Spiele machen klug: Neue Studien zeigen, dass Computerspiele intelligenter machen
Am Mittwoch vergangener Woche wurden die fatalen Schäden, die exzessiver Computer- und Videospielmissbrauch in Österreich anrichtet, wieder einmal überdeutlich. Schauplatz des Lehrstücks: Wien, Ernst-Happel-Stadion. Hauptdarsteller: das österreichische Fußball-Nationalteam. Das Ergebnis: Schwamm drüber. Für Experten ist jedenfalls klar: Dass sich der österreichische Fußball in einer Dauerdepression befindet, liegt am unseligen Einfluss der Computerspiele. Der Nachwuchs, so die beliebte These, habe nichts Besseres zu tun, als seine Jugend an der Playstation zu verschwenden, weshalb es an begnadeten Jungkickern mangle und das Nationalteam zwangsläufig mit überforderten Semitalenten auskommen müsse. Zwar wird diese Theorie die Misere des österreichischen Fußballs wohl auch nicht erschöpfend erklären, doch hat zumindest der Ansatz etwas für sich: Tatsächlich verschreiben sich drei Viertel aller österreichischen Jugendlichen regelmäßig Computer- oder Videospielen. Nur ein Bruchteil davon findet zwischendurch auch einmal auf den Sportplatz.
Wie viele Menschen in Österreich ihre Freizeit mit Computerspielen verbringen, kann niemand exakt sagen. Einschlägige Studien konzentrieren sich fast ausnahmslos auf Jugendliche. Herbert Rosenstingl, der im Familienministerium die Bundesstelle für die Positivprädikatisierung von Computer- und Konsolenspielen leitet, geht jedoch davon aus, dass gut die Hälfte der Gesamtbevölkerung in irgendeiner Form digitale Spiele verwendet sei es das gute alte Solitaire am Büro-PC, sei es das Handy-Game in der U-Bahn, seien es hochkomplexe Strategiespiele im Internet. Weltweit setzt die Spieleindustrie schon jetzt deutlich mehr um als Hollywood (nämlich über 40 Milliarden US-Dollar); allein das Online-Rollenspiel World of Warcraft hat mehr als zehn Millionen Teilnehmer. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Jugendliche: Der Berliner Kommunikationswissenschafter Thorsten Quandt kam im Zuge einer groß angelegten Studie vor Kurzem zu dem Schluss, dass der durchschnittliche Computerspieler 32 Jahre alt ist. Die Konsolenkids der achtziger Jahre sind erwachsen geworden, Computerspiele in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In Deutschland wurden Computerspiele jüngst vom Bundestag offiziell zum Kulturgut erklärt.
Horrorgeschichten
Öffentlich werden sie jedoch fast ausschließlich unter negativen Vorzeichen diskutiert. Routinemäßig werden Killerspiele als Hauptursache für Jugendgewalt verteufelt, Horrorgeschichten von sozialer Vereinsamung und Computersucht kolportiert. Der gesunde Hausverstand sagt dem durchschnittlichen Erziehungsberechtigten, dass Computerspiele, die Gewalt zeigen, auch Gewalt auslösen. Zum Glück gibt es wissenschaftlich fundiertere Instanzen als den gesunden Hausverstand, und sie widerlegen die These von der digitalen Verrohung eindrucksvoll.
Den Mythos von der unüberwindbaren Sogwirkung von Computerspielen, deren Einfluss Jugendliche hilflos ausgeliefert seien, hat die Forschung längst entzaubert. Computerspiele sind, darüber besteht inzwischen kein Zweifel, in dieser Hinsicht neutral, die entscheidende Variable bleibt der Spieler: Jugendliche, die in ihrem familiären Alltag mit Gewalt konfrontiert, vom Leben frustriert oder auf andere Weise psychisch vorbelastet sind, spielen zwar überdurchschnittlich oft Gewaltspiele und werden auch überdurchschnittlich oft straffällig. Dass daran die Spiele schuld sind, darf jedoch ausgeschlossen werden. Der deutsche Medienpädagoge Christian Swertz schlägt in diesem Zusammenhang ein einfaches Rechenbeispiel vor: Weltweit gibt es, soweit ich es überblicke, vier Fälle, in denen Amokläufer auch exzessive Computerspieler waren. Wenn man das mit den zig Millionen Computerspielern, die es weltweit gibt, in ein Verhältnis setzt, wird ein direkter Zusammenhang schon rein statistisch mehr als unwahrscheinlich.
