Katastrophengebiet Kindergarten

Österreichs Kindergärten schneiden im internationalen Vergleich miserabel ab

Kinderbetreuung. Österreichs Kindergärten schneiden im internationalen Vergleich miserabel ab

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Anna D. ist junge Mutter und verzweifelt. Ihr kleiner Emil wird bald zwei Jahre alt, und ihre Karenzzeit läuft demnächst aus. „Ich brauche bis September unbedingt einen Platz. Zu Hause bleiben kann ich mir nicht leisten, und außerdem will ich auch noch studieren“, erzählt sie. Bereits vor einem Jahr hat sie ihren Sohn für einen öffentlichen Krippenplatz der Stadt Wien angemeldet, jedoch nur Absagen bekommen. Einen Fixplatz im Kindergarten haben nämlich nur Fünfjährige, für die ab nächsten Herbst das Jahr vor der Einschulung ohnehin verpflichtend ist. Da es einen dramatischen Versorgungsengpass für alle Kinder gibt, haben jüngere Kinder das Nachsehen.

Annas Eltern, selbst noch berufstätig, fallen für die Kinderbetreuung aus, Kindergärten für Studenten gibt es erst für Kinder ab einem Alter von drei Jahren, der Betriebskindergarten in der Firma ihres Freundes ist ebenfalls auf Jahre ausgebucht.

Kindergarten- und Hortplätze
sind in Österreich eher ein Privileg als eine Selbstverständlichkeit. Im internationalen Vergleich mutet die Situation dramatisch an. Österreich befindet sich laut den jüngsten OECD-Daten im Hinterfeld Europas. Noch beim EU-Kongress 2002 in Barcelona hatten sich alle teilnehmenden Staaten darauf geeinigt, dass bis 2010 mindestens so viele neue Betreuungsplätze geschaffen werden sollen, dass die Altersgruppe der Drei- bis Fünfjährigen zu 90 Prozent und die der Dreijährigen zu 33 Prozent versorgt werden können. Österreich konnte zwar – vor allem durch das seit vergangenem Herbst in Wien institutionalisierte Gratis-Kindergartenjahr – marginal aufholen, ist von diesen Zielen aber dennoch weit entfernt. Be­sonders trist sieht der Vergleich zu Ländern wie Dänemark, Schweden oder Frankreich aus, die für den europäischen Raum als Vorbilder gelten.

Abgesehen davon, dass so für viele Frauen die berufliche Perspektive beschränkt wird, betrachten immer mehr Bildungs- und Entwicklungsforscher die Vernachlässigung von qualitativen Kinderbetreuungseinrichtungen als fahrlässig. Denn die Konsequenz von zögerlichen Investitionen in strukturelle und ausbildnerische Verbesserungen ist, dass wertvolles Entwicklungspotenzial verloren geht. Nie wieder lernt der Mensch so viel derart mühelos in so kurzer Zeit wie bis zum sechsten Lebensjahr. Die Entwicklungspsychologie und Hirnforschung haben dieses Phänomen noch lange nicht vollständig entschlüsselt, finden aber ständig neue Belege, über welch enorme Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten Vorschulkinder verfügen.

In dieser entwicklungspsychologisch so sensiblen Phase können sowohl Talente viel mehr gefördert als auch Sprachstörungen oder motorische Fehlentwicklungen mit der Hilfe von Experten einfach korrigiert werden. In der Schulzeit fällt die Schadensbegrenzung wesentlich schwieriger und langwieriger aus.

Die Zuständigkeit der Kinderbetreuung liegt in Österreich ausschließlich bei den Ländern, die jeweils ihre eigenen Gesetze und Qualitätsstandards festgelegt haben. Das hat auch innerhalb Österreichs ein markantes Betreuungsgefälle zur Folge. Eindeutiges Schlusslicht ist die Steiermark mit Betreuungsraten bei den unter Dreijährigen von nicht einmal sieben Prozent und 81,6 Prozent bei den Drei- bis Fünfjährigen. Um in Österreich die Barcelona-Ziele zu erreichen, müssten in beiden Altersgruppen um die 70.000 neue Betreuungsplätze geschaffen werden.

