Tonangebend

Tonangebend: Wie sich Wien zur Musikhauptstadt entwickelte

Historie. Wie sich Wien zur Musikhauptstadt entwickelte

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In einem Hinterzimmer des Alten Wiener AKHs gräbt sich ein weißhaariger Herr durch Folianten und vergilbte Handschriften. Der Münchner Musikwissenschafter Reinhard Strohm hält sich derzeit tage- oder wochenweise zu Forschungszwecken in Wien auf. Er ist emeritierter Professor der Universität Oxford und Träger des diesjährigen Balzan-Preises, einer Auszeichnung, die aufgrund der hochkarätig besetzten internationalen Jury sowie der hohen Dotierung von 620.000 Euro als „kleiner Nobelpreis“ gilt.

Strohm ist nicht nur Spezialist für europäische Musik des 14. und 15. Jahrhunderts, sondern auch für italienische Opern des 18. Jahrhunderts sowie für das evangelische und katholische Kirchenlied. Als einer der Ersten untersuchte er die Rolle der Städte in der Musikentwicklung und war Mitherausgeber der Richard-Wagner-Gesamtausgabe – kurzum: die Idealbesetzung für ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Forschungsprojekt mit dem Titel „Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich“.

Träger und Förderer
Das von der Musikhistorikerin Birgit Lodes geleitete und für drei Jahre (2011 bis 2014) geplante Projekt soll die letzten dunklen Flecken in der spätmittelalterlichen Musikgeschichte Österreichs erhellen und die damals gespielte Musik auf ­einer speziell eingerichteten Website allgemein zugänglich machen. Der Musikwissenschafter Marc Lewon, Dissertant bei Strohm in Oxford, ist ein auf das Mittelalter spezialisierter Musiker, der die auf­gestöberten Dokumente als Sänger und Lautenist wieder zum Leben erweckt. Das Forschungsprojekt soll auch die Frage untersuchen, wie es die Habsburgersaiser schafften, Wien zum Zentrum der europäischen Musik aufzubauen.

Weil die Habsburger weite Teile Europas beherrschten – vom heutigen Portugal und Spanien über Flandern, Teile Deutschlands, Böhmen, Österreich, Ungarn bis Kroatien und Regionen Italiens inklusive Sardinien und Sizilien –, verstanden sie sich als Träger und Förderer, ja als ­Zentrum der europäischen Kunst und Kultur. Die Musik diente ihnen zur Repräsentation, als Ausdruck der Macht und des Glanzes des Kaiserhofs. Während der traditionell als Rivale empfundene franzö­sische Hof stärker auf Architektur setzte, förderten die Habsburger frühzeitig und konsequent die Musik. Etliche Römische Kaiser (später: Deutscher Nation) der Habsburger waren selbst passionierte Komponisten oder Musikinterpreten: Ferdinand III., Leopold I. und Joseph I. betätigten sich als Musikschaffende, Maria Theresia trat als Sängerin bei Hof auf, Joseph II. war aktiver Kammermusiker und großer Opernfan.
Doch schon im Lauf des 18. Jahrhunderts begann sich der Kaiserhof aus der vordersten Reihe der Musikförderung allmählich wieder zurückzuziehen. Der höfische Enthusiasmus hatte da längst den Adel und das wohlhabende Bürgertum erfasst, die fortan gemeinsam die Förderung des Wiener Musiklebens in die Hand nahmen. Nicht die Stadt, sondern Wiens Bürger stifteten in Eigeninitiative den großen Komponisten Denkmäler – Haydn, Mozart, Beethoven und Strauss etwa. Der im Jahr 1812 gegründete Wiener Musikverein, in dessen Goldenem Saal alljährlich das Neujahrs­konzert stattfindet, feiert gerade im Rahmen einer Ausstellung sein 200-jähriges Bestehen. Der Jahrestag wird von weiteren bedeutenden Musikjubiläen flankiert: 2009 wurde in Eisenstadt, Wien und vielen anderen Städten das Haydn-Jahr begangen, 2013 ist das Verdi- und das Wagner-Jahr (beide Komponisten wurden im Jahr 1813 geboren).