Auch das oft strapazierte Stereotyp vom weltfremden Video-Nerd, dessen Sozialkontakte sich auf digitale Märchenprinzessinnen und den lokalen Pizzaboten beschränken, bedarf einer Revision. Das Wiener Institut für Jugendkultur veröffentlichte im März eine Studie zum Alltag jugendlicher Computerspieler und kam darin zum Ergebnis, dass selbst die eifrigsten Spieler einen durchaus intakten Freundeskreis und ganz normale, reale Sozialkontakte aufweisen: Das gängige Klischee von sozial vereinsamten Computer-Kids findet in der empirischen Realität keine Entsprechung, heißt es in dem Bericht. Zudem sind Computerspiele beileibe keine einsame Angelegenheit: Fast 40 Prozent der befragten Jugendlichen gaben an, gemeinsam mit Freunden zu spielen, 30 Prozent mit Online-Partnern.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen die Wiener Medienwissenschafterinnen Gerit Götzenbrucker und Margarita Köhl, die eine Gruppe von Online-Rollenspielern über zehn Jahre hinweg begleitet haben. Dabei stellten sie unter anderem fest, dass die Kontakte, die in der virtuellen Welt geknüpft werden, reale Beziehungen keineswegs ersetzen, sondern im Gegenteil erweitern und bereichern. Auch die typische Spielerkarriere entspricht nicht dem Klischee: Zwar blieben erstaunlich viele Studienteilnehmer ihrem jugendlichen Hobby auch als Erwachsene treu, passten es aber durchaus harmonisch in ihren normalen Arbeits- und Familienalltag ein. Computerspiele werden konsumiert wie Fernsehen, Kino, Bücher als ganz normales Freizeitvergnügen. Götzenbrucker und Köhl sprechen von einer Life-Work-Game-Balance. Von einer Sucht, die alles andere verdrängt, kann nicht die Rede sein.
Diese Befunde werden niemanden überraschen, der sich jemals mit Computerspielen beschäftigt hat also gut die Hälfte der Bevölkerung. Warum werden Spiele trotzdem so argwöhnisch beurteilt? Ganz einfach: weil jedes neue Medium mit kulturpessimistischen Vorurteilen zu kämpfen hat. Der amerikanische Hightech-Journalist Steven Johnson schlägt in diesem Zusammenhang ein Gedankenexperiment vor: Was, wenn Videospiele schon vor vielen Jahrzehnten, Bücher aber erst kürzlich erfunden worden wären? Die üblichen Experten wären unweigerlich zur Stelle, um die Jugend vor der neuen Gefahr zu warnen: Bücher unterforderten die Sinne, weil man sich in ihnen nicht wie im Computerspiel auf eigene Faust durch einen komplexen Erfahrungsraum bewegen könne; Bücher isolierten den Leser von seiner Umwelt, weil man sie nicht wie das Computerspiel gemeinsam auf der Couch oder im Internet genieße, sondern einsam, ohne jeglichen Sozialkontakt. Und das Schlimmste: Bücher ließen keine eigenen Entscheidungen zu, weil man dazu gezwungen sei, passiv Zeile für Zeile abzuarbeiten. Fazit: Wer seine Kinder liebe, verbiete ihnen dieses Teufelszeug.
