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Missbrauch in der Familie: Jedes fünfte Kind wird Opfer sexueller Gewalt

Missbrauch. Jedes fünfte Kind wird Opfer sexueller Gewalt

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Zeit ihres Lebens litt Angela K. unter schweren Panikattacken, besonders vor dem Einschlafen. Ein erfolgreicher Schulabschluss war für sie, bedingt durch massive Konzentrationsschwierigkeiten, nur nach einigen Anläufen möglich. Erst als sie im Alter von dreißig Jahren eine Psychotherapie mit hypnotischer Unterstützung begann, erkannte sie die Ursache ihrer Leiden. Angela war als Kind mehrfach missbraucht worden. „Als ich mich dann an die Ereignisse erinnert habe, waren die Panikattacken sofort weg, es war wie eine Erlösung“, erzählt sie.

Das Ausblenden der Erinnerung an einen Stiefvater, der sich nachts heimlich in ihr Zimmer schlich, zu ihr ins Bett legte und sie im Schambereich streichelte, ist ein typischer psychologischer Verdrängungsmechanismus. Viele Opfer erleben erst Jahre nach der Tat so genannte „Flashbacks“, in denen sie die traumatischen Erlebnisse schlagartig einholen. Dass Angela sich bei den Berührungen des Stiefvaters vorstellte, ihr Geist würde in diesem Moment ganz woanders sein, nur ihr Körper in ihrem Bett liegen, ist ebenfalls ein Schutztrick der Psyche, wie Psychotherapeutin Barbara Burian-Langegger von der Wiener Child Guidance Clinic weiß: „Die Vorstellung, das Ich vom Körper abspalten zu können und somit unberührbar zu machen, macht das Erlebnis irgendwie erträglich.“

Nur wenige Vorfälle werden angezeigt

Expertenschätzungen gehen davon aus, dass jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder siebente bis achte Bub unter 16 Jahren Erfahrungen wie Angela machen muss, im Schnitt also etwa jedes fünfte Kind. Die wenigsten Vorfälle werden zur Anzeige gebracht. Bei einer österreichweiten Umfrage der Kinderschutzzentren „Die Möwe“ im vergangenen Jahr gaben fünf Prozent der Befragten an, selbst in ihrer Kindheit und Jugend sexuell missbraucht worden zu sein. Weitere sechs Prozent der Befragten enthielten sich jeden Kommentars. Dass sich unter diesem Prozentsatz ein beträchtlicher Anteil von Betroffenen findet, kann angenommen werden. Diese Erhebung deckt sich mit internationalen Studien: Fünf bis 15 Prozent der jeweiligen Bevölkerung haben dort bis zum Alter von 16 Jahren sexuelle Gewalt erlebt. Auf Österreich hochgerechnet, ergibt dies um die 400.000 Betroffene. Nur zehn bis 15 Prozent werden dabei von Fremdtätern wie unter anderem auch Priestern oder Lehrern missbraucht. Nach einer Informationsbroschüre des Bundesministeriums für Jugend und Familie sind die meisten Missbrauchsopfer „im sozialen Nahraum“ zwischen sechs und zwölf Jahre alt, an zweiter Stelle liegen Säuglinge und Kleinkinder bis zur Altersgrenze von fünf Jahren.

Kaum Anzeigen. Bei den 600 bis 700 Anzeigen, die in Österreich jährlich im Durchschnitt eingebracht werden, kommt es nur in jedem vierten bis fünften Fall zu einer Verurteilung. Wie bei den kirchlichen Missbrauchsdelikten wagen die kindlichen Opfer oft erst Jahre später, meist erst im Erwachsenenalter, ihr Schweigen zu brechen. Die Diagnosen der seelischen Wunden reichen dann meist nicht für eine Anklage. Steht die Opfer-Aussage gegen die Aussage des mutmaßlichen Täters, werden Verfahren in der Regel wegen Beweismangel eingestellt. Durch Fälle wie die Inzesttragödie der Amstettner Familie Fritzl und die Leidensgeschichte des mit 17 Monaten verstorbenen Luca hat sich das kollektive Bewusstsein auch vor dem kirchlichen Missbrauchsdiskurs zunehmend sensibilisiert.

