Kochen: Der Herd-Trieb
Feeling, meine Herrschaften, ein bisserl mehr Feeling“, brüllt Toni Mörwald, „da fehlt doch jede Harmonie. Gott, seids ihr schlampert!“ Dann fegt der Meister wie ein Rumpelstilzchen durch seine „brandneue High-Tech-Küche“. Die beiden Kochelevinnen stellen die Drescharbeiten an ihren Wildfiletstückchen mit betretener Miene ein und überantworten ihrem Kommandanten den Fleischklopfer. „Wilde Zeiten – wildes Kochen“ hat „Speedy Toni“, so Mörwalds Branchenspitzname, seine jüngste Mission betitelt.
Austragungsort ist das Restaurant „Zur Traube“ im niederösterreichischen Feuersbrunn, das Herzstück der weit verzweigten Gastro-Unternehmensgruppe Mörwalds, der das Handwerk einst bei Starkoch Reinhard Gerer lernte. Für 88 Euro lassen sich hier jeden Mittwoch 20 Genussaspiranten auf höchstem Niveau demütigen. Mörwalds Kochkurse erfreuen sich hitziger Nachfrage. Besonders seit „dieser Jamie Oliver zu einer Art Legende geworden ist“. Dem sei, so Mörwald, „zu verdanken, dass eine neue Wertschätzung für gutes Essen die Runde macht“.
„Lernen kann ich hier eigentlich nichts mehr“, erklärt der Wiener Physiker und 40fache Mörwald-Wiederholungstäter Hans Erich Goldstein, „aber es ist eine Riesenhetz!“ Inzwischen bietet nahezu jeder Haubenträger Kochkurse für von der Leidenschaft der Nachahmung beseelte Dilettanten an.
Kochen, bis vor zehn Jahren entweder alltägliche Notwendigkeit oder Hobbyritual abgehobener Gourmet-Enthusiasten, erobert den Mainstream. Studenten, bislang eine auf Chili con Carne und Spaghetti Carbonara abonnierte Spezies, tun es. Vom Burnout zerrüttete Manager tun es, um ihre Seele zu entspannen. Berufstätige Mütter tun es wieder. Karrierecoaches scheuchen ihre Klientel im Rahmen von Wochenendseminaren an den Herd, um anhand des Kochverhaltens Rückschlüsse auf die Berufspsyche der Ratsuchenden zu ziehen.
Die NLP-Trainerin Gabriele Albeseder arbeitet zum Beispiel bei ihren Manager-Workshops „Erfolgsküche“ nach diesem Prinzip. „Wenn einer sein Revier in der Küche mit Messern und Zähnen verteidigt“, erklärt sie, „hat er sicher auch im Job Konkurrenzangst. In der Küche ist es einfach leichter, allfällige Krisenherde präventiv zu bereinigen.“
Kochboom. In jeder Volkshochschule kann man im Kollektiv brutzeln und schmoren. Kochbücher sind inzwischen die verlässlichsten Langzeit-Seller auf dem Buchmarkt. Jamie Olivers Zweitling „Genial Kochen mit …“ verkaufte sich im deutschsprachigen Raum 280.000-mal; die zweibändige „Gute Küche“ von Rindfleischgastronom Ewald Plachutta und profil-Gourmetautor Christoph Wagner wurde bereits über eine halbe Million Mal abgesetzt. Auf allen TV-Kanälen wird – vom kampfsportorientierten „Kochduell“ bis zu Bioleks italophiler Selbstdarstellungsshow „Alfredissimo“ – gerührt und geschüttelt, was das Zeug hält.
Der vergangene Woche erschienene Lebensmittelbericht des Landwirtschaftsministeriums belegt die neue Gaumenwachsamkeit der Österreicher. Mit 68 Prozent hat die Verwendung von Bio-Lebensmitteln im Vergleich zu 1996 um 14 Prozentpunkte zugenommen. Als wesentliches Kriterium beim Einkauf von Lebensmitteln rangiert mit Abstand am häufigsten „Frische“, gefolgt von „Naturbelassenheit“. Die Mission der ursprünglich italienischen „Slow Food“-Bewegung, die die Wahrung von Tradition und Authentizität im Lebensmittelsektor zum Ziel hat und inzwischen 30.000 Mitglieder weltweit zählt, macht sich auch hierzulande mit Verspätung bemerkbar. Unverändert wird in jedem zweiten österreichischen Haushalt täglich einmal gekocht, wobei der Kochstil „sehr sorgfältig und aufwändig“ von elf Prozent „immer“ und von 28 Prozent „häufig“ praktiziert wird.