Aufstieg mit Haydn und Mozart
Mit Haydn und Mozart stieg Wien im Lauf des 18. Jahrhunderts endgültig zum Zentrum der europäischen Musik auf. Viele Komponisten von Weltrang ließen sich hier nieder: neben Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert auch Bruckner, Brahms, Johann Strauss, Schönberg und Mahler. Der italienische Barockkomponist Antonio Vivaldi hatte zwar in seinem letzten Lebensabschnitt geplant, sich dauerhaft in Wien anzusiedeln, aber sein Gönner, Habsburgerkaiser Karl VI., starb im Jahr 1740 bald nach seiner Ankunft in Wien. Vivaldi verblich im Jahr darauf ebenfalls in Wien, er ist auf dem Areal des heutigen Resselparks begraben.
Und freilich ist Wien durch das Weltklasseorchester Wiener Philharmoniker, durch die Oper, den Musikverein und viele andere musikalische Institutionen bis heute ein Zentrum der europäischen Musik. Aber das Attribut „Welthauptstadt der Musik“, mit dem die Wien Werbung um Touristen wirbt, klingt doch ein wenig nach Selbstüberschätzung, wie nicht nur Strohm, sondern auch der Musikwissenschafter Martin Eybl von der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst meint. Dennoch gibt es einen faktischen Hintergrund.

So verfügte Wien schon im Mittelalter über ein reiches Musikleben, das auch breitere Bevölkerungsschichten erfasste. Die Wiener musizierten, tanzten und feierten mitunter so ausgelassen und exzessiv, dass die Behörden einschreiten mussten, weil zeitweilig kaum noch jemand arbeitete. Die Komponisten lieferten ständig neue Lieder und Stücke. So wurden laut Strohm etwa 70 Prozent der heute erhaltenen Niederschriften mehrstimmiger Musik aus dem frühen 15. Jahrhundert in dem Dreieck Wien-Bologna-Basel angefertigt, also zu einem beträchtlichen Teil im östlichen Alpenraum. „Das ist schon die erste merkwürdige Sache, der wir auf den Grund gehen wollen“, sagt Strohm. Eines der bedeutendsten erhaltenen Dokumente sind die Trienter Codices aus dem 15. Jahrhundert, eine Sammlung von 1585 Musikstücken aus vielen Teilen Europas. Die Werke zeigen, wie hochentwickelt die Musik bereits zu dieser Zeit war.
Laut der Wiener Musikwissenschafterin Elisabeth Fritz-Hilscher, Senior Scientist Mitarbeiterin der Kommission für Musikforschung der Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeberin des Standardwerks über die Wiener Musikgeschichte (siehe Buchtipp), ist Italien (vor Österreich) das Land mit der höchsten Überlieferungsdichte musikhistorischer Dokumente. Diese befinden sich aber großteils im Besitz privater Adelshäuser und sind deshalb für die Wissenschaft schwer zugänglich. In anderen europäischen Ländern wurden viele Dokumente über das Musikschaffen teils durch die Reformation (England, Deutschland), teils durch die Französische Revolution vernichtet. Österreich ist in diesem Punkt eine „Insel der Seeligen“ (Fritz-Hilscher), weil viele schriftliche Zeugnisse in der Kirche, in staatlichen oder Archiven der Stadt Wien erhalten und zugänglich sind – ein wahrer Schatz für die musikgeschichtliche Forschung.
Ursprünglich spielte sich das Musikleben vorwiegend in Kirchen und Klöstern sowie bei Hofe ab, bis auch andere Institutionen wie Universitäten und Städte die Szene betraten. In der agrarischen Feudalgesellschaft trugen die Städte lange Zeit wenig zum Sozialprodukt bei, bis im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert auch in Wien das Handwerk an Bedeutung gewann (nach dem Vorbild von Handwerksmetropolen wie Augsburg und Nürnberg). Die Donau entwickelte sich verstärkt zum Handelsweg, die aufblühende Stadt wurde auch zum Auftraggeber von Musikschaffenden.

