„Ein Koloss von Würstchen“

Karl May: „Ein Koloss von Würstchen“

Karl May. Glossar zum 100. Todestag des manischen Vielschreibers

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Ein Leben im Schnelldurchlauf

25. Februar 1842: Karl Friedrich May wird als fünftes von 14 Kindern des Webers Heinrich August May und dessen Frau Christiane Wilhelmine im sächsischen Ernstthal geboren

1856–1861: Ausbildung zum Lehrer

September 1862: erste Haftstrafe wegen Diebstahls

8. Juni 1865: Verurteilung zu vier Jahren Arbeitsgefängnis in Zwickau

2. Mai 1874: Ende einer weiteren vierjährigen Haft in der Gefängnisanstalt Waldheim

Ab 1874: Arbeit als Verlagsredakteur, erste selbstständige Veröffentlichungen

9. April 1899: May betritt erstmals außereuropäischen ­Boden im ägyptischen Port Said

5. September 1908: May tritt seine erste USA-­Reise an

30. März 1912: Karl May stirbt in Dresden


Selbstauskünfte eines
Schriftstellers


„Meine Gestalt ist schlank, sehnig – ich bin 166 Zentimeter hoch und wiege 75 Kilogramm. Ich rauche gern und spiele alles, finde aber keinen Genuss dabei. Ich bin musikalisch und geige, blase und streiche die meisten Instrumente, keines aber mir zur Genüge. Ich tanze alle Tänze, doch nur, wenn ich muss; lieber bin ich Mauerblümchen. Dunkelblau ist in Beziehung auf meinen Anzug meine Lieblingsfarbe. Meine Lieblingsspeise ist Brathuhn mit Reis, mein liebstes Getränk Magermilch.“

Ich bin viele

Nach seiner unehrenhaften Entlassung aus dem Schuldienst zieht May in den Jahren 1864 und 1865 als Landstreicher umher, verdingt sich als Musikant und tritt als Trickbetrüger unter Tarnnamen auf. Ein Best of: Dr. med. Heilig, Seminarlehrer Lohse, Hermes Kupferstecher, Leutnant von Wolfrahmsdorf, Albin Wadenbach, Plantagenbesitzer von der Karibikinsel Martinique. Die Behörden sehen die Causa nüchterner. Auszug aus der in der „Leipziger Zeitung“ vom 31.7.1869 veröffentlichten Täterbeschreibung: „May ist 27 Jahre alt, 72 Zoll lang, schlank, hat längliches Gesicht und Nase, dunkelblondes, nach hinten gekämmtes Haar, schwachen Bartwuchs (trägt auch falsche Bärte), graue Augen, starren stechenden Blick, krumme Beine, ist geschlechtlich krank.“

Old Shatterhand, c’est moi

In den 1890er-Jahren beginnt der Schriftsteller an der „Old-Shatterhand-Legende“ zu spinnen. Mit wachsendem Ruhm und Vermögen verschwimmen Realität und Fiktion. Im Dezember 1892 erklärt May einem Fan: „Sie haben ganz richtig vermutet; ich erzähle nur wirklich Geschehenes, und die Männer, von denen ich erzähle, haben existiert oder leben sogar noch heute. Old Shatterhand z. B. bin ich selbst.“ Die exotischen Abenteuer seiner (ausschließlich am Radebeuler Schreibtisch imaginierten) Reiseromane beruhen nach May’scher Logik auf eigenem Erleben: „Ich hatte in Australien den Emu und das Känguru, in Bengalen den Tiger und in den Prärien der Vereinigten Staaten den Grizzly und den Bison gejagt.“ Im April 1896 lässt sich May von dem Linzer Amateurfotografen Alois Schießer in Old-Shatterhand- und ­Kara-Ben-Nemsi-Pose ablichten. Die Bilddokumente finden als Autogrammkarten Verbreitung und auch Eingang ins literarische Werk. Band III des „Old Shurehand“ (1896) enthält etwa eine ganzseitige Abbildung: „Old Shatterhand (Dr. Karl May) mit Winnetous Silberbüchse.“