Komplexität
Nun würde niemand im Ernst behaupten, dass Computerspiele pädagogisch wertvoller seien als Bücher. Aber wertvoll sind sie allemal. Johnson schlägt eine Kompromissformulierung vor: Die heutige Populärkultur weist uns womöglich nicht den Weg zur Rechtschaffenheit. Aber sie macht uns klüger. Wer Spiele nur aus der Amokläufer-Nachrichtenmeldung kennt, wird auch das bezweifeln. Dabei lässt sich diese Tatsache einfach belegen. Denn Computerspiele sind weder simpel noch repetitiv, sondern im Gegenteil hochkomplex und im Regelfall auch ziemlich frustrierend. Das müssen sie auch sein, denn der Computerspieler will nicht unter-, sondern überfordert werden. Das Spiel belohnt ihn im Gegenzug für seine Anstrengungen durch den Aufstieg ins nächste Level, den nächsten, noch kniffligeren Auftrag, eine noch schlagkräftigere Waffe (wobei den meisten Spielern klar ist, dass es sich um Spielzeugwaffen handelt). Leistung wird im Computerspiel honoriert, Entscheidungsfreude genauso. Dazu kommt, dass bei den meisten modernen Computerspielen im Gegensatz zu Schach oder Federball das Ziel des Spieles zunächst genauso unklar bleibt wie die Art und Weise, auf die es erreicht werden soll. Der Spieler ist darauf angewiesen, Hypothesen zu entwickeln, auszuprobieren, zu verwerfen oder bestätigen, kurz: quasi wissenschaftlich zu arbeiten.
All das macht die angeblich so schädlichen Spiele auch für Pädagogen interessant. Der Wiener Medienpädagoge Konstantin Mitgutsch widmete sich eingehend der Frage, wie Computerspiele für den Schulunterricht nutzbar gemacht werden können. Gemeinsam mit Michael Wagner von der Donau-Universität Krems führte er im vergangenen Schuljahr einen vom Bildungsministerium in Auftrag gegebenen Pilotversuch durch, bei dem an sieben Schulstandorten in Österreich handelsübliche Computerspiele (also keine Lernsoftware) in den Lehrplan aufgenommen wurden. Im Biologie-Unterricht wurde etwa eine Zoo-Simulation gespielt, bei der auch ein Online-Lexikon verwendet werden musste. Anstelle eines Tests verfassten die Schüler anschließend Blogs über ihre Erfahrungen als Zoo-Manager. Das nicht repräsentative Ergebnis motiviert zu weiteren Studien. Unter anderem zeigte sich nämlich auch zur Überraschung der Forscher , dass die Spiele offenbar die soziale Kommunikation während des Lernprozesses fördern. Insgesamt gehen sie von einem signifikanten pädagogischen Potenzial aus. Trotzdem warnt Mitgutsch vor verfrühter Euphorie: Zu 85 Prozent resümieren die beteiligten Schüler den Versuch positiv. Der Rest meinte aber, dass die Spiele zu kompliziert gewesen sind. Das sind genau die Kinder, die auch zu Hause nicht spielen. Das Problem besteht darin, dass die Lehrer diese Kinder kaum unterstützen können, weil sie großteils selbst überfordert sind. Fast ein Drittel der beteiligten Lehrer musste mangels digitaler Grundbildung schon den Vorbereitungskurs frustriert abbrechen.
Aber worin besteht nun das pädagogische Potenzial von Spore oder FIFA Soccer? Mitgutsch: Jedes Genre kann pädagogisch interessant werden. Die Frage ist, worauf man den Fokus legt: auf motorische Geschicklichkeit, auf logisches Denken, auf die Konzentrationsfähigkeit oder auf Medienkompetenz. Sogar Managementfähigkeiten lassen sich trainieren: Wer es schafft, in World of Warcraft 70 Online-Spieler aus aller Welt gleichzeitig an einem Auftrag arbeiten zu lassen, wird auch im realen Leben eine gewisse Führungskompetenz entwickeln. Der Kardinalfehler ist, Computerspiele pauschal über einen Kamm zu scheren.
