„Ich bin nicht die Freiheitsstatue"

Salman Rushdie: „Ich bin nicht die Freiheitsstatue"

Salman Rushdie. Der britische Romancier über Arabien, Agenten und Autobiografen

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Die Assistentin bittet um Nachsicht. Der Konferenzraum der Agentur sei gerade belegt, ob man stattdessen in das Sitzungszimmer ausweichen könne, wenige Schritte den Flur entlang? Das profil-Interview mit Salman Rushdie, einem der ­bekanntesten Autoren der Gegenwart, findet in einem schmalen, von wuchtigen Möbeln dominierten Zimmer mit Ausblick in einen Lichtschacht statt, im 21. Stockwerk eines New Yorker Hochhauses, 57th Street, in einer Ersatzräumlichkeit der renommierten Literaturagentur Wylie. Rushdie, 65, ist an diesem Tag im Frühwinter leicht erkältet, mit belegter Stimme erinnert er sich an die Zeit der Fatwa, den im Februar 1989 durch den greisen iranischen Despoten Ayatollah Khomeini erfolgten Mordaufruf gegen den Schriftsteller, der von der Gruppierung „15 Khordad Foundation“ soeben erneuert wurde.

Dem Wahnsinn des religiösen Eifers stemmt Rushdie die 700 Seiten seiner jüngst publizierten Autobiografie „Joseph Anton“ entgegen, die erstaunliche Einblicke in das Leben eines Mannes unter Todesdrohung und in die Anatomie des gottesfürchtig motivierten Irrsinns gewährt. Allen Kopfgeldjägern zum Trotz bewegt sich ­Rushdie, in grauem Anzug und leichter Leibesfülle den Charme ­eines freundlichen Bankfilialleiters versprühend, als freier Mann durch New York, seit mehr als zehn Jahren seine Wahlheimat. Am wechselnden Geschick der Stadt nimmt er regen Anteil. Kürzlich suchte Hurrikan „Sandy“ die Ostküstenmetropole heim. Nahe der Wylie-Agentur knickte der Sturm den Ausleger eines Krans auf Wolkenkratzer-Ebene; seit damals sind die Einsatzkräfte mit der ­Sicherung und Bergung des wankenden Stahlungetüms beschäftigt. Auf seinem Handy, in dessen Tastatur der Literat, Essayist und Filmemacher mit fliegenden Fingern Nachrichten tippt, hat Salman Rushdie den Kranunfall fotografisch dokumentiert. Nach dem ­Gespräch eilt Rushdie Richtung Taxistand, Ecke 52th und Broadway. Er müsse, so der Autor, an seinen Schreibtisch zurück.

profil: Am Valentinstag 1989 wurden Sie von einer Reporterin gefragt, wie es sich anfühle, vom iranischen Despoten Ayatollah Khomeini zum Tode verurteilt worden zu sein. Wie erlebten Sie diesen Augenblick?
Rushdie: Es war beängstigend. Vier Wochen vor Ausrufung der Fatwa am 14. Februar wurde mein Roman „Die satanischen Verse“ in Bradford öffentlich verbrannt. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte sich die Affäre in eine alarmierende Richtung – nicht so sehr aufgrund der Tatsache, dass ein religiöses Edikt zu meiner Ermordung erlassen worden war. Dramatisch war, dass dem religiösen Eiferer eines Landes ­Todesschwadronen zur Seite standen.

profil: Sie mussten buchstäblich mit nichts als Ihren Kleidern am Leib die Flucht ergreifen?
Rushdie: Als ich meine Wohnung verließ, dachte ich noch, dass ich nur ein, zwei TV-Interviews zur Sache geben werde. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich nicht mehr in mein Apartment zurückkehren sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits einige Bücher veröffentlicht – plötzlich war ich nicht mehr wert als der Staub zu meinen Füßen. Ich hatte mich in ein Ziel verwandelt und befand mich unversehens in einem mir gänzlich fremden Leben.

profil: Wann wurde Ihnen klar, dass die Situation absehbar kein Ende finden würde?
Rushdie: Nach einer Woche. Zuvor dachten alle Beteiligten, die Angelegenheit sei nach spätestens sieben Tagen ausgestanden. Die Polizei riet mir, mich ruhig zu verhalten und das Licht der Öffentlichkeit zu meiden. Einige Tage darauf dämmerte allen, dass die diplomatischen Bemühungen umsonst waren. Ärger breitete sich aus, weil viele nicht verstanden hatten, dass sie nun in ein Langzeitprojekt verwickelt waren. Viele hatten zuvor noch gedacht, der Fall werde sich rasch von selbst erledigen.

