Giftbaugrube

Mittelmäßige erste Spieltage beim Filmfest am Lido

Venedig 2012. Die ersten Spieltage am Lido litten unter einem herben Mangel an Erregungspotenzial

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Als der wütende Mann im Rollstuhl, der gerade alle auffindbaren Kruzifixe im Haus von den Wänden geschlagen hatte, schließlich noch das Papstfoto neben dem Küchenfenster entsorgte, brandete im Kino Szenenapplaus auf. Der religiöse Schaukampf, den Ulrich Seidl in "Paradies: Glaube“, dem zweiten Teil seiner laufenden Kinotrilogie, veranstaltet - ein gelähmter muslimischer Mann setzt sich gegen seine abweisende katholische Frau zur Wehr -, erheiterte gerade seiner Drastik wegen etliche Besucher der spätabendlichen Pressevorführung. Die Entscheidung, die Weltpremiere dieses Films im erzkatholischen Italien anzusetzen, war folgerichtig: Weder in Berlin noch in Cannes hätte eine Geschichte wie diese den nötigen spirituellen Resonanzboden gefunden, den Seidls aggressive Darstellung religiöser Alltagsfanatismen aber benötigt.

Die 69. Filmfestspiele in Venedig gewährten da den passenden Rahmen, und auch diese konnten davon profitieren, denn mit Seidls jüngstem Werk wurde am dritten Festivaltag endlich ein Wettbewerbsbeitrag aufgeboten, der nicht so aussah, als hätte man ihn, jeweils nur minimal variiert, schon tausendmal gesehen. Die eigenwillige artifiziell-dokumentarische Form dieses Films gewinnt durch die todesmutige Darstellerin in seinem Zentrum noch: Maria Hofstätter scheut als Anna Maria in "Paradies: Glaube“ vor heftigen physischen Strapazen nicht zurück. Auch ihr Partner, der Amateurdarsteller Nabil Saleh, leistet in einer beinahe ebenso schwierigen Rolle Erstaunliches, wird den körperlichen und emotionalen Aspekten seiner Figur gerecht.

Die grässliche Architektur des Wiener Umlands ist der Hintergrund jenes Kleinkriegs, den Seidl entfesselt. Anna Maria führt eine genügsame, einsame Existenz. Im Reihenhaus, einem kleinbürgerlichen Nachkriegsbau, geht sie ihrer täglichen Haus- und Betarbeit, auch ihrer Selbstgeißelung nach. Ihr religiöser Eifer endet nicht in den eigenen vier Wänden. Sie reist in die Wiener Peripherie, geht mit der Marienstatue von Tür zu Tür, wird dabei zudringlich, steht immer gleich mit einem Fuß in der Wohnung.

Sie betet mit ratlosen Migrantenfamilien, segnet alleinstehende Sonderlinge und versucht, Alkoholikerinnen vom sündigen Tun abzuhalten. Ihrem nach langer Abwesenheit plötzlich auftauchenden Mann gönnt Seidl nur Zorn und Verzweiflung: Er ist Eindringling und Gefangener zugleich, ein Mann, der vergeblich nach der Zuwendung seiner Frau giert, ihre persönlichen Dinge durchsucht und all ihre katholischen Bilder, Poster und Kruzifixe schließlich durch muslimische Kultobjekte zu ersetzen plant. "Paradies: Glaube“ erzählt nicht nur von einem ins Privateste gespiegelten Religionskonflikt, sondern auch von Geschlechterrollen, kulturellen Differenzen und sexuellen Neurosen. Religiöse Rituale sind hier nur Kampfmittel, Waffen, die man einander ansetzt, um Vergeltungsschläge auszuführen.

Wenn "Paradies: Glaube“ hinter der im Mai in Cannes uraufgeführten ersten Episode der Trilogie ("Paradies: Liebe“) qualitativ ein wenig zurückbleibt, so liegt das an der für Seidl untypischen Überzeichnung mancher Szenen, mehr noch aber an der Grundkonstellation seiner Arbeit. Es geht, wenn man den Film nicht als verquere Allegorie über zwei Weltreligionen missverstehen will (wovon der Regisseur selbst abrät), um erstaunlich wenig: Fast zwei Stunden lang verstrickt Seidl seine Protagonisten in einen sexuell-ideologischen Schaukampf, in dem trotz physischer Heftigkeit wenig Bewegung ist. Das liegt auch daran, dass beide Hauptfiguren vergleichsweise papieren erscheinen, wenig psychologische Plastizität besitzen, kein echtes Leben jenseits ihrer religiös-libidinösen Programme erkennen lassen. Nichtsdestotrotz gelingen Seidl, wie gewohnt, nebenbei Sequenzen von großer Kraft, unmittelbar packende Momente, bei denen man bisweilen meint, seinen Augen und Ohren nicht mehr trauen zu können.

Auch im Eröffnungsfilm, der am Mittwochabend vergangener Woche in der Sala Grande im alten Kinopalast am Lido gezeigt wurde, geht es um Religion und Fundamentalismus, um Kulturkampf, Demütigung und Verblendung. Aber Regisseurin Mira Nair verrührt in ihrer Adaption des Mohsin-Hamid-Romans "The Reluctant Fundamentalist“ bedenkenlos Exotismus und Terrorismus, Hindi-Pop und 9/11, schlägt ihre politischen Sujets brutal zu Entertainment-Brei: eine vergebene Chance.

Einen starken Festivaleinstieg hat Comeback-Direktor Alberto Barbera (er hatte zwischen 1998 und 2002 Venedigs Filmfest bereits geleitet) somit nicht hingekriegt. Ein bei Hitchcock und Romero schlecht gestohlener Hai-Trivialthriller in 3D ("Bait“), kaum durchdachte Gesellschafts- und Medienkritik ("Superstar“) und verstockte Killer-Pulp-Fiction ("The Iceman“): Viel mehr hatten die Filmfestspiele am Lido in ihrer Ouvertüre nicht zu bieten, bloß kommerzielles und künstlerisches Mittelmaß - mit zwei immerhin löblichen Ausnahmen: Sarah Polleys Investigativreise in die eigene Familiengeschichte, genannt "Stories We Tell“, fiel da und dort produktiv aus dem eher konventionellen Rahmen der dokumentarischen Erzählung; und in dem Wettbewerbsbeitrag "Betrayal“ legte der Russe Kirill Serebrennikov eine in seinem Stilisierungswahn, in seinen Bild- und Formschönheiten zwar wie in Bernstein gefasste, aber auch höchst ungewöhnliche Studie von Betrug und Eifersucht vor.

So fehlte den ersten Spieltagen in Venedig eindeutig Glamour - und beileibe nicht nur jener matte Glanz, den die Gäste aus Hollywood auf dem roten Teppich zu verströmen pflegen: Die Kinosäle sind hier öfter, als einem lieb ist, halb leer, und die Giftbaugrube, auf der längst ein neuer Kinopalast hätte errichtet werden sollen, klafft immer noch, gleich neben dem Festivalzentrum, notdürftig verhüllt von einem verkleideten Bauzaun. Festspiele sehen anders aus.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.