Überlastung der Kinderhilfszentren

Im vergangenen Jahrzehnt wurde von den österreichischen Behörden ein Anstieg von Gefährdungsmeldungen, die Kinder betreffen, auf über 200 Prozent registriert. Die für die Betreuung und Bearbeitung notwendigen Ressourcen reichen dafür längst nicht mehr. Kinderhilfszentren klagen seit Langem über eine absolute Überlastung, schwer traumatisierte Kinder müssen oft Jahre auf einen Therapieplatz warten oder werden in der Zwischenzeit nur mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Behörden sind angesichts der Komplexität vieler Missbrauchsfälle, die oft in einem Rosenkrieg der Eltern enden, überfordert. Eine profil-Reportage aus dem vergangenen Jahr (profil 24/09) deckte die Zustände in einem heillos überfüllten Wiener Krisenzentrum auf. In der Einrichtung, in der Kinder untergebracht werden, die aufgrund einer akuten Gefährdung vorübergehend aus der Familie genommen werden müssen, mussten die Kinder wegen Bettenmangel auf Sofas und Matratzen Notlager beziehen. Wie überfordert Institutionen im Falle einer Anzeige sind, wie langsam die Justiz auf Gefährdungsmeldungen reagiert und wie diese Behäbigkeit des Apparats die Leidensgeschichten der Kinder oft fahrlässig verlängert, zeigen die von profil recherchierten Fall-Geschichten.

Loyalitätskonflikt. Obwohl die Tätergruppe der Väter, Brüder und Onkel bei Missbrauchsdelikten bei Weitem die der Fremdtäter überwiegt, richten sich die meisten der Anzeigen gegen Fremdtäter. Innerhalb der Gruppe des „sozialen Nahraums“ dominieren die Delikte von vorrangig älteren Brüdern an ihren Schwestern, wie eine kürzlich erschienene Studie des deutschen Max-Planck-Instituts zutage förderte.

Das ambivalente Verhältnis der Opfer zu den Tätern, die ihnen meist auch wichtige Bezugspersonen sind, und der damit verbundene Loyalitätskonflikt machen es den Kindern noch viel schwerer, über ihre Erlebnisse zu sprechen.

Dass Mütter über die Taten der Väter oder Stiefväter Bescheid wissen, bewusst wegsehen und damit zu Komplizinnen werden, widerlegt der Praxisalltag der Psychologin Sonja Wohlatz von der Wiener Beratungsstelle für sexuell missbrauchte Frauen und Kinder „Tamar“: „Wir machen die Erfahrung, dass das eher selten der Fall ist.“

Schwierige Trennung vom Partner

Wie schwer es für manche Frauen ist, die Beziehung zu dem Partner trotz Missbrauch an den gemeinsamen oder aus einer früheren Partnerschaft stammenden Kindern aufzulösen, weiß die Deutsche Christel Dorpat. Ihr schockierender Erlebnisbericht „Welche Frau wird so geliebt wie du“ gilt inzwischen als Standardwerk für Sozialarbeiter und Psychologen. In dem Buch schildert Dorpat, wie ihr zweiter Mann die Tochter missbrauchte, die sie aus erster Ehe mitgebracht hatte. Sie schaffte es über zwei Jahre nicht, sich von ihm zu trennen, da sie den jüngeren, gemeinsamen Kindern den Vater nicht nehmen wollte.

Die ersten Alarmzeichen werden oft noch bewusst ignoriert und in der Rubrik einmalige Zwischenfälle eingeordnet. „Ich hatte schon einmal in der Sporttasche meines Ex-Manns einen kleinen Jungenslip gefunden und mich nur gewundert“, erzählt eine ehemalige Tanzlehrerin aus St. Pölten, „aber als unser Sohn auf der Welt war, wollte mein damaliger Mann nur noch bei ihm im Bett schlafen, ich sollte mich ins Kinderzimmer legen. Das war mir dann zu viel.“

Exakte Planung. Als Hauptmotivation für solche Vergehen bei eigenen Kindern oder denen aus dem nächsten Umfeld definieren die Experten den Machtmissbrauch. Minderwertigkeitskomplexe oder sexuelle Zurückweisungen seitens erwachsener Frauen werden durch Übergriffe an hilf- und wehrlosen Kindern kompensiert. Auffällig ist auch, dass die meisten Delikte nicht im Affekt passieren. Die Täter bereiten die Tat häufig akribisch vor, üben im Vorfeld sukzessiven Druck auf die Kinder aus und wissen genau, zu welchem Zeitpunkt sie ungestört zugreifen können. Die Psychologie unterscheidet generell zwischen „Hands on“- und „Hands off“-Tätern. Letztere befriedigen ihre pädophilen Neigungen ausschließlich durch kinderpornografische Websites und Fotos.

