Georg Hoffmann-Ostenhof

Rückwärtsrollen

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Zerrissen, ausgezehrt, führungsschwach: So stellte sich die große linke Volkspartei Deutschlands, die SPD, dar. Ein historischer Tiefststand jagte den andern. Zuletzt grundelte die einst stolze sozialdemokratische Massenpartei in Popularitäts-Umfragen zwischen 22 und 26 Prozent. Tendenz weiter fallend. Schon tat sich die Desaster-Perspektive auf, die SPD werde demnächst die magische 20-Prozent-Schwelle unterschreiten und zu einer von mehreren deutschen Mittelparteien schrumpfen. Da wurde die Notbremse gezogen.

Ende vorvergangener Woche musste der ungeliebte Parteichef Kurt Beck gehen. Man installierte eine Doppelspitze: Außenminister Frank-Walter Steinmeier wurde zum Kanzlerkandidaten gekürt, Franz Müntefering dazu designiert, den Parteivorsitz zu übernehmen. Es war eine Rückwärtsrolle. Mit dieser Doppelspitze präsentiert die Partei zwei Schröderianer. Steinmeier war in der rot-grünen Ära der getreue Eckart von Regierungschef Gerhard Schröder im Kanzleramt. Und der langjährige Schröder-Intimus Müntefering übernimmt nun wieder den Parteivorsitz, den er 2005, damals noch Vizekanzler in der großen Koalition, abgegeben hatte. Ob dieses als zukunftsträchtig verkaufte politische Manöver den Abwärtstrend der SPD stoppen, die Partei wieder einigen kann und die sozialdemokratischen Brüder demnächst wieder zur Sonne streben werden, ist noch nicht auszumachen.

Geradezu unheimlich erscheint freilich, wie sehr die Situation der SPÖ jener ihrer deutschen Schwesterpartei ähnelt. Die SPÖ hatte bei den Demoskopen fast identisch katastrophale Umfragewerte wie die SPD. Auch bei uns musste jüngst mit Alfred Gusenbauer ein Sozialdemokratenchef gehen, der bei den Wählern nicht und nicht ankommen wollte, als denkbar uncharismatisch galt und dem es in der eigenen Partei an Autorität mangelte. Und auch hier ist noch nicht klar, ob das Revirement an der Spitze aus der Misere herausführen wird.

Damit enden die Parallelen aber auch schon. Das Aufregende am Vergleich zwischen den beiden Sozialdemokratien ist dann doch die Differenz. Sagen wir es überspitzt: In Deutschland wird die Partei von Linsradikalen bedrängt, in Österreich von Rechtsextremen. Die SPD muss fürchten, dass ihre Wähler zur antikapitalistischen und antimilitaristischen Linkspartei abwandern, die SPÖ hingegen verliert regelmäßig und wieder in zunehmendem Maß Stimmen an FPÖ und BZÖ, an die nationalistischen Anti-AusländerParteien des dritten Lagers. Unzufriedenheit geht in Österreich nach rechts, in Deutschland nach links. Warum besteht bei allen Ähnlichkeiten dieser fundamentale Unterschied zwischen der Situation der deutschen und jener der österreichischen Sozis? Es ist die Vergangenheit, die hier machtvoll in die Gegenwart hineinragt.

Die deutsche Linke war seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts gespalten, in Reformisten und Revolutionäre, in Moderate und Radikale. Der deutsche Kommunismus war stark. In seinen Anfängen brachte er so herausragende Figuren wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hervor, verkam dann in furchtbarer Weise zu einer Filiale der Stalin’schen Herrschaft in Moskau, um dann nach dem Krieg und dem Untergang des Dritten Reichs als Staatspartei der Deutschen Demokratischen Republik, kurz SED, wiederaufzuerstehen. Die Linkspartei, die heute bei den Sozialdemokraten absahnt, stammt unter anderem aus der politischen Konkursmasse der SED.

In Österreich aber hatte die KPÖ – mit Ausnahme der Zeit, in der sie im Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft stand – nie reales Gewicht in der Politik. Während die KPD in der Weimarer Republik stark in den deutschen Parlamenten vertreten war, zeigte sich der österreichische Nationalrat fast immer frei von Kommunisten. Nur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einige kommunistische Abgeordnete. Der österreichischen Sozialdemokratie, die in der Zwischenkriegszeit dafür bekannt war, sich rhetorisch radikal zu gebärden, in der Praxis aber pragmatisch zu agieren, gelang es immer wieder, die Einheit der Linken in einer Partei zu wahren – bis zum heutigen Tag: Nur die Gründung der Grünen in den achtziger Jahren hat ein wenig linke Energie aus der SPÖ abgeleitet.

Es kommt noch etwas hinzu: Die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, allen voran die USA, entnazifizierten den freien Teil Deutschlands fundamental. Die Österreicher jedoch erlebten nicht jene „Reeducation“, der die Deutschen nach 1945 unterworfen wurden. Wir waren ja nicht Täter, sondern „Opfer“ des Nationalsozialismus. Diese bequeme historische Lebenslüge, die aus nicht unverständlichen Gründen so lange aufrechterhalten wurde, hat sich bitter gerächt: Im Unterschied zu anderen westeuropäischen Ländern, in denen das Reservoir von rechtsextremen Wählern bei zehn bis 15 Prozent liegt, können in Österreich Parteien wie die FPÖ und das BZÖ, deren ideologische Herkunft offensichtlich ist, potenziell bei bis zu 30 Prozent des Elektorats Anklang finden.

Bleiben wir bei den Unterschieden, und wagen wir eine Prognose. Wahrscheinlich noch nicht bei den nächsten Bundestagswahlen 2009, aber gewiss in absehbarer Zukunft wird in unserem nördlichen Nachbarland das Tabu gebrochen werden, nicht mit der Konkurrenz von links zu koalieren. In Österreich aber wird es nicht nur nicht dieses Jahr, sondern auch später kaum zu einer Koalition der SPÖ mit der Konkurrenz von ganz rechts kommen. Solches würde die Partei vollends zerreißen. Und das hat seine Logik. Die Erfahrung zeigt: Nur ganz wenigen Parteien der extremen Rechten gelingt es, sich zu zivilisieren. Die Sozialdemokratisierung von ehemals linkslinken Parteien aber kann zuweilen sehr rasch vor sich gehen – siehe etwa die Mehrheit der ehemaligen kommunistischen Parteien Osteuropas.