnisse. Haben Sie keine Angst vor Verfolgung?
Otunbajewa: Ich bin von Leuten aus dem Regierungsumfeld gewarnt worden, dass sie sich um mich Sorgen machen. Aber ich werde weiter offen meine Stimme erheben, jemand muss es tun. Die Lebensbedingungen in unserem Land sind so hart, man hat die Preise für Elektrizität, Wasser, Heizung, Telefon drastisch angehoben. Wir rufen dazu auf, weiter die alten Tarife zu zahlen. Die Menschen können sich das nicht mehr leisten, sie sind wütend, aber sie haben Angst vor der Regierung und vor dem Sicherheitsapparat.

profil:
Die Europäische Union hat vor Kurzem offiziell ihre Besorgnis über die Anschläge auf Oppositionelle und Journalisten in Kirgisistan geäußert, Ihre Regierung aber feiert im März den fünften Jahrestag der Revolution.
Otunbajewa: Wir wollen schon davor Menschen aus dem ganzen Land zu einer Demonstration versammeln. Da uns die Regierung keinen Raum gibt, werden wir das auf der Straße veranstalten. Ich fürchte, die Polizei wird gegen uns vorgehen.

Rosa Otunbajewa
59, war mehrmals Außenministerin ihres Landes, das eines der ärmsten in Zentralasien ist. Vor der „Tulpenrevolution“ 2005 gelang es ihr, die Opposition gegen den autokratischen Präsidenten Askar Akajew zu einen, der aus dem Amt gefegt wurde. Dem seither regierenden Staatspräsidenten Kurmanbek Bakijew werden, wie seinem Vorgänger, Vetternwirtschaft und eine Politik der harten Hand vorgeworfen.