Nahost. Es war einmal die Zweistaatenidee
Manche Geschichte, die sich im Nahen Osten ereignet, verläuft zu friedlich, um wahrgenommen zu werden: Vorvergangenen Sonntag organisierte eine radikale jüdische Jugendorganisation einen Marsch auf palästinensischem Territorium, um die jüdische Besiedelung in Jericho zu erneuern. Erst hielten die jungen Leute, begleitet von bekannten, rechtsextremen Politikern, ein Treffen ab, um dann vor den israelischen Sicherheitskräften in Richtung der alten Synagoge von Naaran nahe Jericho davonzulaufen.
Eine heikle Situation, doch die erwarteten Zusammenstöße blieben aus.
Yoav Mordechai, Brigadegeneral der israelischen Streitkräfte, kontaktierte seinen palästinensischen Kollegen in der Polizeikommandantur von Jericho und bat ihn, seine Einsatzkräfte zurückzuziehen. Die Israelis wollten das Problem selbst beheben.
Und so hielten sich die palästinensischen Polizisten im Hintergrund, während die israelischen Soldaten die aufrührerischen Jugendlichen zurückscheuchten und die Gewalttätigen unter ihnen verhafteten.
Noch ein Beispiel: Kürzlich konnten die palästinensischen Sicherheitsbehörden eine Rakete sicherstellen, die auf Israel abgefeuert werden hätte sollen. Sie verhafteten die Besitzer und übergaben das Geschoss den Israelis.
Das sind bloß zwei Beispiele für die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, die seit einiger Zeit fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit Gewalt verhindert, wo sie früher von allen Beteiligten geschürt worden war. Man könnte versucht sein, daraus abzuleiten, dass Israelis und Palästinenser, die notorischen Nervensägen der Weltpolitik, sich vielleicht doch einer friedlichen Lösung ihres endlos scheinenden Konflikts annähern.
Falsch. Das gültige Paradoxon des Nahen Ostens lautet vielmehr: Der größte Feind einer endgültigen politischen Lösung ist der Frieden.
Tatsächlich: Die schreckliche Zeit der Selbstmordanschläge ist zumindest vorerst vorbei, eine dritte Intifada ist nicht in Sicht, und die Raketen der Hamas schweigen. Eine ideale Phase, um Friedensgespräche zu führen, sollte man meinen. Die finden jedoch nicht statt.
Verebbt. Grausame Attentate erzeugen Druck, ein De-facto-Waffenstillstand nicht. Und so ward der US-Nahost-Sonderbeauftragte George Mitchell lange nicht gesehen, Außenministerin Hillary Clinton ebenso wenig, und kaum etwas deutet darauf hin, dass der Nahostkonflikt einst als eine der Prioritäten der Obama-Administration gegolten hatte. Nach einem ersten gescheiterten Anlauf, mit dem die israelische Regierung gezwungen werden sollte, einen völligen Stopp des Siedlungsbaus zu verhängen, verebbte das Engagement Washingtons.
Israels Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu ist seit bald einem Jahr im Amt, ohne dass sie bisher ein Friedensangebot auch nur skizzieren hätte müssen. Es gibt keine Gespräche mit den Palästinensern und schon gar keinen internationalen Gipfel.
Aber auch wenn der Konflikt dem Anschein nach Pause macht, wächst das Problem unablässig. Ein Mann, der nicht im Verdacht des Radikalismus steht, gab kürzlich eine alarmierende Prognose ab: Sari Nusseibeh, ein hoch angesehener palästinensischer Intellektueller, sagte in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Le Figaro, er halte die Perspektive einer Zweistaatenlösung nicht mehr für realisierbar.
Kann das wahr sein?
Es hatte Jahrzehnte gedauert, ehe die Idee eines Staates Palästina neben dem Staat Israel internationale Anerkennung fand. Im vergangenen Jahr hatte sogar Netanjahu den ihm lange verhassten Begriff der Zweistaatenlösung öffentlich ausgesprochen. Ausgerechnet jetzt soll dieser Strohhalm, an den sich alle Welt klammert, geknickt werden? Sari Nusseibeh hat gute Argumente dafür: Angesichts des fortschreitenden Baus jüdischer Siedlungen im Osten von Jerusalem und im ganzen Westjordanland sei die Errichtung eines palästinensischen Staates nicht mehr möglich. Jerusalem etwa, das nach gültiger Lehrmeinung teils Hauptstadt von Israel, teils Hauptstadt von Palästina werden soll, könne nicht mehr geteilt werden, so Nusseibeh. Die Stadt, die zu Beginn der israelischen Besatzung des Westjordanlands im Jahr 1967 zwanzig Quadratkilometer umfasste, sei auf 50 Quadratkilometer angewachsen, wobei der arabische Sektor von jüdischen Siedlungen umschlossen werde, in denen 250.000 Juden lebten.
Sollte Sari Nusseibeh Recht haben, bleibt anstelle zweier Staaten ein einziger, nämlich Israel. Würden das Westjordanland und Gaza endgültig von Israel annektiert, hätte allerdings der jüdische Staat schon bald eine arabische Mehrheitsbevölkerung. Der britische Historiker Tony Judt analysierte dieses Problem bereits in einem Artikel für die New York Review of Books im Jahr 2003 und forderte darin einen binationalen Staat. Nusseibeh jedoch hält eine weitaus deprimierendere Variante des Zusammenlebens für wahrscheinlicher: Die Palästinenser wären in einem Groß-Israel Bürger dritter Klasse, denen zwar elementare Grundversorgung zustünde, allerdings keine politischen Rechte etwa das Wahlrecht.
Wachrütteln. Vielleicht wollte Nusseibeh bloß die internationale Politik wachrütteln. Es gibt nämlich eine diametral entgegengesetzte Denkschule, wie in den lahm gewordenen Nahostprozess Bewegung kommen könnte: durch eine Ausrufung eines Staates Palästina, noch ehe die Verhandlungen über Grenzen, Hauptstadt und Flüchtlinge zu einem Ergebnis gekommen sind. Der französische Außenminister Bernard Kouchner äußerte diese nicht ganz neue Idee in einem Interview mit der Wochenzeitung Journal du Dimanche. Er sei versucht, einen solchen Staat anerkennen zu wollen, so Kouchner.
Die israelische Regierung kann mit beiden Vorschlägen nichts anfangen. Nusseibehs Einstaatentheorie würde Israel endgültig als Apartheid-Staat entlarven. Ein anerkannter Staat Palästina wiederum würde bedeuten, dass Verhandlungen auf Augenhöhe stattfänden. Zwei Tage nach Kouchners Interview sagte Israels Verteidigungsminister Ehud Barak einen Besuch in Paris aus Termingründen ab.
Lange hat sich Israel gegen die Zweistaatenlösung als Ergebnis von Verhandlungen gewehrt. Jetzt sieht es so aus, als würde es dieser Idee bald nachweinen.