Manhattan Blues

Reportage. New York: Nirgendwo prallen Arm und Reich härter aufeinander

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Was sie von der Politik heute noch erwartet? Inez Rigo* ist über die Frage erstaunt. Kurze Nachdenkpause, dann: "Ich bin noch nie in meinem Leben wählen gegangen. Wozu sollte ich das tun?“ Rigo wurde 1989 geboren, sie ist Amerikanerin der ersten Generation. Ihre Eltern wanderten Mitte der achtziger Jahre aus der Dominikanischen Republik aus. Mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester und deren Sohn teilt sie sich eine kleine Wohnung in den Washington Heights, einem "Latino-Ghetto“ im Nordwesten Manhattans, wie sie selbst sagt.

Wie so viele Amerikaner mit niedrigem Einkommen hat Rigo nicht einen Job, sondern zwei. Tagsüber wandert sie in ihrer Eigenschaft als Angestellte eines Sicherheitsunternehmens die Flure der Wolkenkratzer von Midtown ab. Nachts werkt sie im Restaurant eines Verwandten auf der 116. Straße - natürlich schwarz, weil sie sonst nie durchkommen würde. Ihr Verdienst als Wachfrau liege bei 1500 Dollar, Überstunden inklusive. "Nach Abzug von Miete, Strom und Gas bleiben mir rund 400 Dollar. Kannst du mir sagen, wie ich mit hundert Dollar pro Woche leben soll?“ Staatliche Unterstützung erhält sie keine.

Rigos Schwester, arbeitslos, bekommt hingegen wie mehr als 1,7 Millionen andere New Yorker "Food Stamps“ vom Staat: Gutscheine, die sie in bestimmten Läden gegen Lebensmittel und andere Waren eintauschen kann. Landesweit erhält inzwischen jeder achte Amerikaner solche Lebensmittelmarken (siehe Kasten "Arme Supermacht").

Warum Inez Rigo aus Kostengründen nicht in eine billigere Gegend zieht, in die Bronx, nach Queens, nach Brooklyn oder Staten Island? "Davon abgesehen, dass ich hier aufgewachsen bin, dass meine gesamte Familie hier lebt, würde mich das am Ende des Tages genauso viel kosten wie jetzt. Die Mieten in den anderen Stadtteilen sind mittlerweile fast genauso hoch wie in meiner Nachbarschaft“, faucht sie.

Seit das Volkszählungsbüro der USA jüngst die aktuellen Einkommensstatistiken veröffentlicht hat, fragen sich viele Amerikaner, in welchem Land sie eigentlich leben. Der Maßstab: Eine Familie mit zwei Kindern, deren Einkommen unter 22.314 Dollar (16.482 Euro) pro Jahr liegt, gilt in den Vereinigten Staaten als arm. Laut Statistik betrifft das heute jede sechste Familie.

Aber während in London, Athen oder Madrid die Leute zu Hunderttausenden auf die Straße gehen, um gegen ihre Regierungen, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen, ihre Stimmen und gelegentlich auch die Fäuste zu erheben, bleiben solche Szenen in den USA aus. Warum? "Was willst du damit sagen? Soll ich Obama die Schuld dafür geben, wie’s mir geht? Ausgerechnet ihm?“, sagt Pam, die wahrscheinlich anders heißt und nach eigenen Angaben 33 Jahre alt ist. Pam hat die gleiche Hautfarbe wie der Präsident. Allein diese Tatsache erhöht die Chancen dafür signifikant, im Fall einer anhaltenden Wirtschaftskrise ihr Geld auch in den kommenden Jahren als Prostituierte verdienen zu müssen, hier, keine sechs Häuserblocks vom Central Park und genau sechs Straßenzüge von der Upper East Side entfernt, wo die reichsten der reichen New Yorker wohnen. "Viele von denen kommen extra wegen mir hierher, manche drei-, viermal die Woche.“

20 Dollar und ein Bier für den Arsch - buchstäblich.
Pam wartet gar nicht erst ab, bis einer fragt. Mit, ohne Kondom? Egal. "Das ist der Deal. 20 Dollar. Take it or leave it. Ich hab nicht die ganze Nacht Zeit.“ Wer sich wochentags um halb drei Uhr morgens auf den Straßen East Harlems herumtreibt, hat in der Regel nur dreierlei im Sinn: sich beim 24-Stunden-Deli, dieser typischen New Yorker Nahversorgervariante, noch schnell ein letztes Kaltgetränk vorm Schlafengehen zu kaufen. Oder mit dem hier ansässigen Drogendealer seines Vertrauens einen guten Preis für eine gestreckte Dosis Crack-Kokain auszuhandeln. Oder Sex.

Pam hat entschieden, sich letzteres Begehren zunutze zu machen, von Montag bis Freitag, meistens um Mitternacht herum, nimmt sie Aufstellung an der Ecke 105. Straße und 1st Avenue und wartet auf die Männer, die ihr Leben und das ihrer Familie finanzieren. "Ein Scheißjob, aber was soll ich machen“, sagt Pam. "Ich habe drei Kinder von zwei Männern, von denen keiner Unterhalt zahlt.“

New York ist die größte Stadt Amerikas, aber sie ist nicht Amerika, lautet eines der gängigsten Vorurteile über die an Hudson und East River gelegene Metropole im Rest der Welt. Gestern wie heute ist das Gegenteil davon wahr. Mit seinen rund 8,2 Millionen Einwohnern beherbergt New York das Konzentrat der US-Gesellschaft, und deshalb zeigen sich auch nirgendwo anders die Wunden des Landes so offen wie hier. Auch wenn die Stadtverwalter, allen voran Bürgermeister Michael Bloomberg, stets um kreative Lösungen bemüht sind, wenn es darum geht, die neuen Zustände, so gut es geht, zu verschleiern. Er tut alles, um das Bild, das er von seiner Stadt hat, aufrechtzuerhalten; dem sauberen, sicheren, aufgeräumten New York. Nach dem Motto: Solange die Armut nicht sichtbar ist, gibt es sie nicht.