Popstar

Mit „Mr. Shatterhand, Dresden“ adressierte Briefe fanden seinerzeit ebenso den Weg zu May, wie 1897 die Feuerwehr ausrücken musste, als der Literat in München Quartier nahm: Mit der Wasserspritze wurden die Menschenmassen aus­einandergetrieben, damit die Straßenbahn wieder fahren konnte. Jubelpost wie diese war für den Schriftsteller Alltag: „Seit Jahren lese ich Ihre Werke. Sie enthalten etwas Hohes und wirken wie die Bibel auf mich. Ich muss mein Herz voller Dankbarkeit gegen Sie ausschütten.“ May wurde geliebt, und er liebte zurück. Seinem Verleger gab er zur Umschlaggestaltung für seinen späten Roman „Weihnacht!“ die Anweisungen: „Die Hauptsache ist der Name May, der muss besonders in die Augen fallen, denn er ist es allein, welcher zieht. Steht er bloß auf dem Rücken, so ist es nichts. Die Käufer wollen zu Weihnachten weniger einen Weihnachts- als vielmehr einen Mayband haben.“ Besonders treue Leser erhielten von May „Blumen aus dem Gelobten Lande, welche mir mein lieber, hochwürdiger Freund, der Patriarch von Jerusalem, gesandt hat“, oder auch Haare vom Haupte Winnetous. Alle anderen mussten sich mit frühem Merchandising begnügen: 1894/95 erschienen im „Guten Kameraden“ 72 Karten zum Ausschneiden. Sie zeigten Figuren aus dem Karl-May-Œuvre und konnten als Schnippschnapp-Karten verwendet werden.

Fata Morgana

Im Jänner 1881 begann, unter dem schönen Titel „Giölgeda padishanün“ in dem Periodikum „Der Hausschatz“, die Geschichte der Karl-May-Gesamtausgabe. Besser bekannt ist das Werk heute als erster Band des „Orientzyklus“, „Durch die Wüste“, mit dem die 93-bändigen Gesammelten Werke des Bamberger Karl-May-Verlags anheben, ein Verlagsprojekt ohnegleichen: Die Verlagsgründerin, Mays zweite Ehefrau Klara, gab ihrem Geschäftspartner Euchar Albrecht Schmid freie Hand bei der Bearbeitung von Mays Werken, die dieser auch weidlich nutzte. Die Liste der Eingriffe in den grünen Bänden mit Goldprägung ist endlos: Mays Texte wurden, um dem veränderten Geschmack von Generationen von Lesern zu entsprechen, großzügig gekürzt, umgruppiert, eingedeutscht und umgeschrieben. Dramaturgische Ungereimtheiten wurden getilgt, sittlich anstößige Stellen gestrichen, neue Szenen eingefügt. Allein für „Winnetou I“ der Bamberger Ausgabe wurden 11.000 Varianten gegenüber der Erstausgabe gezählt. Winnetou ist eben nicht gleich Winnetou. Die „FAZ“ urteilte 1987 folgerichtig: „Es gibt Bände, in denen die Textverderbnis ein Ausmaß erreicht hat, dass ihnen die Autorschaft Mays zu unterstellen schon einer Fata Morgana gleicht.“

Sprachtalent

Der polyglotte May parlierte mit seinen exotischen Bekanntschaften standesgemäß in deren Idiomen. Die Angaben über seinen Sprachenschatz variieren, dem Publikum eines Vortrags in München berichtet er von 1200 Sprachen und Dialekten, die er beherrsche, in einer Verehrerpost-Beantwortung 1894 wird er konkreter: „Ich spreche und schreibe: Französisch, Englisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch, Lateinisch, Hebräisch, Rumänisch, Arabisch 6 Dialekte, Persisch, Kurdisch 2 Dialekte, Chinesisch 2 Dialekte, Malayisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, Türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, ­Snakes, Uthas, Kiowas nebst dem Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte. Lappländisch will ich nicht mitzählen.“


Bei seinem Sprachstudium bediente sich May vorzugsweise H. A. Pierers „Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit“ von 1843, das als Übersetzungsbeispiel durchgehend die ersten Worte des Vaterunsers verwendet, weshalb die Reiseromane des Radebeulers mit fremdländisch klingenden Gebetsvarianten durchsetzt sind. Auf Lappländisch lautet die entsprechende Stelle übrigens, auch wenn das nicht mitzählt: „Attje mijen, jukko leh almesne.“


