Gezeter aus dem Grab

Mark Twains geheime Autobiografie

Literatur. Mark Twains geheime Autobiografie

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Selbst seine nächsten Anverwandten brachten Samuel Langhorne Clemens verschärftes Misstrauen entgegen. Die Mutter des Buben, der später unter dem Namen Mark Twain zum gefeierten Schriftsteller avancieren sollte, versuchte es mit Schönreden der notorischen Schwindelei ihres Sohnes: „Er ist die Quelle der Wahrheit, aber man kann mit einem Eimer nicht die ganze Quelle ausschöpfen.“ So nahm sie das Unabänderliche hin: „Ich mache zu dreißig Prozent Abstriche von wegen der Ausschmückungen, aber der Rest ist die vollkommene, unschätzbare, ungetrübte Wahrheit.“

Der Chronist, der sich hier, die eigene Mutter zitierend, der eigenwilligen Aufarbeitung seiner Jugend widmet, heißt Mark Twain, und er steht zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen als Mitbegründer der modernen US-Literatur in hohem Alter und Ansehen. Über 20-mal überquerte der 1835 geborene, 1910 in seinem Haus in Redding, Connecticut, verstorbene Autor den Atlantik zwischen Europa und Amerika, öfter als jeder andere Schriftsteller seiner Epoche.

Als komischer Kauz mit schlohweißem Haar und ansehnlichem, die fortschreitende Zahnfäule verbergendem Schnurrbart ist der Romancier und Reporter fix im Bildgedächtnis der Literatur verankert. Mit seiner die damals gängigen Erzählmethoden ironisierenden Darstellung der Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn zählte er nicht nur zu den großen ­Erneuerern des Jugendbuchgenres; ­Twain war auch ein Könner und Kenner der vielen Tonlagen und Kunstsprachen, ein Antinostalgiker und politischer Kopf, der gegen die Funktionsweisen der bürgerlichen Gesellschaft opponierte: Als Literatur noch weitestgehend als ein Medium der Affirmation und Gemütsbewegung verstanden wurde, bekämpfte der Künstler in seinen Schriften die soziale Ungerechtigkeit im Gewand der Heuchelei. Andererseits brachte es Twain auch in den Disziplinen des Schimpfens und Schmähens zu hoher Meisterschaft.

Ein möglicher Beweis für die verquere Wahrheitsliebe des Literaten gelangt demnächst, Anfang Oktober, auch in die Buchhandlungen des deutschsprachigen Raums. Kurz vor seinem Tod verfügte Mark Twain, dass seine zwischen 1870 und 1905 mit großen Unterbrechungen entstandene, rund drei Aktenmeter umfassende Selbstbeschreibung erst 100 Jahre nach seinem Ableben erscheinen dürfe: „Mir schien“, begründete Twain sein Vorhaben, „ich könnte so frank und frei und schamlos wie ein Liebesbrief sein, wenn ich wüsste, dass das, was ich schreibe, niemand zu Gesicht bekommt, bis ich tot und nichtsahnend und gleichgültig bin.“ In den USA wurde „Meine geheime Autobiografie“, so der schlüssige Titel des jahrzehntelang verborgen gehaltenen Textkonvoluts, den Vorgaben des Autors gemäß 2010 publiziert – das Buch, von dem bis zu diesem Zeitpunkt nur Fragmente, teils in entstellter Form, in Umlauf waren, geriet mit über einer halben Million verkaufter Exemplare zum Sensationserfolg.
Die für heuer angekündigte Veröffentlichung des zweiten Bands der US-Ausgabe des Twain’schen Lebenslaufs musste indes aufgrund der unvermutet langwierigen Editionsarbeit abgesagt werden. Der Publikationstermin für den finalen dritten Teil steht ebenfalls in den Sternen. Fast wirkt es so, als habe sich Twain einen letzten großen Streich erlaubt.

„Meine geheime Autobiografie“ gewährt nicht nur neue Einblicke in das Denken Twains, auf Deutsch existiert nach wie vor keine umfassende Lebensbeschreibung des Autors. Die über 23.000 Briefe und zahllosen Tagebücher ­Twains sind bislang erst zur Hälfte erschlossen, viele Verlage machen sich längst nicht mehr die Mühe, unbekanntes Material zu orten. „Meine geheime Autobiografie“ räumt auch mit dem Mythos vom kauzig-harmlosen Geschichtenerzähler gründlich auf.

Der Band bietet Twain im XXL-Format, ein poetisches, politisches, polemisches Potpourri, in dessen Zentrum ein Autor steht, der sich hier als gleichermaßen sensibel und scharfzüngig, harmoniebedürftig und rachsüchtig, verblendet und hellsichtig erweist. Zwanghafte Misanthropie wechselt mit charmantem Geplauder, auf den politischen Rundumschlag folgt eine Liebeserklärung an die früh verstorbene Tochter, seltsames Gebrabbel über den Ekel vor Tomaten und Sardinen mischt sich mit fulminanten Erinnerungssplittern über Eichhörnchenjagden und andere Lausbubenstreiche – ein ausufernder Dialog mit sich selbst über den Abgrund der Zeit hinweg: Das Buch ist als Sammelsurium konzipiert, als gezieltes Durcheinander aus Tagebuch und Kurzgeschichten, aus Miniaturporträts und eingefügten Zeitdokumenten.