Der britische Koch Jamie Oliver (siehe Interview), inzwischen Schutzheiliger eines neuen Hedonismusgefühls, mag mit seinen TV-Shows „The Naked Chef“, „Oliver’s Twist“ (derzeit im ORF) und „Oliver’s Kitchen“ (RTL 2) möglicherweise nicht bahnbrechend, aber mit Sicherheit beschleunigend für die Heranbildung einer neuen Essklasse gewirkt haben. Sein Kampfschrei „Jeder kann kochen! Gutes Essen ist eine demokratische Angelegenheit“ hatte europaweit eine Reduktion der Herdangst zur Folge. Oliver befreite die Kochkultur vom Elitegedanken und leistete für das Essbewusstsein, das, was IKEA in den achtziger Jahren für die Wohnkultur getan hat.
Nathalie Pernstich betreibt Wiens einzige Kochbuchhandlung „Babette’s“. In der Übungsküche des Buchladens werden auch Kochkurse abgehalten. Pernstich sieht den Oliver-Effekt naturgemäß positiv: „Er hat den Menschen gezeigt, dass man mit wenigen frischen Zutaten schnell und billig kochen kann. Er ist der Popstar, der auch die Nichtköche zu den Kochtöpfen lotst.“
Mann am Herd. Bei ihren Lehrgängen beobachtet Pernstich ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis. Eine Proportion, die, so der Lebensmittelbericht, nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht. Im Vergleich zu 1996 stieg die Zahl der Herren am Herd nur marginal. Regelmäßig kochen in Österreich noch immer 67 Prozent der Frauen und bloß neun Prozent der Männer. Nur am oberen Rand einer hauptsächlich in Kreativberufen tätigen Mittelschicht greift der Mann verstärkt zum Edelstahltopf.
„Männer kochen hauptsächlich, um sich wichtig zu machen“, erklärt der in Wien lebende Vorarlberger Maler Miguel Henz, der dreimal am Tag kochend das Universum neu erfindet. „Sie wollen sich damit in Pose werfen.“ Für Henz selbst gilt dieses harsche Urteil natürlich nicht. Er kocht, weil er gar nicht anders kann: „Es ist Kreativität und Meditation in einem. Ich arbeite mit dem Herzen.“
Während auf dem Herd ein Wildschweinragout für eine Pasta köchelt, hirscht Henz immer wieder zu seinem Kühlschrank, um die Schönheit von in Meersalz eingelegtem weißem Schweinespeck, irischen Scampis und dieser speziellen Maronisorte zu demonstrieren. In jahrelanger Kleinarbeit hat er sich ein Versorgungsnetzwerk gewoben, „wo ich Dinge wie zum Beispiel wilden Steinbutt kriege, die erst gar nicht zum Normalverbraucher kommen“. Seine Frau, eine Soziologin, schüttelt nur den Kopf: „Ich kann nicht begreifen, dass man sich über Stunden mit Dingen beschäftigen kann, die dann in zehn Minuten aufgegessen sind.“ Henz hört erst gar nicht hin und referiert über das Geschmacksaroma von im Ofen geschmorten Niedertemperatur-Kirschentomaten mit der Inbrunst, mit der Männer ansonsten nur über gelungene Golfschläge, unerreichbare Frauen oder italienische Sportwagen schwärmen.