profil: Stattdessen avancierte die so genannte Beschützeraktion „Malachit“ zu einer der längsten in der Geschichte des britischen Geheimdiensts.
Rushdie: Je länger sie andauerte, desto mehr reifte in den Beamten die Erkenntnis, dass es sich dabei auch um eine der gefährlichsten handelte. Die Agenten von Scotland Yard, die zu meiner Bewachung abgestellt waren, wurden bald zu geheimen Superstars der Beschützerwelt. Mitglieder des „Malachit“-Teams erwarteten, dass man zu ihnen aufschaute: „Oh, du machst das!“

profil: Welches Bild drängt sich Ihnen heute auf, wenn Sie an die Zeit nach der Ausrufung der Fatwa denken?
Rushdie: Die Ereignisse und die darin involvierten Menschen scheinen in helles Licht getaucht, ohne eine Spur von Schatten. Es gibt in diesem Bild nur Gut oder Böse, Richtig oder Falsch, Ja oder Nein, Feigheit oder Mut, Stärke oder Schwäche. Eine vollends ausgeleuchtete Welt, ohne Mitte.

profil: Der Schweizer Autor Robert Walser bemerkte einst, Nervenheilanstalten seien die Klöster der Moderne. Sie wurden gezwungenermaßen zum Einsiedler, bedroht von unzurechnungsfähigen Fanatikern.
Rushdie: Absolut. Viele machten sich damals folgendes Bild von mir: Der fristet sein Leben in luxuriöser Einsamkeit. Tatsächlich befand ich mich inmitten einer Vielzahl von Menschen. Wie viele Schriftsteller bin auch ich die Einsamkeit gewohnt, ich mag das Alleinsein, nicht zuletzt um meiner Arbeit willen. Das Problem damals war die Abwesenheit von Einsamkeit, die ständigen Ortswechsel. Mein Leben bekam den Charakter eines endlosen Umzugs. Es ist bereits kompliziert, sich ein Haus mit vier Männern zu teilen, mit denen man befreundet ist. Handelt es sich dabei um vier schwer bewaffnete Agenten, so können aus der Situation gravierende Probleme erwachsen: Das Gefühl der Klaustrophobie hatte nichts mehr mit der Angst vor dem Eingesperrtsein, sondern mit zwischenmenschlicher Nähe zu tun.

profil: Hielten sich Ihre Bewacher im Hintergrund, während Sie schrieben?
Rushdie: Bereits als junger Autor entwickelte ich die Fertigkeit, die Welt um mich gleichsam mit einem Fingerschnippen auszublenden und meine gesamte Konzentration dem weißen Blatt Papier auf dem Tisch zu widmen. Als eine der wenigen positiven Folgen der Zeit, in der ich mich verstecken musste, kann ich nun tatsächlich im Auge des Orkans arbeiten. In jedem noch so engen Raum, in dem 20 Menschen lachen und reden, kann ich heute problemlos schreiben. Damals schrieb ich, um am Puls des Lebens zu bleiben.

profil: Erfuhren Sie Neues über sich in den Jahren, in denen Sie sich verborgen halten mussten?
Rushdie: Sehr viel. Hätte mir jemand im Februar 1989 gesagt, was in den kommenden zwölf Jahren auf mich zukommen würde, ich hätte gemutmaßt, dass ich gegen Ende dieser Tortur als menschliches Wrack dastehen würde. Tatsächlich fühlte ich mich keineswegs am Boden zerstört, als ich durch den schwarzen Tunnel des Versteckt-sein-Müssens wieder ans Tageslicht drang. Möglicherweise lassen sich Widerstandskräfte ent­wickeln, an die man vorher nicht geglaubt hat.

profil: Laut eigenen Aussagen lernten Sie damals, stundenlange Telefongespräche zu führen oder sich nächtelang schlechten TV-Serien zu widmen.
Rushdie: Ich weiß jetzt auch, wie Geheimagenten Örtlichkeiten prüfen. Es gibt nur zwei Gruppen von Menschen, die Räume so betreten: Kriminelle und Sicherheitsleute. Ich bin ferner in der Lage zu erkennen, ob ich als Autofahrer verfolgt werde und wie Häscher abzuschütteln sind. Ich lernte ein paar wirklich interessante Tricks.