Die nachgerade modern anmutende, chronologische Geschlossenheit negierende Methode seines autobiografischen Schreibens sei, so Twain in seinen Aufzeichnungen, früh festgestanden: „Beginne an einem beliebigen Zeitpunkt deines Lebens; durchwandre dein Leben, wie du lustig bist; rede nur über das, was dich im Augenblick interessiert, lass das Thema fallen, sobald dein Interesse zu erlahmen droht, und bring das Gespräch auf die neuere und interessantere Sache, die sich dir inzwischen aufgedrängt hat.“ Bescheiden urteilt Twain über seinen Geistesblitz: „Zum ersten Mal in der Geschichte ist jemand auf den richtigen Plan verfallen.“

„Meine geheime Autobiografie“ ist ein einziger Materialsteinbruch, ein Fundus von Kuriositäten, Einfällen, Prosastücken, ein Gedanken- und Schreibexperiment, in dem Details bisweilen die Hauptrolle spielen und das vermeintlich Wesentliche an den Rand gedrängt scheint: „Die Ereignisse des Lebens sind überwiegend kleine Ereignisse – nur aus der Nähe betrachtet, erscheinen sie groß. Nach und nach legt sich der Staub, und dann erkennen wir, dass das eine das andere nicht überragt. Sie alle sind von gleich geringer Höhe und gleich belanglos.“

Das Bild des Erzählers als erbaulicher Volksautor und knorriger Bonmot-Lieferant, der scheinbar keine andere Absicht hat, als seine Leser niveauvoll zu unterhalten, dürfte nun allerdings Risse bekommen. Menschenverachtung und Daseinsüberdruss sprechen aus vielen Zeilen der „Geheimen Autobiografie“, ergänzt von um sich greifendem Pessimismus und in Rage vorgebrachten Flegeleien. „All das Gerede über Toleranz, wo und wann auch immer, ist schlichtweg eine sanfte Lüge“, konstatiert Twain bitter: „Doch unbewusst und durch moosbewachsene ererbte Gewohnheit sabbert und schlabbert sie von jedermanns Lippen.“

Die Menschheit verfüge über keinerlei nennenswerte Beweise, dass die eigene Gattung Moral besitze, sei getrieben von Zerstörungswut und jener Geldgier, die einen „Pesthauch“ über die USA gelegt habe. „In unseren Tagen“, so schrieb Twain bereits vor mehr als einem Jahrhundert, leiste das monetäre Evangelium gewaltige Arbeit: „Seine Botschaft lautet: ,Beschaff dir Geld. Beschaff’s dir schnell. Beschaff’s dir im Überfluss. Beschaff’s dir in riesigem Überfluss. Beschaff’s dir auf unehrliche Weise, wenn du kannst; auf ehrliche, wenn du musst.‘“ Und Twain geißelt die militärischen Massaker, den Gesundheitswahn, die Auswüchse der Klatsch- und Duellsucht seiner Zeit, er reitet Attacken gegen die Thanksgiving-Tradition, er verteilt verbale Ohrfeigen, deren Dröhnen gleichsam über die vielen Jahrzehnte hinweghallt. Eine adelige Quartiersfrau in Italien beschimpft er als „blaublütige Bestie“, einen seiner Verleger kanzelt er als „kahlköpfigen, rattenäugigen professionellen Lügner und Halunken“ mit dem „zittrigen Lachen eines Idioten“ ab. Gegen die große Dummheit der Verunglimpfung sind auch Klassiker nicht gewappnet.

Als „Fett“ bezeichnete Twain den über die Dekaden ständig wachsenden Umfang seiner Lebenserinnerungen, die er größtenteils wechselnden Stenografinnen diktierte, im Bett liegend, in „einen schönen Seidenmorgenmantel mit einem prächtigen persischen Muster gekleidet und an große schneeweiße Kissen gelehnt“, so der Schriftsteller mit Hang zu Selbststilisierung und Zurschaustellung. „Vater hat einen wunderschön geformten Kopf und ein schönes Profil“, montiert Twain auch die arglosen Aufsätze seiner Tochter Su­san, vom Vater nur Susy genannt, in sein zum Teil in Wien entstandenes Memoirenwerk. „Er hat eine sehr gute Figur – kurzum, er ist ein außerordentlich gut aussehender Mann. Alle seine Gesichtszüge sind vollkommen, außer dass er keine außerordentlichen Zähne hat.“

Ende Mai 1899 diktierte Mark Twain in Wien einem Journalisten der „Londoner Times“ die Einschätzung in den Reporterblock: „Der Mensch, der die Wahrheit über sich selbst schreiben kann, muss erst noch geboren werden.“ Für eine Pointe, die trifft, zog Mark Twain der Wahrheit stets die Lüge vor. An einer Stelle seiner Autobiografie berichtet er von postalischen Irrläufern, die ihn erst nach Monaten erreichten. Vermutlich, so der Autor, habe die rudimentäre Adressierung der Postsendungen daran Schuld getragen, etwa wenn ein Brief einzig mit „Mark Twain – Gott weiß wo“ beschriftet gewesen sei. Noch mehr freute sich der Empfänger nur über jene Epistel, die ebenfalls eher knapp adressiert war: „Mark Twain – Irgendwo – (Versuchen Sie’s bei Satan)“.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.