Nuklearwaffen: Das neue Wettrüsten
Fast zwei Jahre lang war es ruhig in der demilitarisierten Zone. Am 17. Juli fielen wieder Schüsse. Sie kamen von der nordkoreanischen Seite und wurden von Soldaten Südkoreas erwidert. Zwar soll es bei dem Zwischenfall weder Tote noch Verletzte gegeben haben, aber er reichte, um in Südkoreas Hauptstadt Seoul die Nervosität zu steigern: Wie weit würde Nordkorea seine Provokationen treiben? Droht tatsächlich ein "höllischer Albtraum ", wie der amerikanische Chefunterhändler John Bolton unlängst in Seoul prophezeite?
Nordkoreas Diktator Kim Jong Il spielt mit dem Feuer. Während Washington ganz auf den Krieg gegen Saddam konzentriert ist, jagen die Nordkoreaner die Inspektoren der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) aus dem Land, holen sich 8000 Brennstäbe, die von der IAEA 1994 versiegelt wurden, erklären ihren Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag, fahren die Reaktoren im Kraftwerk Jongbjon hoch und verkünden schließlich vergangene Woche in der Hauptstadt Pjöngjang den baldigen Beginn von Atomwaffentests. Der nordkoreanische Unabhängigkeitstag am 9. September wäre dafür ein Datum mit hohem Symbolwert.
Niemand weiß genau, wie weit das Atomwaffenprogramm fortgeschritten ist. Internationale Experten schätzen, dass Nordkorea zurzeit nukleares Material zum Bau von drei Bomben hat. Ein nordkoreanischer Überläufer berichtete Anfang Juli in Seoul, Pjöngjang sei bereits im Besitz mehrerer nuklearer Sprengkörper. Und William Perry, ehemaliger Sicherheitsberater Bill Clintons, behauptet, Pjöngjang könne kommendes Jahr mit der Serienproduktion von "fünf bis zehn Bomben jährlich" beginnen.
Sieg der roten Flagge? Pjöngjang tut nichts, um all diese Gerüchte zu entkräften. Kim Jong Il provoziert die Amerikaner zusätzlich mit Verlautbarungen wie: "Der Sieg im Atomkonflikt ist unser, und die rote Flagge wird noch energischer wehen." Die Supermacht lässt es geschehen. Während Saddams blutige Herrschaft im amerikanischen Bombenhagel endete, hört Kim Jong Il aus Washington süße Töne der Beschwichtigung. US-Präsident George W. Bush sucht eine "friedliche Lösung". Für September sind Abrüstungsgespräche zwischen den USA, China und Nordkorea geplant. Könnte es einen besseren Beweis für die Macht der Bombe geben?
Im Gegensatz zu Nordkorea bekennt sich der Iran zwar zum Atomwaffensperrvertrag und akzeptiert Besuche der IAEA-Inspektoren. Aber Teheran hat in den vergangenen Jahren nicht alle Importe spaltbaren Materials deklariert und die Existenz von Zentrifugen zur Urananreicherung erst nach deren Entdeckung durch westliche Geheimdienste zugegeben. Außerdem verkündeten iranische Militärs Anfang Juli den erfolgreichen Test des neuen Raketentyps Shahab III mit einer Reichweite bis zu 1300 Kilometer.
Aus der Sicht von Mullahs und Militärs wäre die Ausrüstung der Raketen mit Atomsprengköpfen ein logischer Schritt. Erstens befindet sich Teheran in Reichweite israelischer Atomraketen. Zweitens wurde der Iran von der Regierung Bush gemeinsam mit Saddams Irak und Nordkorea zur "Achse des Bösen" gezählt und kann jetzt aus den Ereignissen der vergangenen Monate die Lehren ziehen: "Der Irak-Krieg war ein Beispiel, dass Staaten ohne Kernwaffen eher eine amerikanische Intervention zu fürchten haben", sagt der deutsche Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel. Deshalb sei zu befürchten, dass der Iran jetzt seine zivilen Nuklearprogramme auch militärisch nutze und dass "weitere Staaten dem Klub der Nuklearwaffenbesitzer beitreten wollen".
Droht der Welt ein neues nukleares Wettrüsten?
Schreckensvision. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts würden 20 bis 30 Staaten Atomwaffen besitzen, prophezeite der amerikanische Präsident John F. Kennedy. Das war Anfang der sechziger Jahre, als das atomare Wettrüsten der Supermächte nicht aufzuhalten schien. Es wurde dann doch nicht so schlimm. 1972 unterzeichneten die USA und UdSSR den ersten Vertrag zur Begrenzung der Zahl atomarer Langstreckenraketen, SALT I. Es folgten SALT II, START I, der Abbau nuklearer Mittelstreckenraketen, die Begrenzungen von Atomtests.
