Katyn, Teil 2: Gerade in seinem Leid zeigt Polen, wie stark es ist
Unter den über 90 Toten befindet sich auch Ryszard Karczorowski, der greise ehemalige Chef der Exilregierung, die sich gegen die Nazi-Besatzung in London gebildet hatte und erst nach der Bildung der ersten nichtkommunistischen Regierung 1989 zu existieren aufgehört hat, und Anna Walentynowicz, die achtzig jährige Kranführerin der Lenin-Werft, deren Entlassung 1980 zur Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc geführt hatte. Die Tragödie des vergangenen Samstag spannt also einen großen geschichtlichen Boten. Vor allem das Dorf Katyn, in dessen Nähe die Regierungs-Tupolew zerschellte, verweist in geradezu unheimlicher Weise auf die polnische Historie. Der Symbolismus ist frappant. 1940, ließ Josef Stalin in den Wäldern von Katyn mehr als 20 000 polnische Offiziere und Intellektuelle ermorden. Auch jetzt hat das Land mit einem Schlag einen Teil der Elite des Landes eingebüßt.
Jahrzehnte hindurch hatten die Sowjets Katyn den Nazi-Deutschen in die Schuhe geschoben. Erst jetzt, zwanzig Jahre nachdem Michail Gorbatschow die russische Schuld am Massaker von 1940, eingestanden hat, nahm der russische Premier Wladimir Putin vergangene Woche an einer Katyn-Gedenkfeier teil. Eine zweite Zeremonie in Erinnerung an das Verbrechen von damals wollten Kaczynski und die anderen polnischen Würdenträger am Samstag begehen. Sie kamen nicht mehr dazu.
Das ist Katyn, Teil 2, sagte Lech Walesa, der einstige Revolutionsführer und einer der Vorgänger Kaczynskis als Staatspräsident, zur Tragödie.
Die Trauer um Lech Kaczynski darf sich freilich in Grenzen halten. Zumindest seit sich der Verdacht erhärtet, dass der Präsident mit am Absturz schuld sein könnte. Bereits einmal hat er - vor einem Jahren in Tiflis - versucht, einen Piloten, trotz schlechter Sichtverhältnisse, zur Landung zu überreden. Der weigerte sich. Diesmal hat der Pilot der Regierungsmaschine trotz mehrfacher Warnung des Flughafens offenbar nach langem Zögern dem präsidentiellen Drängen nachgegeben. Mit den fatalen Folgen.
Aber auch sonst gibt es wenig Anlass, Elogen auf den Verstorbenen zu singen. Als einen großen lebenslangen Patrioten beschreibt ihn nun Adam Michnik, der führende Dissident in der kommunistischen Ära und spätere Herausgeber der liberalen Tageszeitung Gazeta Wiborcza. Viel mehr Positives fällt Michnik zum jetzt verunglückten Kaczynski, mit dem er einst im Rahmen der Opposition gegen die KP-Diktatur zusammengearbeitet hatte, nicht ein.
Tatsächlich repräsentierte Lech Kaczynski gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Jaroslaw, der zwei Jahre Premierminister war das rückwärtsgewandte, hinterwäldlerische und antimoderne Polen, nicht das gute Polen, als dessen Repräsentant er jetzt in so vielen freundlichen Nachrufen aufscheint. Die von den Brüdern 2001 gegründete erzkonservativ-katholische und nationalistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) kämpft gegen Europa, gegen Liberalismus und Big Business, gegen alle möglichen linken Verschwörung und dunklen Mächte und machte alles, um eine Versöhnung mit den polnischen Erzfeinden der Vergangenheit Russland und Deutschland zu hintertreiben.
2005 an die Regierung gewählt, koalierte die PIS mit noch weiter rechts stehenden katholischen und antisemitischen Fundamentalisten. Als es darum ging, die Stimmverteilung in den EU-Institutionen neu zu bestimmen, verlangten die Kaczynski-Brüder ein größeres Gewicht für Polen. Ihre historisch nicht ganz unstimmige, politisch aber absurde Argumentation: Hätten die Deutschen unter Hitler nicht so massenhaft Polen ermordet, das Land wäre heute um zig Millionen bevölkerungsreicher.
Lech Kaczynski wurde ein Jahr nach dem Beitritt Polens zur EU Präsident, aber er verhandelte lieber mit George W. Bush als mit Brüssel. Er drängte Washington, Teile des von Bush geplanten (und vergangenes Jahr von Barack Obama abgesagten) Raketenschildes in Polen aufzustellen, um die Sicherheit seines Landes gegenüber Russland zu erhöhen. Er war überall dabei, wenn es darum ging, Moskau zu provozieren. So betätigte er sich etwa als Hauptlobbyist für die baldige Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato. Und inmitten des russisch-georgischen Kriegs des Jahres 2008 reiste er demonstrativ nach Tiflis.
Verständlich wird der antirussische und antideutsche Affekt der Brüder aus deren Biographie. Ihre Eltern erlebten 1944 als Widerstandkämpfer gegen Nazideutschland wie der Warschauer Aufstand erbarmungslos niedergeschlagen und die polnische Hauptstadt systematisch zerstört wurde, während die Rote Armee am Ostufer der Weichsel tatenlos zusah. Diese Familiengeschichte war für die Kaczynskis zweifellos prägend.
Nur kurze Zeit freilich machten die Polen deren rechtsnationalen Kurs mit. Die PIS-Regierung unter der Führung von Jaroslaw Kaczynski wurde nur ein Jahr nach ihrer Bildung abgewählt. Nachfolger als Premier wurde der rechtsliberale Ronald Tusk, der deklariert europäisch regiert und in der Politik gegenüber den großen Nachbarn auf Entspannung und Versöhnung setzt. Auch von Lech Kaczynski hatte sich das polnische Elektorat auch bereits abgesetzt: Bei den kommenden Präsidentenwahlen hätte er nicht einmal mehr ein Fünftel der Stimmen auf sich vereinigen können.
Trotz allem: Die Polen sind nun in ihrer nationalen Trauer vereint. Und die Welt trauert mit. Darein mischt sich aber auch Bewunderung für eine Nation, die trotz aller Tragödien immer wieder aufsteht. Nicht nur wurde das Land in den vergangenen Jahrhunderten mehrfach geteilt, zerrissen und der Selbständigkeit beraubt. Die Quasi-Gesamtheit ihrer intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Eliten wurden im Holocaust und im Krieg, von den Nazis und den Sowjets ausgerottet. Dann musste Polen vierzig Jahre kommunistische Diktatur erleben. Und wo steht das Land heute?
Es ist das einzige Land der EU, das von der Wirtschaftskrise nur marginal betroffen ist. Was aber noch wichtiger ist: Der plötzliche Verlust des Präsidenten, des Zentralbankchefs, des Militärführung und eines nicht kleinen Teils der politischen Klasse scheint das Land nicht zu destabilisieren. Die Staatsinstitutionen funktionieren. Verfassungsgemäß hat der Parlamentspräsident die Agenden des Staatspräsidenten übernommen. Der wird zu den Urnen innerhalb von 60 Tagen rufen. Das politische System scheint in keiner Weise erschüttert zu sein. Die demokratische Normalität ist nicht gefährdet.
Auch dürften bislang Verschwörungstheorien, wonach eigentlich die Russen hinter dem Absturz der Regierungsmaschine stehen, kaum die Runde machen. Was, bedenkt man die leidvolle Geschichte Polens, durchaus zu erwarten wäre.
Die Polen zeigen, gerade auch in ihrem Leid, eine beachtenswerte Reife.