profil: Viele wollen in Ihnen eine Ikone der freien Rede erblicken. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Rushdie: Das ist schmeichelhaft, ich fühle mich aber nicht sehr symbolisch. Ein massives Problem der Jahre im Verborgenen waren die Zuschreibungen, die meine Person betrafen: Menschen, die mir feindlich gesinnt waren, betrachteten mich als Ausgeburt des Satans, als dämonische Macht. All jene, die auf meiner Seite standen, beschrieben mich als idealisierten Zeitgenossen, als eine Art Freiheitsstatue. Schauen Sie mich an: Ich bin nicht die Freiheitsstatue!

profil: Fühlen Sie sich als Vorkämpfer der Freiheit?
Rushdie: Natürlich bin ich leidenschaftlich besorgt über die Einschränkung der freien Rede, die nicht nur mich in Mitleidenschaft zog, sondern viele Künstler. Dennoch bin ich vor allem Autor, der eine Arbeit zu erledigen hat. In „Joseph Anton“ wollte ich über echte Menschen schreiben, die in den Strudel fataler Ereignisse geraten, die weder Helden noch Bösewichte sind. Mich selbst nehme ich da nicht aus.

profil: Sie klangen ernst, als Sie einst sagten, dass Sie das Wort „exotisch“, bezogen auf Ihre Art des Schreibens, hassten. Man glaubt Ihnen nicht ganz.
Rushdie: Leider. Mit 14 kam ich von Bombay nach London, die europäische Welt hinterließ in mir einen surrealen Eindruck. Einer der Vorteile meines größtenteils von Reisen bestimmten Lebens ist, dass sich viele Orte auf dem Globus vertraut anfühlen. Kafka war nie in Amerika, schrieb dennoch darüber. Sein Amerika ist ein geträumtes, imaginiertes, verfremdetes. Wenn ich ein Buch über New York schreibe, so mache ich das aus der Perspektive eines New Yorkers.

profil: Bombay, London, New York: Würden Sie sich als internationalen Autor bezeichnen?
Rushdie: Was bedeutet das? Heißt das etwa, dass man auf der Oberfläche der Welt dahingleitet, nirgendwo dazugehört? Es gibt eine vollkommen uninteressante Art von internationaler Literatur, die sich in letzter Konsequenz als allerorten erhältlicher Flughafenroman tarnt, der sich international gibt, es aber nicht ist. In meiner schriftstellerischen Arbeit ist die Verortung des Geschehens maßgeblich. Müsste ich eine Bezeichnung für meine Art des Schreibens finden, würde ich mich „Metropolen-Autor“ nennen.

profil: Dem Land können Sie nichts abgewinnen?
Rushdie: Städte sind für mich Inspiration und Heimat, ich liebe das Leben in den Großstädten. Einer meiner Freunde, der Schriftsteller Ian McEwan, hat sich kürzlich ein Haus außerhalb Londons gekauft, mitten auf dem Land. Dort wohnen zu müssen wäre für mich ein Zwangsaufenthalt in der Hölle. Was macht man auf dem Land? Aus dem Fenster schauen? Den Vögeln lauschen? Und dann?

profil: Planten Sie vor Ausrufung der Fatwa bereits, irgendwann Ihre Autobiografie zu verfassen?
Rushdie: Wäre ich von der Fatwa verschont geblieben, hätte ich niemals meine Memoiren verfasst. Das ist keine literarische Gattung, derentwillen ich Schriftsteller wurde. Ich bin Autor, um Geschichten über andere Menschen, nicht über mich selbst zu erzählen. „Joseph Anton“ schrieb ich schließlich, weil diese Geschichte erzählt werden musste, weil es sich dabei um eine Art Schallraum handelt, in dem Spuren aufscheinen, in die wir alle verwoben scheinen. Also begann ich auf vorerst visuelle Weise über das Phänomen des Selbstporträts nachzudenken. Ich erinnerte mich an zahlreiche Besuche in den florentinischen Uffizien, wo viele Selbstbildnisse Alter Meister hängen. Dürer glaubte von sich, er sei mit Abstand der schönste Mann seiner Epoche, seine Selbstporträts sind von makelloser Schönheit. Demgegenüber stehen die Eigenbildnisse Rembrandts, der sich mit zunehmendem Alter als hinfälligen Künstler darstellte. Rembrandt malte sich wahrheitsgemäß, schön und erschreckend zugleich. „Joseph Anton“ wollte ich auf diese Weise schrei­ben: Erzähl deine Geschichte, sei wahrhaftig, blicke in den Spiegel und erzähle, was dir wirklich und tatsächlich entgegenblickt.