Hitler, Adolf

Am 22. März 1912, acht Tage vor seinem Tod, hielt Karl May in den Wiener Sofiensälen einen pazifistisch grundierten Vortrag mit leicht missverständlichem Titel: „Empor ins Reich der Edelmenschen“. Mutmaßlich im Publikum: Adolf Hitler, gescheiterter Maler und Männerwohnheimbewohner. Über den Einfluss der May’schen Schriften auf Hitler wird bis heute spekuliert. Im April 1933 berichtete eine Münchner Zeitung von der Innenausstattung auf „Führers“ Obersalzberg: „Auf einem Bücherbord stehen politische und staatswissenschaftliche Werke, einige Broschüren und Bücher über die Pflege und Zucht des Schäferhundes, und dann – deutsche Jungens, hört her! –, dann kommt eine ganze Reihe Bände von – Karl May!“ Für Klaus Mann war der Zusammenhang zwischen Kolportageliteratur und NS-Ideologie evident. 1940 schrieb er in einer US-Zeitung unter dem Titel „Cowboy Mentor of The Führer“: „Das Dritte Reich ist Karl Mays endgültiger Triumph, die schreckliche Verwirklichung seiner Träume, die sich – nach allen ethischen und ästhetischen Kriterien – in nichts von dem unterscheiden, was der mit Old Shatterhand aufgewachsene österreichische Anstreicher jetzt versucht, um die Welt neu zu ordnen.“


Hitlers Chefarchitekt Albert Speer wiederum las May vor allem als Kriegsratgeber und merkte an, dass dieser für Hitler den Beweis erbracht habe, „dass es nicht notwendig sei, die Wüste zu kennen, um die Truppen auf dem afrikanischen Schauplatz zu dirigieren“; Winnetou sei „geradezu das Musterbeispiel eines Kompanieführers“.

Lennon, John

In John Lennons 1965 veröffentlichtem Textband „In seiner eigenen Schreibe“ findet sich ein bemerkenswertes Beispiel internationaler Karl-May-Rezeption: die Kurzgeschichte „Die berühmten Fünf im Nuggetberg“, in der unter anderen Winnetou, Hadschi Halef und das Pferd Rih auftreten. Im englischsprachigen Original tun sie das freilich nicht, hier begnügt sich Lennon mit Figuren aus dem Werk Enid Blytons. Die May-Verirrung beruht auf einer allzu bemühten Übertragung: Der Übersetzer befand offenbar, dass Blytons Werk im deutschen Sprachraum nicht den nötigen Bekanntheitsgrad aufweise, und ersetzte es durch jenes von Herrn May.


Freunde

Ernst Bloch: „Ich kenne nur Karl May und Hegel; alles, was es sonst gibt, ist aus beiden eine unreinliche Mischung.“

Carl Zuckmayer: „Was war es, und was ist es, das die Karl-May-Lektüre, damals wie heute, zu einer Droge der Selbstvergessenheit macht, in der gleichzeitig ein unfasslicher Antrieb, eine Stimulierung des eigenen Wunschbildes und Selbstvertrauens enthalten ist? Ich kann nicht umhin, den vielfach missbrauchten und missverstandenen Begriff des Mythos anzuführen.“

Hermann Hesse: „[Karl Mays Werk ist ein] Typus von Dichtung, der unentbehrlich und ewig ist.“

Peter Rosegger: „Vor Kurzem erhielt ich von einem Herrn Karl May, Redakteur in Dresden, eine Erzählung: ‚Die Rose von Kahira, ein Abenteuer aus Ägypten’. Diese Geschichte ist so geistvoll u. spannend geschrieben, dass ich mir einerseits gratuliere, anderseits Zweifel habe, ob das Manuskript wohl auch Original ist. Seiner ganzen Schreibweise nach halte ich ihn für einen vielerfahrnen Mann, der lange Zeit im Orient gelebt haben muss.“

Bertha von Suttner: „In dieser Seele lodert das Feuer der Güte.“

Hans Jürgen Syberberg: „Ich halte Karl May für einen großen Dichter, einen der letzten deutschen Großmystiker, die wir noch haben in der Zeit der untergehenden Märchen, den Schöpfer der einzig wahren Heldenlieder des Wilhelminischen Zeitalters.“

Martin Walser: „Warum habe ich Karl May gelesen, jahrelang? Weil ich mir rettbar vorkommen wollte, ob im Balkan oder in den Händen von Indianern.“

Arno Schmidt: „Ein Koloss von Würstchen.“

Kochen mit Karl

Dem 1975 im Karl-May-Verlag veröffentlichten Karl-May-Kochbuch verdankten deutsche Hausfrauen eine Reihe unschätzbarer Tipps für die Umsetzung einschlägiger Karl-May-Rezepte am heimischen Herd: Büffelbraten ließe sich, so die Herausgeber, durch Rinderlende ersetzen, Bärentatzen durch Hirschfleisch und Chilipulver durch Paprika edelsüß. Außerdem enthält der Band ein Faksimile aus Mays persönlichem Speiseplan „vom 5ten bis 12ten Februar“: „Leber oder Rindsroulade mit Kartoffelbrei – Reis mit Huhn – Petersilienwurzel mit Möhren oder Semmel – Karpfen mit Rotkraut – Wirsingkohl mit Fleisch resp. Koteletts – Milchhirse mit Sirup, Butterbohnen – Kalbsbraten.“

