Der nächste Völkermord

Krieg in Syrien: Der nächste Völkermord

Syrien. Der Glaubensgemeinschaft von Diktator Assad droht ein Völkermord

Drucken

Schriftgröße

Schlimme Dinge werden geschehen“, sagt der Mann. „Die Leute fragen: Wer war es denn, der mein Haus zerstört hat? Wer war es, der mich eingesperrt und gefoltert hat? Wer war es, der meine Schwester geschändet und meinen Bruder ermordet hat?“

Der Mann, der das erzählt, nennt sich Abu Fares und ist ein syrischer Oppositioneller, der ins Ausland flüchten musste, aber immer wieder in das Grenzgebiet zur Türkei reist. Er weiß, was in den Flüchtlingslagern geredet wird, wo Zehntausende Vertriebene aus den Bürgerkriegsgebieten versuchen, irgendwie über den kalten, nassen Winter zu kommen. Und er kennt die Antwort auf diese Fragen, die eigentlich nichts anderes sind als Drohungen.

Wer war es? Die Alawiten.

Elite des Regimes
Mehr als zwei Millionen Alawiten leben in Syrien, mit rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung sind sie eine der großen religiösen Minderheiten des Landes – und für die Mehrheit der Syrer das personifizierte Böse.
Präsident Bashar al-Assad ist Alawit, ein großer Teil der Elite seines Regimes ebenfalls. Alawiten besetzen die Schaltstellen der Geheimdienste und der Armee. Sie sind es auch, aus denen sich die berüchtigten Shabiha-Milizen rekrutieren: Schlägertrupps, die jene Drecksarbeit erledigen, für die sich alle anderen zu schade sind in diesem Krieg, der bereits mehr als 80.000 Menschenleben gefordert hat – bislang überwiegend sunnitische Muslime.

Nicht alle Alawiten sind Täter. Aber viele Täter aufseiten der Diktatur sind Alawiten.

Mit dem immer weiter fortschreitenden Niedergang der Assad-Diktatur drohen sie samt und sonders zu Opfern zu werden. „Ich mache mir Sorgen, dass alawitische Gemeinschaften gefährdet sein könnten, den Preis für die begangenen Verbrechen der syrischen Regierung zahlen zu müssen“, drückt es Adama Dieng, UN-Sonderbeauftragter zum Schutz vor Völkermord, mit diplomatischer Vorsicht aus (siehe Interview hier).
Peter Galbraith – ehemaliger US-Spitzendiplomat mit langjähriger Erfahrung im Nahen Osten, auf dem Balkan sowie in Afghanistan und Pakistan – wird um einiges deutlicher. „Es besteht durchaus die Gefahr eines Genozids an den Alawiten“, sagt er gegenüber profil.
Ähnlich schätzt die Lage auch der Oppositionsaktivist Abu Fares ein: „Es herrscht ein immenser Rachedurst. Viele verabscheuen die Alawiten und wollen mit ihnen nicht mehr in einem Land zusammenleben.“
Es ist nicht nur ihre Verwicklung in die Verbrechen der Assad-Diktatur, die Syriens Alawiten so verhasst macht. Auch tief verwurzelte religiöse Konflikte und historische Traumata spielen dabei eine Rolle. Und das macht die Lage zusätzlich kompliziert.

Aufsteigender Faktor
Nach der Gründung des modernen Syrien hatten die Alawiten eine randständige Existenz in der heutigen Provinz Latakia gefristet, einem kargen Landstreifen an der Mittelmeerküste, den das Gebirgsmassiv Dschebel Ansariye vom Rest des Landes trennt. Die Ursprünge ihres Glaubens liegen im Dunkeln: Sie folgen einer Geheimlehre, die im Schmelztiegel der Kulte, Sekten und Religionen der Spätantike entstanden ist und unter anderem auch Elemente des schiitischen Islam enthält. Bis heute werden die Alawiten von sunnitischen Fundamentalisten nicht als Muslime betrachtet, sondern als Abtrünnige.

Diese Außenseiterposition machten sich die Franzosen zunutze, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs in den 1920er-Jahren große Teile der ­Levante kontrollierten. Sie hatten mit den Alawiten eine Soldateska zur Hand, die durch keine verwandtschaftlichen Beziehungen oder anderen Loyalitäten mit den damaligen Eliten Syriens verbunden war, den sunnitischen Muslimen.