profil: Spätestens seit 1989 scheinen die Bereiche Humor und Religion strikter denn je zuvor voneinander getrennt. Darf man über Glauben keine Witze mehr machen?
Rushdie: Zumindest über eine Glaubensrichtung nicht. Die Filme von Woody Allen sind voller Witze über das Judentum, Monty Python machte sich über das Christentum lustig. Und? Nichts passierte. Die Welt löste sich nicht in einem Flammenmeer auf. So sollte es sein, das entspricht dem reifen Umgang mit der Welt. Es existiert nur eine Religion, die dessen nicht fähig ist. Sie sollte schnell wieder Sinn für Humor entwickeln.

profil: Die arabische Welt steht seit geraumer Zeit im Zentrum des Interesses. Gibt es eine arabische Welt überhaupt? Oder eher viele davon?
Rushdie: Sehr viele. Ich bin keineswegs ein Experte des arabischen Raums, ich habe kaum eines der Länder dort bereist, ich spreche nicht Arabisch. Ich bin ein Betrachter aus der Distanz. Klar scheint jedoch, dass die islamische Welt zerrissen ist, geprägt von gegenseitigem Misstrauen: Im Irak und in Pakistan töten Sunniten Schiiten, Schiiten werden von Sunniten ermordet. Es gibt nicht die eine arabische Welt, dennoch fürchte ich, dass die Bösen gewinnen werden, die rückwärtsgewandte Ausprägung des Islam immer mehr Macht anhäufen wird – wie derzeit in Ägypten, wo die Muslimbrüder mit eiserner Pranke nach der Macht greifen, um wieder eine Diktatur zu errichten. Nur knapp zwei Jahre nach dem Fall Mubaraks beginnt sich ein neuer, ein islamischer Mubarak zu etablieren, obwohl die Menschen nicht nur in Ägypten eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit und dem Sprung in die Moderne empfinden.

profil: Wird auf den arabischen Frühling je ein arabischer Sommer folgen?
Rushdie: Das weiß ich nicht. Die Welt ändert sich rasant. Hätte jemand ein Jahr vor dem Fall des Kommunismus gesagt, dass diese politische Richtung in nur zwölf Monaten so gut wie von der politischen Landkarte verschwunden sein wird, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Vergangenes Jahr herrschte in der arabischen Welt Optimismus, dieses Jahr Pessimismus. Warten wir’s ab.

profil: Blicken Sie bisweilen noch angstvoll über Ihre Schulter?
Rushdie: Ich lebe seit 13 Jahren in New York. Ich nehme die ­U-Bahn, fahre Taxi. In New York gibt es sehr viele muslimische Taxifahrer. Viele davon weigern sich, von mir überhaupt Fahrgeld anzunehmen, nicht wenige wollen ein Autogramm. Die heikelste Situation erlebte ich vor Jahren in Manhattan. Auf der Straße stellte sich mir eine Passantin in den Weg und schleuderte mir rüde ins Gesicht: „Ich wollte Ihnen schon lange sagen, dass Ihr Kollege V. S. Naipaul, verglichen mit Ihnen, der zehnmal bessere Schriftsteller ist.“ Und weg war sie.

profil: Sartre hatte also Unrecht: Die Hölle sind nicht die anderen?
Rushdie: Durchaus. Während der Jahre des Verbergens empfand ich dennoch eine heftige Bedrängnis durch die anwesenden Agenten. Insofern verstehe ich gut, was Sartre meinte, als er sagte, die Hölle seien die anderen. Ich dachte immer, dass ­Joyce, Proust und Kafka die heilige literarische Trinität des 20. Jahrhunderts darstellen. Während der Zeit im Abseits wurde mir jedoch klar, dass wir in jenem Universum leben, das Kafka in seinen Texten schuf. Wir sind im Kafkaesken gefangen.

profil: In Ihrem Debütroman „Grimus“ findet sich eine Stadt, in der niemand stirbt. Was sagen Sie: Sollte das Leben immer weitergehen?
Rushdie: 50.000 Jahre alt zu werden ist eine unerträgliche Vorstellung. Mit 65 bin ich nicht alt-alt, aber auch nicht mehr jung; ich bekomme bereits Altersrabatt im Kino. Das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft beginnt langsam zu kippen, es liegt viel weniger Zukunft vor einem, als man Vergangenheit bereits hinter sich gebracht hat. Im Wissen darum gilt es, wenig Zeit zu verschwenden: Du hast nur diese Chance, nütze sie, verpass sie nicht. Hört auf zu reden, setzt euch an den Schreibtisch!

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.