Mangelnde Qualität.
Die Wiener Bildungspsychologin Christiane Spiel veranschaulicht die Vorteile, die der Besuch eines Kindergartens nach sich zieht: „Ganz abgesehen von der Qualität, wirkt sich alleine die Tatsache, dass ein Kind einen Kindergarten besucht hat, positiv auf den späteren Schulerfolg aus.“

Die Unicef hat die Wichtigkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen erkannt und sieht hier vor allem für sozial benachteiligte Kinder die Möglichkeit, durch adäquate Betreuung zumindest halbwegs gleiche Bildungschancen zu bekommen. In einer Studie wurden zehn Mindeststandards für eine adäquate Kinderbetreuung entwickelt und die OECD-Staaten darauf hin überprüft. Nur Schweden konnte alle zehn Kriterien erfüllen. Österreich kann nur bei fünf dieser Kriterien punkten. Zwei elementare Punkte konnten nicht erfüllt werden: dass mindestens ein Prozent des Bruttonationaleinkommens für Kindergärten ausgegeben wird und mindestens die Hälfte der Mitarbeiter in einem Kindergarten eine abgeschlossene, dreijährige Berufsausbildung für diesen Bereich haben.

Tatsächlich sehen die Arbeitsbedingungen für Kindergartenpädagoginnen alles andere als rosig aus. Derzeit kommen auf eine Pädagogin oft bis zu 25 Kinder in der Altersgruppe der Drei- bis Sechsjährigen. Als Mindestforderung gilt für die Unesco jedoch ein Betreuungsschlüssel von eins zu fünfzehn. Für Hilfskräfte in Kindergärten gibt es ohnedies keine Qualitätsanforderungen, oft fallen Pädagoginnen aus, dann wird die Gruppe von einer Person mit mangelhafter Ausbildung geleitet. Bei solch großen Gruppenzahlen kann schon gar keine Individualbetreuung stattfinden. Raphaela Keller vom Dachverband der Kindergarten- und Hortpädagoginnen war diesen Winter Organisatorin einer Demonstration, um die Öffentlichkeit über die katastrophalen Zustände zu informieren. „Wenn wir wirklich qualitativ arbeiten sollen, dürfte eine Pädagogin nur noch für maximal acht Kinder zuständig sein. Bei den unter Dreijährigen sollte die Gruppe maximal drei Kinder haben“, so Keller.

Die Bezahlung der Kindergarten- und Hortpädagoginnen ist miserabel, das Gehalt für eine Beschäftigung mit mindestens dreißig Stunden liegt derzeit zwischen 1100 Euro und 2100 Euro brutto. „So viel verdienen auch Hilfskräfte in der Müllaufbereitung“, meint die Familiensprecherin der Grünen, Daniela Musiol. Unter ihrer Leitung starteten die Grünen vergangenes Jahr die Initiative „Kindergartenschlamassel“ und sammelten auf einer Homepage Einträge von Eltern und Pädagoginnen über die Zustände in Österreichs Kindergärten. „Eine Pädagogin schrieb, dass vier Kolleginnen, die wegen Burn-out-Syndromen ausgefallen sind, von unqualifizierten Helferinnen ersetzt wurden“, berichtet Musiol. Überdies vermittelt das Arbeitsmarktservice (AMS) laut den Grünen arbeitslose Frauen ohne Ausbildung als solche Helferinnen.

