„Rückzug wäre ein gewaltiger Fehler“

„Rückzug wäre ein gewaltiger Fehler“: Autor Ahmed Rashid über den Afghanistan-Krieg

Autor Ahmed Rashid über den Afghanistan-Krieg

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profil: Die Situation in Pakistan und Afghanistan ist im Moment recht verwirrend. Verlieren die pakistanischen Taliban, wie Islamabad behauptet? Und gewinnen die Taliban in Afghanistan?
Rashid: In den vergangenen Wochen haben die pakistanischen Taliban eine Reihe von schweren Anschlägen verübt. Es ist ihnen gelungen, die Bevölkerung und die Sicherheitskräfte zu terrorisieren. 150 Personen sind dabei getötet worden. Im Moment unternimmt die pakistanische Armee gerade eine militärische Offensive in Südwasiristan, der Hochburg der pakistanischen Taliban. Wir müssen abwarten, wie die Schlacht in diesem Stammesgebiet ausgeht.

profil: Kann die Offensive erfolgreich sein?
Rashid: Ich hoffe und glaube es. Es wird sehr stark davon abhängen, wie sich die pakistanische Armee danach verhält: Hilft sie den Flüchtlingen, kümmert sie sich um Wiederaufbau, bleibt sie in der Region und hält Städte und Dörfer, die sie gesichert hat? In der Vergangenheit hat die Armee ein Gebiet erobert und ist dann wieder abgezogen – was nur dazu führte, dass die Taliban sofort zurückgekommen sind. Die prinzipielle Kapazität, militärisch zu gewinnen, hat sie. Aber selbst wenn die Taliban in Südwasiristan geschlagen werden, bleibt noch Nordwasiristan, ein anderes Stammesgebiet, wo die afghanischen Taliban ihre Basis haben. Dort hat die pakistanische Armee noch nicht angegriffen. Und was Afghanistan betrifft: Es stimmt, man hat den Eindruck, dass dort die Taliban gewinnen. Natürlich hat das Wahlchaos die Situation noch verkompliziert.

profil: Sie kennen den afghanischen Präsidenten Hamid Karzai persönlich. Was sagen Sie zum Vorwurf, die Präsidentschaftswahl sei von der Regierung gefälscht worden?
Rashid: Offensichtlich ist das in großem Stil geschehen. Ich persönlich bin sehr enttäuscht. Die Regierung, Mitglieder der Karzai-Familie und sein Kabinett haben das geplant. Das ist eine Schande. Nicht zuletzt gefährdet es die internationale Unterstützung für Karzai. Nach diesen Wahlen hat die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, internationale Hilfe für Afghanistan zu mobilisieren, abgenommen. Karzai geniert sich offensichtlich. Gleichzeitig aber wird er immer arroganter.

profil: Vergangenen Dienstag hat Karzai nach langem Zögern doch einem zweiten Wahlgang zugestimmt.
Rashid: Ja, das ist gut. Aber eine Stichwahl ist sehr schwer zu organisieren – vor allem jetzt, wo der Winter naht. Es hätte noch die Alternative bestanden, eine Regierung der nationalen Einheit mit seinem Rivalen Abdullah Abdullah zu bilden. Aber das hat Karzai abgelehnt.

profil: Zurück zu Pakistan: Sie haben die Terroroffensive der Taliban in den vergangenen Wochen erwähnt. Das Neue ist doch, dass es ihnen offenbar gelingt, in nicht paschtunischen Provinzen erfolgreich Operationen durchzuführen. Heißt das, die Taliban sind besser organisiert, als man angenommen hat?
Rashid: Leute wie ich haben seit Langem darauf hingewiesen, dass die Taliban eine breite Koalition mit verschiedenen islamistischen Gruppierungen im Land aufgebaut haben: im Punjab, in Sindh, Belutschistan und den anderen drei Provinzen des Landes. In Kaschmir kämpfen Islamisten gegen die Inder, Organisationen aus der Punjab-Provinz ermorden pakistanische Schiiten. Diese Allianzen erhöhen natürlich die Fähigkeit der Taliban, Selbstmordanschläge zu verüben und Angst und Schrecken im Land zu verbreiten.