Obers oder Butter. Eine Geisteshaltung der enthemmten Leidenschaft, die auch der „Gumpendorfer Dunstkreis“ verinnerlicht hat. Mittwochs kocht diese aus Werbeagenturmitarbeitern, Journalisten und PR-Leuten bestehende Männer-Kochtruppe nie, „denn da ist der Fisch am Markt alt“, erklärt das Gründungsmitglied Walter Osztovics. Einmal wöchentlich trifft sich der „Dunstkreis“ zum mehrgängigen Gelage. Quasi als Vorspiel pirscht jeder für sich davor durch den Naschmarkt; wobei die Mitstreiter durch kontinuierlichen Handykontakt über die aktuellen Beutezüge auf dem Laufenden gehalten werden. „Andere Männer streiten sich über die besten Automarken“, seufzt Osztovics, „wir debattieren über Stunden die Glaubensfrage Obers oder Butter.“
Herbert Hacker, „Dunstkreis“-Mitglied und renommierter Gourmet-Journalist, sucht bei Wachteln mit sautierten Steinpilzen die Spaßqualität der Veranstaltung ins Licht zu rücken. „Wir versuchen, uns beim Kochen nicht zu wichtig zu nehmen“, erklärt er, „weil sonst grenzt das Ganze ja an Wixerei. Es gibt ja nichts Widerlicheres, als diese aufgeblasenen Typen, die um das Essen so einen Pseudokult entfachen.“
Die Hausse des Gourmetkults als Teil der obsessiven Selbstdarstellung einer Neo-Elite liegt inzwischen mehr als zwanzig Jahre zurück.
In der von Statussymbolsucht geladenen Dekade der achtziger Jahre wechselten Köche, zuvor allenfalls im Part der ulkig bemützten Verfeinerungsexperten zugange, in den Status von Popstars.
Plötzlich hießen Restaurants Gourmettempel, und die Männer an den dazu gehörigen Herden wurden zu überirdischen Geheimnisträgern und Dauergästen in den Medien. Diejenigen, die vom energetischen Willen, integrativer Bestandteil einer Elite zu sein, beseelt waren, pilgerten in die Tempelanlagen, um zu obszönen Preisen extravagante Materialien in sehr übersichtlichen Arrangements in weihevoller Ergriffenheit zu verzehren. Wie der Citoyen der Aufklärung schien das aus dem Wirtschaftswunder hervorgegangene Neo-Bürgertum das Sittenrepertoire der untergegangenen Aristokratie zu vereinnahmen, um sein frisches Selbstbewusstsein zu demonstrieren.
Der Pionier unter den Köchen, in Sachen Kombination göttlicher Selbstin-szenierung und genialer Küche, war der Franzose Paul Bocuse. Der Schüler des legendären Mère Brazier hob Mitte der sechziger Jahre am Stadtrand von Lyon die bürgerliche Küche auf drei Michelin-Sterne, rückte später aller „Nouvelle Cuisine“-Hysterie zum Trotz von seinem Stil nicht ab und begründete mit dieser Sturheit ein multimediales Imperium.
Notstandsgebiet. Mitte der sechziger Jahre war Österreich weit gehend esskulturelles Notstandsgebiet. Die historischen Wunden hatten auch in der Küche ihren Tribut gefordert. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die multikulturelle Küchen-tradition der Monarchie, die sich aus dem Nuancenreichtum der Kronländer stilistisch so prächtig genährt hatte, ihren ersten fatalen Kahlschlag erlitten.
Dem rassischen Reinheitsirrsinn des Nationalsozialismus fielen zwanzig Jahre später die letzten Reste österreichischer Kochkultur zum Opfer. Den Juden, die das Glück hatten, flüchten zu können, blieben in der neuen „Heimat“ die eigene Küchentradition mit Bagels und gefülltem Fisch oft das einzig mühelos transponierbare Identitätsrelikt. Eintopfsonntage, das arische Vollkornbrot und vom glühenden Vegetarier Hitler propagierte fettarme Kost überführten das Speisewesen, auch vor den kriegsbedingten Mangelerscheinungen, in eine funktionelle Lustfeindlichkeit.