Sexualstraftäter werden meist in einer Gruppentherapie behandelt

Sexueller Missbrauch ist zwar kein schichtspezifisches Problem, doch laut Psychotherapeut Alex Seppelt vom Wiener Männerberatungszentrum werden fast nur Täter der untersten Gesellschaftsschicht verurteilt: „Das heißt, dass wir nur einen ganz winzigen Bruchteil dingfest machen können.“ Bei den „Hands off“-Tätern, die die Polizei oft unterschätzen oder zu leichtfertig das Internet benutzen, ist das soziologische Spektrum weiter gefächert und beinhaltet auch Akademiker.

Auffällig ist, so Seppelt, das verschiedene Strafausmaß, das Missbrauchstäter für oft nahezu idente Vergehen bekommen: „Es scheint so, als würden Menschen, die sich gewählter ausdrücken und sich besser verteidigen können, ein viel geringeres Strafausmaß bekommen. Manche Täter bekommen für ein ähnliches Vergehen bis zu dreimal höhere Haftstrafen als andere.“

Sexualstraftäter werden meist in einer Gruppentherapie behandelt, bei der sich Täter in unterschiedlichen Therapiephasen befinden, da das völlige Eingestehen ihrer Taten ein langer Prozess der Bewusstwerdung ist. „Wenn ein länger therapierter Täter einem Neuzugang erklärt, dass er endlich mit der Verleugnung aufhören soll und er selbst früher ähnliche Ausreden erfunden hat, dann wirkt das viel besser, als wenn da ein vielleicht als hochnäsig empfundener Therapeut daherkommt“, so Seppelt. Oft wird bei Tätern auch der Versuch der Schuldzuweisung an das Kind unternommen, „das ja schließlich immer wieder von selbst zu ihm gekommen ist, nicht Nein gesagt hat, und offensichtlich habe ihm das alles ja gefallen“. Kinder verfallen bei sexuellen Übergriffen jedoch oft in eine Art körperlicher Starre und sind nicht in der Lage, sich zu wehren.

Sexueller Missbrauch unter Geschwistern

Täterinnen. Ein bisher weitgehend unerforschtes und noch immer tabuisiertes Thema ist der Frauenanteil bei den Tätern. Sind Männer Opfer, so ist es für diese noch einmal schwieriger, den Missbrauch anzuklagen. Der deutsche Männerforscher Gerhard Amendt begründet das „mit der Angst, durch ein solches Eingeständnis als Schwächling und Versager bloßgestellt zu werden“. Der Psychologe Romeo Bissuti vom Männergesundheitszentrum Wien betreut solche männlichen Missbrauchsopfer: „Das kann eine Tante sein, die einen Jugendlichen umschmeichelt und meint, sie wolle ihn in die Sexualität einführen. So ein Opfer wird oft von seinen Geschlechtsgenossen belächelt und bekommt dann zu hören, dass er über ein sexuelles Erlebnis mit so einer erfahrenen Frau doch froh sein soll.“

Laut Tamar-Leiterin Sonja Wohlatz gibt es jedoch noch ein anderes, weitaus größeres Tabu, nämlich den sexuellen Missbrauch unter Geschwistern: „Da ist vielleicht ein pubertierender Teenager, der sich an der jüngeren Schwester vergreift, weil er den weiblichen Körper entdecken will. Werden solche Fälle bekannt, zerreißt es oft die gesamte Familie, da die Eltern ja beide Kinder lieben.“

Täter können nach zwei Dritteln ihrer Haftstrafe entlassen werden, sofern sie einer psychotherapeutisch unterstützten Bewährungshilfe zustimmen. „Viele verstehen nicht, warum wir den Tätern diese Hilfsangebote machen. Aber uns ist wichtig, dass sie nach ihrer Entlassung nicht mehr rückfällig werden“, so Elisabeth Grabner-Tesar vom Verein „Neustart“, der Täter nach einer Haftstrafe, die bis zu fünf, bei schwerem Missbrauch bis zu zehn Jahre dauern kann, wieder auf den Weg in die Gesellschaft begleitet. Die vielen Täterbiografien, die sie analysiert hat, zeigen häufig eine belastete Kindheit, oft auch mit eigenen Missbrauchserfahrungen. „Diesen Tätern“, so Grabner-Tesar, „geht es um Machtausübung, und viele haben nicht gelernt, sich Zuneigung und Nähe ohne Grenzverletzungen durch physiche oder psychische Gewalt zu holen.“