profil: Wie stark können die radikalen Islamisten in Pakistan auf Unterstützung in der Bevölkerung rechnen?
Rashid: Ich glaube, es gibt keine massenhafte Unterstützung für sie. Die Leute sind entsetzt über das Ausmaß, das der Taliban-Terrorismus angenommen hat. Natürlich gibt es eine kleine Minderheit von Extremisten, die mit diesem Terror sympathisieren. Aber die Bevölkerung im Allgemeinen lehnt ihn vehement ab.

profil: Und im Militär – gibt es da noch eine Unterstützung der Islamisten?
Rashid: Kaum. Das Militär ist ebenfalls entsetzt über den Terror, vor allem seit die Taliban und andere Gruppen Einrichtungen des Heeres und der Polizei direkt attackieren. Aber eine sehr kleine Gruppe in der Armee sympathisiert mit den Islamisten. Einige der Leute, die kürzlich das Armee-Hauptquartier in Rawalpindi angegriffen haben, waren ehemalige Militärs.

profil: Umfragen zeigen, dass die Pakistanis die Islamisten fürchten, gleichzeitig aber in den Amerikanern eine ebenso große Gefahr für das Land sehen. Wie interpretieren Sie das?
Rashid: Mit den Umfragen ist das nicht so einfach. Die werden meistens von amerikanischen Instituten durchgeführt, die nicht so leicht verstehen, was in den Köpfen der Pakistanis vor sich geht. Zweifellos ist der Antiamerikanismus in Pakistan sehr stark. Aber da hat sich in den letzten Monaten einiges verändert. Seit im August Baitullah Mehsud, der Führer der pakistanischen Taliban, getötet wurde, erleben wir einen Meinungsumschwung innerhalb der sunnitischen Bevölkerung. Es stimmt: Die Leute mögen die Amerikaner nicht. Aber der Hass auf die Taliban ist noch viel größer.

profil: Wir haben jetzt über die Taliban geredet. Wie bedrohlich ist aber Al Kaida immer noch?
Rashid: Ich glaube, man kann Al Kaida nicht von den Taliban trennen. Die beiden arbeiten sehr eng zusammen. Wenn etwa Leute von Al Kaida aus Europa nach Pakistan oder Afghanistan anreisen, dann werden sie von pakistanischen oder afghanischen Taliban trainiert. Da wird viel von den Taliban und Al Kaida gemeinsam gemacht.

profil: Wissen Sie, ob auch Österreicher in der Region von Al Kaida trainiert werden?
Rashid: Wir wissen von Deutschen – etwa 90 sind nach Pakistan gekommen –, von Schweden und Briten. Wir haben keine Hinweise darauf, dass auch Österreicher involviert wären.

profil: Ist es denkbar, dass sich die Taliban oder andere Radikale der pakistanischen Atomwaffen bemächtigen?
Rashid: Die Tatsache, dass es die Taliban geschafft haben, das Hauptquartier der Armee in Rawalpindi anzugreifen und 22 Stunden zu belagern, hat die Sorge um die Sicherheit der Atomwaffen natürlich extrem verstärkt. Aber ich glaube, wir sind weit davon entfernt, dass sie in den Besitz der Atomwaffen gelangen. Das pakistanische Militär bewacht die Nuklearwaffen sehr gut. Ich glaube, dass die Taliban nicht einmal wissen, wo sie aufbewahrt sind.

profil: Halten Sie die neue Afghanistan-Strategie der USA, mehr Truppen zu schicken und gleichzeitig mit den Taliban zu verhandeln, für erfolgversprechend?
Rashid: In Afghanistan ist es sicherlich notwendig, mit Aufständischen zu reden. Viele von ihnen fühlen sich der Ideologie der Taliban ja nicht verpflichtet. In Pakistan liegt der Fall anders: Dort gibt es viel mehr ideologische Hardliner – sie wurden in Koranschulen ausgebildet und befinden sich bereits lange Zeit im Widerstand: Es ist möglicherweise viel schwieriger, mit ihnen zu reden als mit den Taliban in Afghanistan.