Bloomberg kann das Rauchen in öffentlichen Parks verbieten, aber er kann nichts daran ändern, was im Land passiert. In manchen Bezirken steigt die Kriminalitätsrate bereits wieder. "Wenn der Trend anhält, werden wir in manchen Vierteln bald wieder auf dem Niveau der achtziger Jahre sein“, sagt ein ehemaliges ranghohes Mitglied der New Yorker Stadtregierung hinter vorgehaltener Hand - mit dem Medientycoon und Multimilliardär wagt es sich in dessen mittlerweile dritter Amtszeit keiner zu verscherzen. An der Tatsache, dass sich selbst in Manhattan, in den vergangenen 20 Jahren dank Zero-Tolerance-Politik, milliardenschwerer privater wie öffentlicher Investitionen in Infrastruktur, Büro- und Wohnbauten zu einem der lebenswertesten Orte der Welt geworden, die neue Qualität der Armut kaum mehr verbergen lässt, ändert das freilich nichts.

Die Chelsea Piers liegen am äußersten Rand der West Side, entlang der 11th Avenue fädeln sich ihre Angebote auf: Dutzende Hallen für Fußball, Tennis, Wassersport, Bowling, Basket- und Volleyball, ein Fitnesscenter, ja sogar ein kleiner Golfübungsplatz und eine Eislaufhalle. Täglich strömen Tausende New Yorker auf das ehemalige Werftgelände, um ihre Körper zu trimmen. Je nach Sport und Art der Mitgliedschaft zahlen sie dafür zwischen 100 und 5000 Dollar im Monat. Bis zur nächsten U-Bahn-Station sind es von dem auf Höhe der 21. Straße gelegenen nördlichen Haupteingang der Chelsea Piers nur sechs Häuserblocks. Wer sie spätabends entlanggeht, begegnet heute rund zwei Dutzend Menschen, die sich auf den Straßen eines der teuersten Wohnviertel der Stadt - Chelsea beherbergt rund 350 Galerien und architektonische Wunderwerke wie das von Frank Gehry entworfene Hauptquartier des New-Economy-Konzerns InterActiveCorp - schlafen legen.

"Stell keine dämlichen Fragen. Du siehst ja, was los ist.“
Dwight heiße er, sei 28 Jahre alt, und reden wolle er nicht. Aber dann macht er doch auf, ein bisschen zumindest. "Was soll ich dir erzählen, Mann? Die übliche Geschichte. Zuerst die Scheidung von meiner Frau, dann bin ich zu meinem Bruder gezogen, aber der hat seine eigenen Probleme. Ich habe einen Sohn und eine Tochter, er ist sieben, sie ist neun. Ich habe einen Highschool-Abschluss, aber das College habe ich abgebrochen, weil ich Geld verdienen musste. Es hat hinten und vorne nicht gereicht, die Schuldeneintreiber sind so lange vor meiner Tür gestanden, bis meine Frau die Schnauze voll hatte. Seit zweieinhalb Jahren lebe ich auf der Straße. Es gibt keine Jobs, keine Chance.“ Der Präsident, die Regierung? "Fuck ’em.“

Mit dem jüngst präsentierten "American Jobs Act“, der unter anderem zahlreiche Investitionen der öffentlichen Hand vorsieht, will Barack Obama das Ruder herumreißen. Die Angst vor der Wiederkehr der Großen Depression der dreißiger Jahre sitzt tief, mindestens so tief wie die, als jener Versager dazustehen, als den ihn seine Gegner - und mittlerweile auch viele ehemalige Anhänger - inzwischen hinstellen. Die Republikaner, welche die Mehrheit der Stimmen im Kongress haben, tun derweil alles, um die Pläne des Präsidenten zu sabotieren. Sie geben ihre eigenen Antworten auf die Fragen der Zeit: Am effektivsten seien die Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende Armut durch niedrigere Steuern für Unternehmer zu bewältigen. Warum? "Weil ein Job immer noch die beste Versicherung gegen Armsein ist“, wie Paul Ryan, Abgeordneter aus Wisconsin im Repräsentantenhaus und aktuelles Mastermind konservativer Wirtschaftspolitik, in Funk und Fernsehen gebetsmühlenartig wiederholt.

Ein richtiger Job? Pam lacht. "In New York? Wenn nicht mal mehr die Weißen hier einen finden, was glaubst du, wie’s mir geht? Ich hab jahrelang als Kellnerin gearbeitet. Auch nicht das Wahre. Aber es war zumindest eine richtige Arbeit. Vor drei Jahren haben sie mich rausgeschmissen. Ich will nicht, dass sie mir die Kinder wegnehmen. Und wenn ich dafür meinen Arsch hinhalten muss, meinetwegen. Ich muss schauen, wie ich überlebe.“

Plötzlich kommt ein potenzieller Freier vorbei. Der junge Mann hat ihr eindeutige Blicke zugeworfen. Er hält eine Büchse Budweiser in der einen Hand und einen Bündel Geldscheine in der anderen. Pam wird später mit ihm mitgehen. Bevor sie sich grußlos verabschiedet, sagt sie: "Hier wird einem eben nichts geschenkt.“ Neuerdings eine quasi von Amts wegen bestätigte Erkenntnis.


* Name von der Redaktion geändert.