Arbeitsaufwand erheblich gestiegen

In welchen gesellschaftlichen Verruf Menschen geraten können, die versuchen, sexuelle Missbrauchsfälle aufzudecken, weiß die Sonderschullehrerin und Kunstpädagogin Anneliese Thurnhofer aus der Steiermark: „Ich habe bei einem behinderten Kind eindeutige Missbrauchsspuren festgestellt. Es hat bereits sehr intensiv gerochen, ich habe daraufhin seine Unterwäsche aufgehoben, da war mir klar, was ihm angetan worden sein musste. Deshalb wurde bei mir ein psychischer Verfolgungswahn diagnostiziert, und ich wurde in Frühpension geschickt.“

Fälle, in denen Behörden nur zögerlich einschreiten und Missbrauch nicht nachgehen wollen, existieren nachweislich viele. Schwierig wird es vor allem, wenn eine Scheidung in einen Rosenkrieg ausartet und die Mutter aus einem Hassgefühl den Vater beschuldigt, das gemeinsame Kind missbraucht zu haben. Dass solche fälschliche Anschuldigungen immer wieder vorkommen, weiß der Sozialarbeiter Georg Dimitz aus Wien, der auch in der Berufsvertretung tätig ist: „Die noch größere Schweinerei ist, dass sogar gewisse Anwälte Frauen direkt dazu raten, den Partner des Missbrauchs zu bezichtigen.“

Überfordert. Bei solchen komplexen und oft undurchsichtigen Streitfällen sollten deshalb immer zwei Sozialarbeiter die Beweislage abwägen. „Das ist jedoch vor allem in vielen Bundesländern rein personell nicht mehr möglich“, weiß Dimitz. Seit Jahren fordert die Jugendwohlfahrt eine Aufstockung der Ressourcen, da der Arbeitsaufwand erheblich gestiegen und kaum mehr zu bewältigen ist. „Doch da die Jugendwohlfahrt in der Kompetenz der Bundesländer liegt, ist nicht einmal eine gemeinsame Statistik möglich, ohne die keine Bedarfserhebung erfolgen kann“, klagt Dimitz. Ein einheitliches Bundesgesetz zur Jugendwohlfahrt wäre ihm daher eines der größten Anliegen gewesen. Beim runden Tisch zum Thema sexueller Missbrauch, den Justizministerin Claudia Bandion-Ortner und Familienstaatssekretärin Christine Marek vergangenen Monat einberufen haben, wurde dieses Anliegen jedoch nicht einmal gestreift.

Es bräuchte doppelt so viele Therapieplätze für traumatisierte Kinder

Keine Rückendeckung. Dass endlich ein gehöriger Druck auf das Jugendamt ausgeübt wird, würde sich der Psychologe Alex Seppelt wünschen: „Es scheint bei der Aufklärung von sexuellen Missbrauchsfällen tatsächlich vorrangig am persönlichen Engagement der Beamten zu liegen. Wir erleben in vielen Fällen oft höchst unterschiedliche Vorgangsweisen.“ Das beträfe jedoch nicht die Sozialarbeiter an der Basis, die sich „ohnehin oft einen Haxn ausreißen“, sondern vor allem deren Vorgesetzte. Sozialarbeiter bekämen viel zu wenig Rückendeckung. Für eine vorschnelle Anzeige erfolge ebenso eine Rüge wie für eine zu langwierige Klärung eines heiklen Falls. Im Fall Luca wurde die betreffende Sozialarbeiterin sogar verurteilt – aufgrund der Unterlassung, einen Kollegen einzuschalten.

Für Psychologin Barbara Burian-Langegger sollten jedoch vor allem mindestens doppelt so viele Therapieplätze für traumatisierte Kinder geschaffen werden: „Und selbst dann hätten wir noch immer Wartelisten. Opfer sollten aber ein Recht auf eine rasche und gute Therapie haben.“

Dass Opfer durch die mangelnden Ressourcen ein zweites Mal zum Opfer werden, verdeutlicht die Geschichte des Siebenjährigen (siehe Kasten), der seit einem Dreivierteljahr vom Jugendamt betreut wird. Das von seinem Vater missbrauchte Kind hat bislang „kaum Therapie, sondern nur schwere Psychopharmaka verabreicht bekommen“, erzählt seine Mutter, die seit Monaten um dessen Rückkehr nach Hause kämpft. Doch der zuständige Richter war bisher noch nicht in der Lage, in dieser Causa einen rechtskräftigen Beschluss zu fassen.