So wurden die vormals armen, ungebildeten Provinzler nach und nach zum dominanten Faktor in den Streitkräften und damit auch in der Politik. Ihr Einfluss verfestigte sich mit der Machtübernahme durch Hafiz al-Assad im Jahr 1970: Der Luftwaffenpilot aus der Provinz Latakia führte Syrien in der Folge mit eiserner Faust, aber auch mit strategischer Raffinesse.
Unter der Herrschaft des alten Assad, der sich zunächst auf die säkulare Ideologie des arabischen Sozialismus berief, war Religionszugehörigkeit offiziell bedeutungslos. Gleichzeitig bevorzugte der Diktator seine alawitischen Glaubensbrüder völlig ungeniert, sorgte aber dafür, dass auch Angehörige anderer Konfessionen und Volksgruppen zumindest begrenzten Zugang zu Macht und Geld erhielten: Sunniten, die rund zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen, ebenso wie Christen, Drusen und andere.
Als der arabische Frühling im März 2011 auch Syrien erfasste, vollführte das Regime, mittlerweile mit Assads Sohn Ba­shar an der Spitze, einen Schwenk um 180 Grad: Religionszugehörigkeit wurde zum bestimmenden Thema. Die Regierung stilisierte die Demonstrationen zum islamistischen Kriegszug gegen den Staat hoch – und damit zum Überlebenskampf für Alawiten, Christen und andere Minderheiten. Wohl kaum zufällig wurden just in dieser Zeit Hunderte sunnitischer Extremisten, viele davon mit Kampferfahrung im Irak, aus syrischen Gefängnissen entlassen.
Was anfangs nicht mehr als Propaganda war, ist längst zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Aus friedlichen Demonstrationen für Reformen hat sich ein Religionskrieg entwickelt, der eine geradezu soghafte Wirkung auf Gotteskrieger aus aller Herren Länder ausübt.

„Es muss nicht dazu kommen"
Inzwischen sind Dschihadisten-Milizen dabei, der Freien Syrischen Armee (FSA) den Rang als wichtigste Kraft der Rebellion abzulaufen: Während die FSA aus einer Unzahl unkoordiniert agierender und vielfach unberechenbarer Gruppierungen besteht, zeichnen sich die Islamisten durch straffe Organisation und unkorrumpierbares Auftreten aus. Die schlagkräftigste dieser Truppen nennt sich Dschabhat ­al-Nusra li Ahl asch-Scham (Unterstützungsfront für das syrische Volk, kurz: Al Nusra).
Al Nusra unterhält offenbar enge Verbindungen zur Al Kaida im Irak. Und sie hat eine klare Agenda: Es geht gegen die Alawiten, aber weniger wegen ihrer Rolle im Regime als wegen ihres Glaubens.

„Al-Alawi a la taboot, wa al-Masihi a la Beirut“ – Alawiten in den Sarg, Christen nach Beirut: So lautet ein Slogan, der in den Bürgerkriegsgebieten schon lange vereinzelt zu hören war, inzwischen aber immer häufiger ertönt.

Bricht das Regime von Bashar al-Assad endgültig zusammen, droht den Alawiten aus allen Richtungen Gefahr: Die Dschihadisten wollen ihnen aus religiösen Gründen an den Kragen, die säkularen Rebellen aus politischen. Die Angehörigen von Zehntausenden Kriegsopfern sinnen auf Blutrache, kriminelle Banden auf Bereicherung.
Für einen Genozid an den Alawiten braucht es weder einen Befehl noch ­einen Plan – er kann aber aus einer Vielzahl unterschiedlich motivierter Übergriffe entstehen.

„Es muss nicht dazu kommen. Aber die internationale Gemeinschaft sollte sich dringend Gedanken über die Möglichkeit machen“, sagt US-Diplomat Galbraith gegenüber profil. „Die Vorgangsweise des Regimes hat die Wahrscheinlichkeit für ­einen Völkermord erhöht. Mit seinen Gräueltaten hat es die Alawiten dazu gezwungen, sich aus Furcht vor Rache auf seine Seite zu stellen.“

Inzwischen sind Hunderttausende Alawiten aus den großen Städten, wo sie Tür an Tür mit Sunniten zusammengelebt haben, geflüchtet. „Vor den Kämpfen waren sie in Damaskus, in Aleppo, überall. Aber wenn sie verfolgt werden sollten, nach dem Fall des Präsidenten, dann müssten sie nach Latakia zurück, ihre Ursprungsregion an der Küste“, erzählt ein syrischer Christ gegenüber profil. Dort sind Hotels und Ferienwohnungen ausgebucht. Es heißt aber auch, dass manche damit begonnen haben, in den Bergen des Dschebel Ansariye Bunker anzulegen.
Die Idee, die Alawiten könnten sich gänzlich in die Provinz Latakia zurückziehen, um dort einen eigenen Staat zu gründen und zu verteidigen, geistert bereits seit Beginn des Aufstands in Syrien herum. Auch US-Diplomat Galbraith kann ihr durchaus etwas abgewinnen: „Eine Möglichkeit, Massaker zu verhindern, wären Verhandlungen über eine Übergangslösung und ein Arrangement, das den Alawiten weiterhin die Teilhabe an der Macht erlaubt. Man kann auch über eine Dezentralisierung Syriens nachdenken, die sich an der Zeit der französischen Mandatshoheit orientiert: Damals gab es bereits einen Alawiten-Staat an der Küste. Das ist ja etwas, das auch die Kurden im Nordosten wollen.“

Doch selbst im Kernland der Alawiten, in dem es lange Zeit ruhig geblieben ist, hat der Krieg inzwischen Einzug gehalten. Rebellen sind bis auf wenige Kilometer an Qardaha, den Heimatort des Assad-Clans, vorgedrungen. Auch an die Hafenstädte Latakia und Tartus, wo sich eine russische Marinebasis befindet, rücken sie immer näher heran. Wichtige Verkehrsverbindungen in die Ballungsräume Syriens dürften bereits abgeschnitten sein.

Und je enger es um das Assad-Regime wird, desto enger wird es auch um die Alawiten.

Mitarbeit: Elisabeth Postl