Trotz dieser Zustände scheinen viele Eltern schon glücklich zu sein, wenn sie überhaupt einen Platz ergattern können. Über Monate suchte auch die PR-Beraterin Dagmar Gorden nach einem Platz für ihren zweijährigen Flavio, erleichtert fand sie einen Kindergarten im ersten Bezirk. „Mein Kind wurde schon vorher fremd betreut und war nie scheu. Doch dort ist Flavio extrem verfallen und hat fast ängstlich gebettelt, nicht mehr hinzumüssen“, erzählt Gorden. Stutzig wurde sie auch, als sie bemerkte, dass die Kinder nie ins Freie kamen – obwohl sie trotz Förderungen fast hundert Euro im Monat für einen Bewegungszuschlag und eine zweisprachige Betreuung drauflegen musste (die darin bestand, dass die ausländischen Kindergartenhelferinnen in brüchigem Englisch gelegentlich ein paar Worte zu den Kleinen sagten). Heute ist Flavio in einem neuen Kindergarten, von dem er am liebsten gar nicht mehr nach Hause gehen würde. „Ich kenne ­andere Mütter, die ihre Kinder dort auch nicht lassen wollten. Aber sie waren ­berufstätig und fanden keinen anderen Platz. Diese Situation muss unglaublich belastend sein, schließlich übergibt man diesen ­
Leuten das Kostbarste, das man hat“, so Gorden.

Obwohl Wien mit der Einführung des kostenlosen Kindergartenjahres in Österreich noch die besten Betreuungsraten hat, hat sich durch das kostenlose Kindergartenjahr die Situation verschärft. Personal wurde kaum aufgestockt, und auch zusätzliche Räume wurden nicht wie benötigt zur Ver­fügung gestellt. Die Plätze sind gegenwärtig so rar, dass sie vor allem für die fünfjährigen Kinder, die ab Herbst verpflichtend in den Kindergarten gehen müssen, reserviert ­werden und zudem für Eltern, die berufstätig sind. Eine arbeitslose dreifache Mutter bekam aus diesem Grund keinen Platz und musste sogar Jobangebote ausschlagen, da sie ­keine Kinderbetreuung vorweisen konnte. Paradoxon am Rande: Das Arbeitsmarktservice vergibt nur Arbeitsstellen an Personen, die eine Kinderbetreuung vorweisen können.

Zwei Kindergartenjahre.
Für eine dringende Verbesserung des „elementaren Bildungsbereiches“ – so die Fachbezeichnung – ist auch das Bildungsforschungsinstitut (Bifi). Direktor Josef Lucyshyn zeigt sich mit nur einem verpflichtenden Kindergartenjahr unzufrieden: „Ich plädiere für zwei verpflichtende Kindergartenjahre, um möglichst früh professionelle Förderung aller Kinder zu ermöglichen. Im Hinblick auf Berufstätige wäre Vorsorge für ein drittes freiwilliges Jahr optimal.“ Eine Studie der Universität Bielefeld belegt den volkswirtschaftlichen Nutzen von Investitionen in die frühen Lebensjahre. Jeder investierte Euro kommt bis zu einem Vierfachen zurück, da das Bildungsniveau gehoben wird, die Präventivmaßnahmen spätere teure Therapien ersparen und die Kinder zukünftig bessere Karrierechancen haben.

Wie akut der Handlungsbedarf ist, belegt die alarmierende Entwicklung der Kinder mit Sprachstörungen in Pflichtschulen. Laut jüngsten Daten der Wiener Sprachheilschule haben 19 Prozent der Pflichtschulkinder sprachliche Defizite. Das ließ Leiterin Irene Bauer Alarm schlagen: ­„Kinder mit Sprachentwicklungs­störungen tun sich erfahrungsgemäß auch schwer im Schrifterwerb. Außerdem sind sie hochgradig gefährdet, einem normalen Lehrplan nicht folgen zu können.“ Die Hauptursachen für diesen hohen Prozentsatz sieht Bauer im Schwinden der generellen Kommunikationsfähigkeit. Kindern wird immer seltener vorgelesen, sie werden vor den Fernseher gesetzt und berieselt. Dementsprechend ver­kümmern die sprachlichen Fähigkeiten.