profil: In den USA, aber auch in Europa mehren sich in letzter Zeit die Stimmen nach einem schnellen Abzug der Truppen aus Afghanistan – der Krieg scheint nicht zu gewinnen.
Rashid: Ein Rückzug der westlichen Truppen wäre ein gewaltiger Fehler. Die Bedrohung Amerikas und Europas durch Al Kaida ist immer noch sehr groß, genau wie die Bedrohung Pakistans durch militante Gruppen. Das können wir nicht ignorieren. Afghanistan zu verlassen hieße, die gesamte Region zu verlassen. Außerdem sehe ich die große Gefahr, dass bei einem Rückzug aus Afghanistan alle Nachbarländer wieder beginnen würden, ihre Handlanger zu finanzieren. Und was dabei herauskommt, haben wir in den neunziger Jahren gesehen: ein brutaler Bürgerkrieg.

profil: Schon jetzt führen die USA Luftangriffe in Pakistan durch. Sollten sie ihre Operationen möglicherweise auch am Boden über die Grenze aus­weiten?
Rashid: Nein, ich denke, dass die pakistanische Armee damit schon alleine zurechtkommt. Was man braucht, ist eine politische Strategie, um die Regierung und das Militär in Pakistan davon zu überzeugen, weiterhin Druck auf die Taliban zu machen. Der Westen sollte seine Präsenz in Afghanistan ausweiten, das aber mit Entschlossenheit.

profil: Die neue Strategie ist also richtig?
Rashid: Ja, die Strategie, die Obama bereits im März präsentiert hat, ist die richtige. Das US-Militär braucht mehr Soldaten in Afghanistan, gleichzeitig braucht aber auch der zivile Wiederaufbau mehr Ressourcen. Und es braucht mehr Personal, um die afghanische Polizei und das Militär auszubilden, nicht zu vergessen den öffentlichen Dienst. Wir benötigen dort insgesamt eine stärkere amerikanische und internationale Präsenz.

profil: In den vergangenen Jahren ist mit der Präsenz aber unzweifelhaft auch der Widerstand gewachsen.
Rashid: Das liegt meiner Meinung nach dar­an, dass es zu Beginn einen Mangel an Ressourcen gab. Zwischen 2001 und 2007 haben wir keine ausreichenden Investitionen in Afghanistan gesehen – weder von den Amerikanern noch von sonst jemandem. Es braucht Zeit, das wieder umzudrehen. Das geht nicht binnen sechs Monaten, da müssen wir schon geduldig sein und ein, zwei Jahre warten, bis wir Resultate sehen. Das geht auch nur, wenn wir der Regierung in Kabul beistehen, den Prozess des Aufbaus voranzutreiben und die Korruption auszumerzen.

profil: Wie viele Soldaten sollten die USA zusätzlich schicken: 20.000? 40.000?
Rashid: General Stanley McChrystal (der Amerikaner ist Oberbefehlshaber der westlichen Truppen in Afghanistan, Anm.) sollte so viele Soldaten bekommen, wie er maximal braucht. Es würde nicht viel Sinn machen, weniger zu schicken, das würde bloß zu einer Verschlechterung der Lage führen. Wenn kurzfristig eine große Zahl von Truppen zur Verfügung steht und gleichzeitig die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte beschleunigt wird, können sich schon während des nächsten Jahres Ergebnisse zeigen.

profil: Ist es möglich, den Widerstand in Afghanistan aufzuspalten?
Rashid: Mit der obersten Führung der Taliban wird man nur sehr schwer verhandeln können, weil die sehr ideologisch und sehr eng mit Al Kaida verbunden ist: Dieser Teil der Taliban muss militärisch besiegt werden. Dennoch: Es gibt sehr viele, mit denen man auf jeden Fall reden kann: etwa Kommandanten in der mittleren Ebene oder Aufständische, die nicht aus ideologischen Gründen kämpfen, sondern für Geld oder aus Rache für getötete Angehörige …

profil: … die möglicherweise durch Luftschläge von US-Truppen ums Leben gekommen sind. War der Friedensnobelpreis für US-Präsident Barack Obama gerechtfertigt?
Rashid: Ich bin ein großer Bewunderer von Obama, er hat die US-Außenpolitik stark zum Besseren verändert. Aber es war voreilig, ihm den Nobelpreis zu geben. Das hätte man machen können, wenn er tatsächlich erfolgreich gewesen wäre – sei es im Nahen Osten, in Afghanistan, im Iran oder in irgendeinem anderen der sehr komplizierten Themenbereiche, mit denen er es momentan zu tun hat.

Georg Hoffmann-Ostenhof