Kernstück der Abrüstungsverhandlungen ist der 1970 in Kraft getretene Atomwaffensperrvertrag (Non-Proliferation Treaty, kurz: NPT). Er legt fest, dass nur jene Länder, die vor 1967 Atombomben gezündet haben, weiterhin Nuklearwaffen besitzen dürfen: die USA, Russland (als Rechtsnachfolger der Sowjetunion), Groß- britannien, Frankreich, China. Alle anderen Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, weder Atomwaffen zu produzieren noch waffenfähiges Material weiterzugeben. Im Gegenzug wird ihnen Hilfe bei der Entwicklung ziviler Atomenergieprojekte angeboten. Überprüft wird die Einhaltung des Vertrags von der Internationalen Atomenergieagentur mit Sitz in Wien.
Vermutlich hat der Vertrag viel dazu beigetragen, dass Kennedys Schreckensvision nie Wirklichkeit wurde. Aber der NPT hat große Schwächen. Zum Beispiel die Teilung der Welt in fünf "Have"- und alle übrigen "Have not"-Länder. Oder dass Israel, Indien und Pakistan nie unterzeichneten.
Israel hat den Besitz atomarer Waffen weder bestätigt noch dementiert. Das renommierte Stockholmer Institut für Friedensforschung (Sipri) vermutet rund 200 nukleare Gefechtsköpfe im Besitz der israelischen Verteidigungskräfte. Mit Raketen des Typs Jericho II oder F-16-Kampfflugzeugen könnten sie überall im Nahen Osten eingesetzt werden.
Indien und Pakistan haben aus ihren nuklearen Waffenarsenalen nie ein Geheimnis gemacht. Beide Länder werden in ihrer Aufrüstung vom Westen unterstützt. Britische Rüstungsfirmen liefern nach Indien, französische nach Pakistan, amerikanische in beide Länder. Die Technologie für pakistanische Trägerraketen stammt aus Nordkorea.
Riskante Raketen. Die Waffensysteme Indiens, Pakistans oder Nordkoreas sind keine globale Bedrohung. Westliche Wissenschafter zweifeln, ob die Trägerraketen je ihr Ziel erreichen würden. Aber alleine die Existenz der Bomben schafft Unruhe in den Konfliktregionen und zwingt andere Staaten, über eine nukleare Aufrüstung nachzudenken. Erklärt sich Nordkorea zur Atommacht, könnte Südkorea das nukleare Gleichgewicht herstellen wollen. Wenn Israel nicht abrüstet, warnt Friedensforscher Czempiel, würden der Iran und Ägypten früher oder später nuklear nachrüsten müssen.
"Wird der Krieg im Irak als Abschreckung für die künftige Weiterverbreitung von Atomwaffen dienen?", fragte Jayantha Dhanapala, der für Sicherheitsfragen zuständige Vizegeneralsekretär der UNO, im April bei einem Treffen der Mitglieder des Atomwaffensperrvertrags. "Oder wird er im Gegenteil Staaten veranlassen, Atomwaffen zu bauen?" Heute, drei Monate nach dem Sturz des Saddam-Regimes, geht der Trend in Richtung nukleare Aufrüstung.
UN-Generalsekretär Kofi Annan wird zwar nicht müde, die generelle und globale nukleare Abrüstung zu fordern. Aber selbst bei den fünf Atommächten stößt er auf taube Ohren. Die Regierung der Vereinigten Staaten befürchtet, dass Terrorgruppen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen könnten. Statt auf Non-Proliferation setzt Washington deshalb jetzt auf Counter-Proliferation: neue Nuklearwaffen als Schutz gegen feindliche Nuklearangriffe.
Am 24. Mai 2002 erklärten George W. Bush und Russlands Präsident Wladimir Putin in Moskau den "Kalten Krieg endgültig für beendet". Anlass war die Unterzeichnung des neuen Abrüstungsvertrages SORT (Strategic Offensive Reductions Treaty), der eine drastische Reduktion der nuklearen Waffenarsenale beider Länder von über 6000 auf 1700 Sprengköpfe vorsieht. Bei genauerer Betrachtung ist SORT allerdings weit weniger konkret als alle vorherigen Verträge: Die Sprengköpfe müssen nicht vernichtet, sondern können eingemottet werden. Es gibt keine Kontrollmechanismen, und bei Verstößen sind keine Sanktionen vorgesehen.