Die Österreicher mussten also nach dem Wiederaufbau erst langsam wieder lernen zu essen, anstatt sich zu ernähren. In den sechziger Jahren dominierte noch die fetttriefende „Ratskeller“-Kost, die sich durch mit schlechtem Industriekäse Überbackenem mit Konservengemüsen und Dosenananas als Beigabe in schaurige Erinnerung ruft. Der US-Einfluss in Form von Tiefkühlkost und dem beginnenden Fast-Food-Trend dominierte die späten Siebziger. Für die sich langsam zu emanzipieren beginnenden Frauen hatten diese unter der Prämisse der Zeitökonomie stehenden Ernährungsme-thoden Befreiungssymbolcharakter. TV-Köche wie das ORF-Urgestein Ernst Faseth hatten damals allenfalls den Status von grundgütigen Onkels, die braven Hausfrauchen mit Apfel-in-das-Rotkraut-Ezzes auf die Sprünge helfen sollten.
Das akribisch zelebrierte Essen als Zeichensystem, das einer Neo-Elite dazu diente, sich von der Masse abzugrenzen, wurde erst in der Yuppie-Dekade der achtziger Jahre wieder salonfähig. Die Stars des neuen Gourmettrends waren Reinhard Gerer mit seinem „Korso“ , die Niederösterreicherin Lisl Wagner-Bacher, der Burgenländer Walter Eselböck („Taubenkobel“) und Helmut Österreicher im „Steirereck“. Dass Menschen längere Autofahrten auf sich nehmen, um im „Landhaus Bacher“ in Mautern das berühmte „Kaviarei“ zu verzehren, findet die Fünfsterneköchin Wagner-Bacher durchaus nachvollziehbar: „Beste Qualität kann nie übertrieben sein. Und es schmeckt wirklich köstlich! Im Übrigen will ich meine Gäste nicht erziehen. Wenn bei mir einer Gusto auf Eierschwammerln in Rahm hat, dann kriegt er die auch. Hauptsache, er ist glücklich.“
Inzwischen sieht die „Nouvelle Cuisine“ mit all ihrer hysterischen Dekadenz sowieso alt aus. So alt etwa wie ein schultergepolsterter Armani-Anzug oder ein Philippe-Starck-Stühlchen aus den Achtzigern.
Für den mündigen wie geläuterten Konsumenten markiert Lifestyle heute nicht mehr die Schnittstelle zwischen Luxus und schnöder Statussymbolik. Wahre Lebensart definiert sich durch Authentizität, Individualität, Qualitätsbewusstsein und sozialer Verträglichkeit. Die etikettensüchtige Soziologie erfand für jenen Menschenschlag, der das revidierte Wertesystem präsentiert, flugs ein neues Kürzel: „Bobos“, so die Kurzform, für „Bourgeois Bohemians“, sind ideologische Bastarde aus der Yuppie- und Hippie-Kultur. Bobos tragen H & M sowie Maßanzüge, finden es jedoch bescheuert, ein Monatsgehalt in ein Gucci-Teil zu investieren.
Bobos haben kein Problem, ihre Lofts zumindest partiell mit IKEA-Massenware zu bestücken, solange die Schweden dem Regenwald nichts Böses wollen. Bobos glauben an den Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, im Vordergrund stehen reale und soziale Werte. Bobos pfeifen deswegen auf ein trüffelberaspeltes Beuschel in Gerers „Korso“, sondern investieren lieber am Markt ihres Vertrauens ein kleines Vermögen in ein Stück Montebore-Käse aus dem Piemont, den eine betagte Bäuerin zur Pyramidenform geschichtet hat. Und deswegen steht dieser Menschenschlag auch so auf einen Typen wie Jamie Oliver, der laut in die Kamera brüllt: „Hey, Baby, heute machen wir den besten Tomatensalat der Welt!“
„Grauenhaft, wie dieser Oliver mit den Ellbögen in den Töpfen rumrührt“, meckert Wolfram Siebeck, siebzigjähriger Gastro-Scharfrichter des deutschen Wochenblatts „Die Zeit“, gegen die um sich greifende Nivellierung eines elitären Konzepts. „In seinem Fahrwasser tauchen so viele Nichtberufene auf, die in der Küche gar nichts zu suchen haben.“
Und das Schöne ist, dass den Nichtberufenen Ordnungsrufe solcher Art inzwischen so was von egal sind.