Wie vielfältig sich die Förderpotenziale handelsüblicher Computerspiele gestalten, bewies auch eine Studie des Münchener Instituts für Medienpädagogik JFF: Insgesamt 30 populäre Computerspiele wurden dabei auf ihr kompetenzförderndes Potenzial getestet: moralische Urteilsfähigkeit, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, sensomotorische Koordination, analytisches und kreatives Denken, emotionale Selbstkontrolle und kritische Selbstreflexion. Jeder dieser Bereiche wurde von zumindest einem der getesteten Spiele abgedeckt, wobei bemerkenswert viele Spiele gleich mehrere Kompetenzen förderten (darunter übrigens auch das gemeinhin als Killerspiel verpönte Counter-Strike). Und noch etwas konnten die JFF-Forscher belegen: Normale Spiele haben dezidierter Lernsoftware pädagogisch etwas voraus, denn: Ein hinreichendes Motivationspotenzial kann als generelle Voraussetzung für Kompetenzförderlichkeit gelten. Den Medienpädagogen Christian Swertz überrascht das nicht: Natürlich lässt sich eine Liste von 15 Additionen im Rahmen eines Kampfes gegen den bösen Eiskönig amüsanter aufbereiten als im Mathematikübungsbuch. Der Spielcharakter geht dabei aber verloren. Wesentlich effektiver wäre es, Spiele mit pädagogischem Inhalt zu entwickeln, die nicht als verkleideter Test, sondern als echtes Spiel daherkommen.
Digitaler Akzent
Schließlich geht es in diesem Kontext nicht primär um die Vermittlung klassischen Schulwissens. Wer am Computer spielt, lernt nicht für die Mathematikschularbeit, sondern buchstäblich fürs Leben. Kinder wissen das bereits, die beteiligten Erwachsenen (Erziehungsberechtigte wie Lehrer) zum Großteil noch nicht. Denn sie leiden an dem, was Medienwissenschafter einen digitalen Akzent nennen: Man merkt ihnen an, dass sie nicht in der digitalen Kultur aufgewachsen sind, das Digitale nicht ihre Muttersprache ist: Wer E-Mails ausdruckt oder Chat-Zeichen falsch verwendet, hat diesen Akzent, erklärt Konstantin Mitgutsch. Und wo verschiedene Akzente aufeinandertreffen, entstehen mitunter Kommunikationsprobleme. Christian Swertz spricht gar von einem Kulturbruch. Ein Beispiel: Die westliche Buchkultur orientiert sich typischerweise an ewigen Gültigkeiten und letzten Wahrheiten. In der Computerkultur ist so etwas unerheblich. Elektronische Daten sind flüchtig, womit letztlich nur die unmittelbare Gegenwart zählt.
Der Untergang des Abendlands breche deswegen freilich noch nicht an: Wir haben keinen Maßstab, von dem aus wir beurteilen könnten, ob die Computerkultur besser oder schlechter wäre. Sie ist einfach anders. Vor allem aber ist sie spielerischer: Ein E-Mail wird ungezwungener verfasst als ein handschriftlicher Brief. Wer seine Steuern online überweist, leidet weniger als der, der sein Bargeld noch persönlich am Bankschalter abgibt. Wer gar am internationalen Kapitalmarkt spekuliert, kann den Bezug zur Realität schon einmal komplett verlieren. Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen herrscht, dank SMS, Facebook und Singlebörse, zunehmend die Unverbindlichkeit und damit auch das Spielerische. Computer verführen zum Spielen. Und zwar auch Erwachsene, erklärt Swertz. Die alte These vom Verschwinden der Kindheit ist so gesehen unsinnig. In Wirklichkeit verschwindet das Erwachsensein. Das Leben ist ein Spiel.
Von Sebastian Hofer