Negativstapler

Kino. Woher kommt die Lust des österreichischen Films an der Obszönität?

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Hinter der schweren Metalltür im Keller seines Reihenhauses hält ein Versicherungsbeamter seinen Sexualpartner gefangen. Er verheimlicht dessen Existenz nicht nur, weil er ihn selbst entführt hat - das Objekt seines Begehrens ist zehn Jahre alt.

Zwei Crack rauchende mexikanische Huren entspannen sich halb nackt auf einem Bett, ihr von den Drogen schwerer Zungenschlag behindert die kleine Plauderei merklich, die forcierte gute Laune betont nur noch die Traurigkeit ihrer Situation, ihrer Chancenlosigkeit in einer Stadt, in der sie nichts als Billiglohnkörper sind.

Zwei Szenen aus dem neuen österreichischen Kino, einmal kalt, einmal heiß - und zweimal obszön: Markus Schleinzers Spielfilm "Michael“, der im Mai in Cannes Aufsehen erregte, malt die erschreckende Routine des Zwangszusammenlebens eines Pädophilen und seines Opfers in allen Details aus. Michael Glawoggers dokumentarisches Triptychon "Whores’ Glory“, eine Bestandsaufnahme der sehr verschiedenen Formen der Prostitution in Thailand, Bangladesch und Mexiko, bietet Innenansichten vom ruinösen Frauenleben in Glasschaukästen und Bordell-Slums. Diese Woche wird "Whores’ Glory“ im Rahmen des Filmfestivals in Venedig erstmals der Öffentlichkeit präsentiert, bereits Ende kommender Woche wird der Film in Österreichs Kinos starten. Das Interesse an seinem dritten Weltreisefilm nach "Megacities“ (1998) und "Workingman’s Death“ (2005) ist schon jetzt enorm: auch deshalb, weil Glawoggers Hohelied an die Prostitution mancherorts auf Unverständnis stößt. Tatsächlich ist der bewundernde Blick des Filmemachers auf seine Protagonistinnen auch eine Irritation, eine Zumutung, die Glawogger in der Folge aber produktiv macht, indem er den Glamour, den er für sein Sujet beansprucht, um die Melancholie und die Tristesse erweitert.

Deprimierende Bilder und schockierende Erzählungen haben im heimischen Autorenfilm längst Tradition. Österreich sei so etwas wie "die Welthauptstadt des feel-bad cinema geworden“, war in der "New York Times“, die damit ihrerseits bereits das US-Branchenblatt "Variety“ zitierte, vor ein paar Jahren zu lesen. Tatsächlich besitzt die hiesige Filmszene, wenn man die großen Festivals und die Feuilletons internationaler Qualitätszeitungen als Gradmesser nimmt, Weltgeltung, weil sie wiedererkennbare stilistische und thematische Linien verfolgt, ein spezifisches Kino des Unwohlseins produziert. Österreichs Autorenfilm ist, von Michael Haneke bis Ulrich Seidl, von Barbara Albert bis Michael Glawogger, zu einer Trademark geworden - in der auch die Gefahr der bloßen Bedienung eines nach Debattenstoff und Depressionsspektakeln gierenden Festivalmarkts liegt.

Der neue österreichische Film wurde in diesem Sinn 1989 auf den Weg gebracht: Damals legte Michael Haneke, bereits 47-jährig, seinen ersten Kinofilm vor - "Der siebente Kontinent“, das Protokoll einer Selbstauslöschung, wurde nach Cannes eingeladen, Hanekes Karriere von da an steil aufwärts manövriert. Das jähe Ende der bürgerlichen Existenz als Horrorvision: Davon berichtet Haneke in seinen Filmen unaufhörlich. Nach der Premiere, so erinnert sich der Regisseur, hätten ihn Kollegen und Zuschauer aus aller Welt entgeistert gefragt, ob Österreich tatsächlich "so entsetzlich sei“, wie er es in seinem Film zeige; er habe auf diese Frage nur antworten können, dass sein Film nicht von Österreich handle, sondern viel allgemeiner "von jeder hoch industrialisierten Kultur“.