Weltrekord

Karl May verlangt seinen Verehrern Höchstleistungen ab. Vom 14. März bis zum 3. Mai 2011 glückt im sächsischen Mittweida das schier Unvorstellbare: der ganze MAY, ohne Pause. Schauspieler, Schriftsteller, Politiker, Studenten, insgesamt 1500 Unerschütterliche, lesen die gesammelten Werke des Autors, Band für Band, Satz für Satz: 51 Tage lang, rund um die Uhr, im Internet live übertragen, in einer kleinen Zelle, in der May als junger Mann einst inhaftiert war.

Karl May in Zahlen

Verkaufte Bände bis zu Mays Tod 1912:

rund 1,6 Millionen

Weltweite Gesamtauflage bis dato:

rund 200 Millionen in 40 Sprachen

Durchschnittliche Schreibleistung pro Jahr:

1430 Manuskriptseiten

Häftlingsnummer in der Strafanstalt Waldheim: 402

Zahl der Apachen, die May laut eigenen Angaben als Nachfolger Winnetous befehligte: 35.000

Bischöfe, Erzbischöfe und Fürstbischöfe, die in einer Annonce der Publikation „Hausschatz“ 1885 als May-Werbeträger aufgeboten wurden (und seine Arbeiten „als in jeder Beziehung empfehlenswerte Bücher für das katholische Haus“ empfahlen): 9

Bestand der Privatbibliothek von Karl May: 69 Bände Philosophisches, 120 zur Religion, 68 Kunstbände, 100 zur Literaturwissenschaft, 370 zu Erd- und Völkerkunde

Anzahl der Buchseiten, die der DDR-Bürger Heinz Thümller in den sechziger und siebziger Jahren auf einer Reiseschreibmaschine aus 21 geborgten Karl-May-Bänden abtippte und mit Klemmmappen mit nachgemalten Coverbildern versah: 11.933

Kaufpreis der „Villa Shatterhand“ in Radebeul, Kirchstraße 5 (heute: Karl-May-Straße): 37.300 Mark

Tauschwert von 51 Karl-May-Bänden und vier Jahrbüchern in der DDR anno 1974 (laut einer Kleinanzeige in der „Thüringischen Landeszeitung“): 1 Trabant.

Erste Worte

Die schriftstellerische Karriere des Hochstaplers May beginnt nachweislich im September 1872 im „Neuen deutschen Reichsboten“ vergleichsweise pessimistisch mit dem vierzeiligen Poem:

„Meine einstige Grabinschrift“:

„Ich war ein Dichter, ernst und heiter,

Das Schicksal spielte mit mir frech;

Mein ganzes Leben war nichts weiter,

Als nur ein großer – Klumpen Pech!“

Letzte Worte I

Winnetou, Band 3, der Häuptling der Apachen verabschiedet sich in die ewigen Jagdgründe und findet in den Armen Old Shatterhands seinen Gott: „,Schar-Iih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!‘ Es ging ein konvulsivisches Zittern durch seinen Körper; ein Blutstrom quoll aus seinem Munde; der Häuptling der Apachen drückte nochmals meine Hände und streckte seine Glieder. Dann lösten sich seine Finger langsam von den meinigen – er war tot!“ Es erklingt das Ave Maria („für gemischten Chor gedichtet und componiert von Dr. Karl May“): „Es will das Licht des Tages scheiden, es tritt die stille Nacht herein.“

Letzte Worte II

Ein Happy End: Der Kolportageroman „Waldröschen oder Die Verfolgung rund um die Erde. Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft“, 1882 verfasst von einem „Capitain Ramon Diaz de la Escosura“ (aka Karl May), mündet nach 2600 Seiten in ein glorreiches Finale: „Die Nebenpersonen des Romans haben den verdienten Lohn gefunden. Die Treuen und Gerechten genießen die Früchte ihres Handelns, die Schlechten sind verkommen oder gestorben. So will es Gott!“

Letzte Worte III

Ein Heldentod: Am 30. März 1912 stirbt Karl May in seiner „Villa Shatterhand“ in Radebeul mit den unsterblichen, von seiner zweiten Frau Klara überlieferten Worten: „Sieg, großer Sieg! Ich sehe alles rosenrot!“

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.