Musik an der Universität
Neben der Entwicklung der Stadt war der zweite neue Faktor die 1365 gegründete Wiener Universität, an der bald ein reges Musikleben herrschte. Die Studenten genossen das Privileg, sich durch Straßengesang ein Zubrot zu verdienen, durften aber nur geistliche Lieder singen. Immer wieder wurden Studiosi dabei ertappt, dass sie in ihre Psalmen Kritik an den Herrschenden oder unzüchtige Verse einstreuten, was den Hinauswurf aus der Universität und die Aberkennung aller abgelegten Prüfungen bedeuten konnte. Und die Bürger klagten oft über nächtliche Ruhestörung durch singende und grölende Studenten. Bis in bürgerliche Kreise war die Musik ein Ventil für alles Mögliche. Kirchliche Stellen bemängelten oft die zeitweilig ausufernde Freizügigkeit der Sitten und die oft sehr obszönen Gesänge.

Wahrscheinlich schon seit dem zwölften, sicher aber ab dem 13. Jahrhundert existierte in Wien die Nikolaibruderschaft, eine Musikervereinigung mit Sitz in der Michaelerkirche. Die Zunft sorgte für ein geregeltes städtisches Musikleben, für Ausbildung, Aufrechterhaltung gewisser Standards und für die Überwachung der Sitten. Viele Musiker waren reisende Spielleute, und wer von außerhalb der Stadt kam und hier sesshaft werden wollte, musste der Nikolaibruderschaft beitreten und einen Obolus entrichten, damit er in der Stadt spielen durfte. Diese dem heiligen Nikolaus gewidmete Institution war später auch für die Kontrolle des Glücksspiels zuständig.

Neben den einfachen Spielleuten gab es bedeutende Komponisten, Liedtexter und Musiker, die von Hof zu Hof zogen, etwa den Minnesänger Oswald von Wolkenstein, der aber nicht allein vor dem Kaiser sang, sondern auch einmal im Freudenhaus von Konstanz gastierte. Da die Habsburgerkaiser lange Zeit an wechselnden Standorten residierten – Augsburg, Nürnberg, Innsbruck, Graz, Wiener Neustadt –, zogen die Musiker mit ihnen. Manch einer schimpfte über dieses „Zigeunerleben“. Die Musik stand im Mittelpunkt der kaiserlichen Repräsentation, des Kulturverständnisses und des höfischen Lebens. Die Höflinge mussten ihren Geschmack schulen, sich in der Musik auskennen, Instrumente und Gesang beherrschen, auch um den Herrscher oder die Hofdamen bei Laune zu halten. Die Prinzen lernten musizieren und komponieren.
Das wesentliche Instrument war die Laute, ein Saiteninstrument, das geschlagen wurde. In der Repräsentation hingegen waren es in erster Linie Blasinstrumente (Langtrompete, verschiedene Flöten) sowie Trommeln und Pauken, die den Auftritt des Herrschers begleiteten. Viele Instrumentenbauer kamen aus dem süddeutschen Raum. Nürnberg war ein Zentrum der Metallverarbeitung und des Blechinstrumentenbaus. Im Jahr 1397 tauchte in Wien ein Medizinstudent namens Hermann Poll aus Heidelberg auf, der ein neuartiges, sehr wahrscheinlich von ihm erfundenes Musikinstrument mit sich führte. Er nannte es Clavicembalum, das heute bekannte Cembalo.