Rückkehr der Kalten Krieger. Besonders ernst scheinen beide Partner den Vertrag nicht zu nehmen. Russland erneuert jetzt die Bomberflotte für den Transport atomarer Waffen und kündigt an, seine Bomben zu lagern, aber nicht zu verschrotten. "Im Jahr 2002", urteilt das amerikanische Magazin "Bulletin of the Atomic Scientists ", "sahen wir die Rückkehr von Russlands Kalten Kriegern an die Macht."
Im Jänner 2002 übermittelte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld dem Kongress eine "Neue Nuklearstrategie" (Nuclear Posture Strategy). Darin enthalten sind unter anderem die Pläne für einen Raketenabwehrschirm und der Bau taktischer Atomwaffen, so genannter Mini-Nukes, zur Zerstörung dicker Bunkermauern. Nuklearwaffen, so Rumsfeld, spielten eine "sehr wichtige Rolle bei der Verteidigung der Vereinigten Staaten, ihrer Verbündeten und Freunde". Nach Abrüstung klingt das nicht. Die Entwicklung der Mini-Nukes wäre "ein Schritt zurück", sagt UN-Vizegeneralsekretär Dhanapala: "Wir wollen doch eigentlich Atomwaffen abbauen."
Dabei sind noch nicht einmal die meisten Waffen aus dem Kalten Krieg vernichtet worden. Über 15.000 aktive Sprengköpfe lagern in den Silos der fünf Atommächte. Russland hat über 8000 aktive Sprengköpfe. Dazu wurden Anfang der neunziger Jahre tausende nichttaktische (also kleinere) Sprengköpfe aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und des Warschauer Pakts nach Russland gebracht. Wo sich diese Waffen heute befinden, ist ungeklärt. "Wir hoffen, dass sie von der russischen Armee gut verwahrt werden", sagt IAEA-Sprecherin Melissa Fleming.
Der IAEA sind die Hände gebunden. Nach den ursprünglichen Statuten dürfen ihre Inspektoren nur kontrollieren, was Vertragsländer als "nukleare Einrichtungen " deklariert haben. Kontrollen anderer Einrichtungen, womöglich sogar unangemeldet, sind nur in Staaten möglich, die einen Zusatzvertrag (Additional Protocol) unterzeichnet haben. Der Iran will dieses Zusatzprotokoll nur unterzeichnen, wenn die USA ihre Sanktionen aufheben. Bei den Mitarbeitern der IAEA wächst die Angst, die USA könnten den Fall Iran ebenso wie den Irak behandeln: erst den Einsatz von Inspektoren fordern, dann ihre Arbeit behindern und zuletzt militärisch zuschlagen.
Freilich gibt es auch Orte, die für IAEA-Inspektoren absolut tabu sind, zum Beispiel sämtliche militärischen Anlagen der fünf Atommächte.
Atomare Abschreckung. Warum sollten kleinere Atommächte den ersten Schritt zur Abrüstung setzen, wenn die Großen ihre Arsenale nicht einmal zur Kontrolle öffnen? IAEA-Generalsekretär Mohamed El Baradei forderte in einem Vortrag in Rom Anfang Juli eine völlige Neustrukturierung des UN-Sicherheitssystems und "einen Bann aller Massenvernichtungswaffen, auch jener der fünf Atommächte. Wenn ein Staat aus Sicherheitsgründen Atomwaffen behalten wolle, müsse er sie "unter Aufsicht der Vereinten Nationen" stellen.
Die Realpolitik geht jedoch in eine andere Richtung: "Raus aus der Rüstungskontrolle, hin zur Verbreitung von Massenvernichtungswaffen ", so Ernst-Otto Czempiel.
Einen Vorgeschmack auf künftige Nuklearkonflikte bekam die Welt im Sommer 1998, als kurz nacheinander die Erzfeinde Indien und Pakistan stolz die Entwicklung von Atombomben verkündeten und gleich drohten, die Waffen im Kampf um das Kaschmir-Tal auch einzusetzen.
Zum Glück funktioniert das System der Abschreckung noch wie vor 30 Jahren: Im Wissen um die nukleare Stärke des Gegners versuchen Indien und Pakistan jetzt, ihren Konflikt doch friedlich zu lösen. Seit Anfang Juli dieses Jahres gibt es wieder diplomatische Beziehungen und eine Busverbindung zwischen den Ländern.