Wie sehr sich Haneke jedoch seit je an seiner Heimat abarbeitet, belegt ein Fundstück aus dessen vorfilmischer Karriere: Über den Schauplatz in Thomas Bernhards frühem Roman "Verstörung“ schrieb der junge Literaturkritiker und Existenzialist Michael Haneke 1967 folgende Worte, die auch auf seine späteren Filme anwendbar wären: "Die steirische Landschaft dominiert, immer bedrohlich, beängstigend. Die Krankheit scheint sich aus ihr zu konstituieren, heimtückisch und unabwendbar. Die Situation der in ihr Existierenden ist in jedem Fall hoffnungslos, von ihr auf die Vernichtung, den Selbstmord hin konzipiert. Der Suizid ist die natürliche Todesgattung der in ihr Großgewordenen.“

"Wir wollen unser Publikum nicht nur zufriedenstellen“, meint die Filmemacherin Barbara Albert ("Böse Zellen“). "Manchmal wollen wir ihm auch wehtun, es so zum Denken bringen.“ Mit dem Begriff feel-bad cinema kann Glawogger dennoch nichts anfangen: "Ich bin ausgezogen, Filme über die Schönheit des Menschen zu machen. Wie er sich dabei fühlt, muss ich dem Betrachter überlassen. Ich kann mich dabei nicht schlecht fühlen.“ In "Whores’ Glory“ seien "schöne Menschen“ zu sehen, "und durchaus nicht nur äußerlich: Es sind Frauen, die mit Herz von etwas berichten, vor dem sich viele fürchten, was vielen fremd ist. Deshalb ist es für mich ein Horror, wenn mir Leute sagen, meine Filme seien deprimierend oder sie zeigten ihnen nur Grauen. Ich kann das nicht verstehen. Mich packt das Grauen eher, wenn ich ein Einfamilienhaus in der Vorstadt sehe.“

Die Frage, ob es wichtig sei, radikale Filme zu machen, beantwortet etwa Ulrich Seidl mit einem schlichten Ja. Wichtiger noch: "Sehr physisch“ müssten seine Filme sein. "Nur wenn es wirklich körperlich ist, kann man Kino tatsächlich spüren.“ Glawogger sieht das ähnlich: "Ich glaube an Authentizität. In meinen Filmen wird man nie den Eindruck haben, jemand tue etwas für die Kamera, das er sonst nie tun würde. Meine Art von Kino ist radikal persönlich - und in völligem Konsens mit den Menschen, die ich filme.“

Die Radikalisierung des österreichischen Films ist indes nur im politisch-historischen Kontext wirklich zu verstehen. Sie begann bereits wenige Jahre nach 1945, hängt eng mit Österreichs historischer Mitschuld am Holocaust zusammen. Das Kino - vor allem auch Peter Kubelkas sinnlich attackierende Werke - gehörte in den fünfziger Jahren zu den treibenden Kräften der künstlerischen Entnazifizierung, die bildende Kunst zog mit dem Wiener Aktionismus nach, der wiederum in den Avantgardefilm zurückschlug: Kurt Kren setzte in seinem Film "10/65 Selbstverstümmelung“ eine Performance des Künstlers Günter Brus in Szene, der sich als Leidensfigur mit Klingen und Brechstangen zu Leibe rückt, sich mit ersterbenden Bewegungen im hellen Kunstschlamm wälzt: ein Werk des Selbstverletzungspathos, fast ein Horrorfilm.

Seit den neunziger Jahren reagiert der österreichische Film auch auf die rechtspopulistische Politik, die inzwischen zum Mainstream geworden ist. Eine Antwort des Kinos auf die schwarz-blaue Regierung war "Die Klavierspielerin“ (2001), Hanekes Adaption jenes nihilistischen, sprachlich so virtuosen Romans Elfriede Jelineks - eine kalkulierte Perversion des Bürgerlichen, des Katholizismus und des spezifisch wienerischen Klassikbetriebs. Das Obszöne erfüllt dabei eine politische Funktion. Es sei, schreibt Jelinek, "dann gerechtfertigt, wenn man den Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Unschuld nimmt und die Machtverhältnisse klärt“. Die Politik der österreichischen Filmkünstler ist somit nicht eine der Parteien, sondern eine der Bilder: Sie sind Oppositionelle der filmischen Form.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.