Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Eine vage Chance für Gaza

Eine vage Chance für Gaza

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Es gibt nur eine funktionierende Option, den Gaza-Konflikt unter Kontrolle zu bekommen: die Entsendung ­einer internationalen Truppe, die das Gebiet kontrolliert und verhindert, dass die Hamas weitere Raketen auf Israel abschießt und über die Grenze Waffennachschub erhält. Der Weg zu einer solchen Lösung ist bei Erscheinen dieses Kommentars hoffentlich bereits beschritten. Zumindest gibt es dafür Indizien: Ägyptens Präsident Mubarak hat sich für eine rasche Waffenruhe starkgemacht – und Israel schließt eine solche Waffenruhe nicht mehr kategorisch aus. Als Vorschussleistung könnte man betrachten, dass es sich bereit erklärt hat, seine Bombardements jeden Tag für drei Stunden zu unterbrechen, um humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Denn obwohl Tel Aviv nie viel auf die Weltmeinung gegeben hat, ist der Regierung bewusst, dass sie derzeit auch Freunde vergrault und sich in der arabischen und moslemischen Welt mit jedem Kriegstag mehr ewige Todfeinde macht.

Ohne internationale Garantie wird Israel, fürchte ich, dennoch weiterbomben, weil es zu Recht davon ausgeht, dass die Hamas, ohne internationale Grenztruppe, weiter Raketen abschießen wird.
Das Problem wird darin bestehen, die Zustimmung der Hamas zur Entsendung dieser Truppe zu erreichen, aber vielleicht sind internationaler Druck und Leidensdruck der Bevölkerung gemeinsam groß genug. Dann hätte die Offensive letztlich doch etwas Positives bewirkt. Andernfalls wird sie in meinen Augen nur Negatives ­bewirken: Der Hass der Palästinenser (nicht nur des Gaza­streifens) auf Israel wird ein solches Ausmaß annehmen, dass es der Hamas ein Leichtes sein wird, immer aufs Neue Selbstmordattentäter zu rekrutieren und Raketenstellungen inmitten von Wohnblöcken zu installieren. Der Hass der moslemischen und arabischen Welt wird einen Turboschub erfahren. Israel würde nicht sicherer, sondern unsicherer sein.

Die völkerrechtliche Frage, ob Israels Offensive als ­„legitimer Verteidigungskrieg oder Kriegsverbrechen“ (Armin Wolf in der „ZiB 2“) anzusehen ist, stellt sich eher theoretisch: Israel führt sicher einen „legitimen Verteidigungskrieg“, denn die Palästinenser feuern vom Gazastreifen mit immer mehr und immer weiter reichenden Raketen auf israelisches Staatsgebiet. Das ist in zweifacher Hinsicht ein Kriegsverbrechen seitens der Hamas: zum einen, weil die Raketen in Israel mit größter Wahrscheinlichkeit zivile Ziele treffen und sich höchstens zufällig in eine militärische Einrichtung verirren, zum anderen, weil es verboten ist, ­Raketenstellungen innerhalb ziviler Wohnviertel einzurichten und die Zivilbevölkerung als „Deckung“ zu missbrauchen, wie die Hamas das systematisch tut.

Gleichzeitig ist Israels Gegenschlag nach gängiger Auffassung wohl ein Kriegsverbrechen, weil er nach der gleichen gängigen Auffassung schwerlich das Gebot der „Verhältnismäßigkeit“ erfüllt: Für eine Hand voll durch Raketen getötete Israelis starben bisher hunderte Palästinenser und wurden tausende verwundet. Allerdings weiß niemand, wie man Raketenstellungen eliminiert, ohne „unverhältnismäßig“ viele Zivilpersonen zu töten. Man kann durch Luftüberwachung feststellen, wo ­Raketen abgefeuert wurden, und diese Stellen möglichst ­genau bombardieren – aber wenn es sich dabei um ein Wohnhaus oder einen Schuppen neben einer Schule handelt, ist unvermeidlich, dass dabei „unverhältnismäßig viele“ Zivilpersonen zu Schaden kommen. Scheinbar genauer sollten Bodentruppen diese Aufgabe erledigen können, aber auch das ist ungewiss: Kämpfer, die sich in einem Gebäude verbarrikadiert haben, können ­Angreifern, die sich auf einer freien Straßenfläche bewegen, enormen Widerstand entgegensetzen – das heißt, sich so lange halten, bis alles rund um sie kurz und klein geschossen ist. Womit wir wieder bei unverhältnismäßig vielen zivilen Opfern wären.

Vor allem aber sehen die Israelis nicht ein, warum sie ihre Soldaten massiver Gefährdung aussetzen sollen, wenn ein rascher Volltreffer die Sache rascher – und für sie gefahrloser – erledigt, denn es waren eindeutig die Palästinenser, die damit begonnen haben, Raketen nach Israel zu schießen und nicht umgekehrt. Die Frage des „Kriegsverbrechens“ lässt sich nicht von der Frage der „Kriegsschuld“ trennen: Es gäbe überhaupt kein Blutvergießen im Gazastreifen, wenn keine Raketenangriffe gestartet worden wären. (Und Israel hat auch nicht gleich auf die erste Rakete mit einer Offensive geantwortet, sondern erst nachdem tausende Raketen niedergegangen sind.)

Es kann auch bei niemandem, der in dieser Sache redlich zu denken bereit ist, ein Zweifel darüber bestehen, dass die Hamas immer mehr und immer größere Raketen abfeuerte, wenn ihr keine militärische Vergeltung drohte: Sie will ­unvermindert Israels Vernichtung – auch wenn sie dazu nicht entfernt in der Lage ist. Israel will zwar nicht die Vernichtung des Palästinenserstaats, aber es ist nicht in der Lage, ihn ernsthaft zu wollen. Sonst hätte es ihm längst die notwendigen Verkehrsver­bindungen ermöglicht, seine Siedlungen geräumt und die Wirtschaftsbeziehungen gestärkt, statt sie immer wieder zu kappen. Dann hätten Hass und Stärke der Hamas kaum ihr heutiges Ausmaß erreicht. Ohne Veränderung in den Köpfen beider Seiten wird ­jeder Waffenstillstand wirklich nur die befristete Unterbrechung eines permanenten Kriegszustands sein.

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