Jede Dorfkirche ihre Orgel
Orgelbauer aus dem süddeutschen Raum sorgten dafür, dass im Lauf des 15. Jahrhunderts bald jede Dorfkirche eine Orgel besaß. Darunter war auch Burghard Distlinger aus Augsburg, dessen Name in alten Annalen von Brixen, Salurn und Sterzing auftaucht. Unter den Organisten waren aber auch große Musiker aus Österreich selbst: etwa Paul Hofhaimer aus Radstadt, später Hoforganist bei Kaiser Maximilian I. in Innsbruck, der viele Kompositionen hinterließ.

Weil die Habsburger namhafte Komponisten und Musiker aus allen Teilen Europas an ihren Hof holten, war das Musik­leben am Kaiserhof schon unter Maximilian I. anderen Zentren wie Paris und London ebenbürtig. „Wir müssen nicht dar­auf warten, bis die Habsburger zur Weltmacht werden. Schon vorher ist die österreichische Musik international verflochten“, sagt Musikhistoriker Strohm.

Ferdinand I. und Ferdinand II. bauten Wien endgültig zur Reichshaupt- und Residenzstadt auf. Weil mit dem Hof der Adel mitzog, wurde die Verwaltung ausgebaut, waren auch Theater, Konzerte und Opernaufführungen gefragt. Laut Musikhistorikerin Fritz-Hilscher kam es zu einem „unglaublichen Kulturschub“. Ferdinand III., Römischer Kaiser von 1637 bis 1657, komponierte selbst, ohne dass davon viel erhalten blieb. Sein Nachfolger Leopold I. ließ – aus Holz – ein erstes Opernhaus erbauen, er vertonte Opernteile und komponierte Arien. Auch unter Joseph I., Römischer Kaiser Deutscher Nation von 1705 bis 1711, sowie unter seinem Nachfolger Karl VI., unter dem die kaiserliche Hofmusik mit 300 Musikern ihren Höchststand erreichte, kam es zu einem regelrechten kulturellen Wettrüsten zwischen Wien und Paris. Musik wurde noch mehr zum Vehikel der Macht.

Mit der Aufklärung setzte unter Maria Theresia ein anderes Denken ein: Die Repräsentation galt als Angelegenheit des Militärs, Musik avancierte zu einer Sache des reinen Vergnügens, wobei die Kaiserin auf Zweckmäßigkeit pochte. Zur Hochzeit von Marie Antoinette gab es noch einen großen Ball, keine Oper mehr, dann allerdings ebbte die Musikfreudigkeit des Hofs allmählich ab, was sich in Einsparungen, Umorganisationen und Auslagerungen manifestierte.

Zugleich wuchs das Musikengagement des Adels und des Bürgertums, das mit Beginn der Industrialisierung zunehmend an Bedeutung gewann. Im Jahr 1750 zählte Wien bereits 175.000 Einwohner (Berlin 113.000) und war damit die größte Stadt im deutschen Sprachraum. „Die Musik war für das liberale Bürgertum die höchste Kunstform“, erklärt Martina Nußbaumer, Historikerin am Wien-Museum, die eine Dissertation über den Diskurs um die Musikstadt Wien im 19. Jahrhundert verfasste. Die romantische Schiene dieses Diskurses war die schöne Landschaft, die der gängigen Überzeugung zufolge zum Komponieren verleite, die zweite tragende Schiene waren die vielen großen Komponisten, die in der Stadt gelebt hatten. Der städtische Diskurs mündete 1892 in eine Wiener Weltausstellung der Musik, Beginn der Vermarktung als Musikstadt Wien – und die lebt bis heute fort.

Buchhinweis
Elisabeth Th. Fritz-Hilscher, ­Helmut Kretschmer (Hrsg.): „Wien – Musikgeschichte. Von der Prä­historie bis zur Gegenwart“. LIT Verlag, Wien 2012, Band 7, 760 Seiten, EUR 49,90.

+++ Komponisten von Weltrang, die Wien ­zumindest zeitweilig zu ihrem ­Lebensmittelpunkt erkoren +++