Auch der Bewegungsmangel der Kinder, die in den Einrichtungen oft keine geeigneten Räume zum Toben haben, kann für die weitere Entwicklung fatale Folgen haben. „Es ist unumstritten bewiesen, dass die körperliche Entwicklung und der Bewegungsdrang auch maßgeblich mit der geistig-kognitiven und sozialen Entwicklung der Kinder zusammenhängen“, erklärt Erich Müller, Sportwissenschafter aus Salzburg. Durch vielfältige Bewegungsaufgaben am Spielplatz, die von den Kindern eigenständig gelöst werden müssen, bilden sich neuronale Querverbindungen im Gehirn, die Grundlage für jede Hirnfunktion. „Wir haben jedoch oft Kinder, die eingeschult werden sollen und motorisch auf einem Stand von Vierjährigen sind“, erzählt Irene Kellermayr, Sportwissenschafterin und Gründerin eines Sportkindergartens in Vöcklabruck. Dies kann nicht nur dazu führen, dass Kinder in der Schule Haltungsprobleme bekommen und nicht ruhig sitzen können, sondern auch Probleme haben, einen Stift richtig zu halten.

Die Ursache für das niedrige Betreuungsniveau sieht der Wiener Bildungswissenschafter Wilfried Datler im „Irrglauben, dass die Kinderbetreuung in den ersten Jahren auch von unausgebildeten Frauen geleistet werden kann, da sie ohnehin einen Mutterinstinkt haben“.
Für den Schweizer Kinderarzt und Autor Remo Largo stellt der Kontakt zu vielen anderen Menschen und vor allem Kindern einen elementaren Bestandteil der Entwicklung dar, der durch die schwindenden Geschwisterzahlen noch mehr an Bedeutung gewinnt: „Auch die beste Mutter kann andere Kinder nicht ersetzen.“

Förderwahn.
Kritisch äußert sich ­Largo in seinen Büchern wie „Kinderjahre“ über den „Förderwahn“ ­vieler Eltern, die ihre Kinder mit ­einer Vielzahl an Förderprogrammen überfordern: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“ ­Largo betont die unterschiedlichen ­individuellen Entwicklungen, die Kinder durchmachen. Nicht alle Kinder müssen mit sechs Jahren entwicklungs­psychologisch auf dem gleichen Stand sein, manche brauchen länger als andere, was nichts über ihren IQ aussagt.

Wichtiger wäre es für ihn, die große Schere zu schließen, auf deren einer Seite jene nervöse Eltern stehen, die aus ihrem Spross den nächsten Einstein machen wollen, und auf deren anderer jene aus unterprivilegierten Schichten, die nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu fördern.

Bildungspsychologin Christiane Spiel plädiert für „Erziehungspartnerschaften“: „Wir wissen, dass vor allem Kindergartenprojekte am erfolgreichsten waren, bei denen die Eltern einbezogen wurden und auch eine Beratung in Betreuungsfragen bekamen.“

Mittlerweile gibt es auch Programme für sozial benachteiligte Familien und vor allem Integrationsfamilien, die nicht nur mit Lernmaterialien und altersgerechten Kinderbüchern versorgt werden. Den Müttern wird im eigenen Heim auch gezeigt, wie optimale Kinderförderung ablaufen kann. „Wenn Eltern selbst nie Bücher vorgelesen bekamen, können sie das selbst meist auch nicht. Aber viele Frauen freuen sich und bedanken sich bei uns, da sie erfahren, was möglich und wie einfach es zu bewerkstelligen ist“, erklärt Liesl Frankl, Geschäftsführerin vom Hausbesuchungsprogramm für Eltern mit Vorschulkindern (HIPPY).

Solche Programme sollen dazu beitragen, Chancengleichheit zwischen den Kindern verschiedener sozialer Schichten herzu­stellen. Der ehemalige Stadtschulrat Kurt Scholz spitzt das Thema Chancengleichheit polemisch zu: „Es darf nicht sein, dass ein Kind schlechtere Startvoraussetzungen hat, nur weil es der Storch im Nest einer Migrantenfamilie am Brunnenmarkt anstatt in das eines Akademikerpaars aus dem ersten Bezirk abgeworfen hat.“