Wahl 1999: Unentschieden
Den Triumph kann er kaum verbergen. Sollte er? Immerhin sind ihm 20 internationale Fernsehstationen und doppelt so viele Fotografen auf den Fersen. Die österreichische Volkspartei, die Jörg Haider immer schon als schwächlich verachtet hat, ist erstmals auf den dritten Platz zurückgefallen, wenn auch nur knapp. Seinem Lebensziel, einmal Bundeskanzler zu werden und die Sozialdemokratie zu vernichten oder zumindest ordentlich zu demütigen, ist Jörg an diesem Wahlsonntag einen großen Schritt näher gekommen.
Jörg Haiders Anhänger, die im Bierlokal Napoleon im 22. Wiener Gemeindebezirk stundenlang dem Wahlausgang entgegengefiebert haben, feiern, wenn auch nicht mit dem letzten Enthusiasmus. Es werde sicher ein Dreier vor dem Endergebnis stehen, haben sie sich zuletzt immer wieder verschwörerisch zugeraunt. Nun sind es mehr als 27 Prozent geworden - ein unglaublicher Erfolg, wenn man bedenkt, dass Jörg Haider vor 13 Jahren eine 5-Prozent-Partei übernommen und bei den Nationalratswahlen 1995 gerade 21,9 Prozent der Stimmen erreicht hat.
In den vergangenen Tagen ist Haider der prognostizierte Erfolg selbst unheimlich geworden. Er beschwor seine Anhängerschaft, dass diesmal ohnehin alles so wie bisher weitergehe, dass kein Umsturz drohe, obgleich "wie in der griechischen Tragödie alle das Ende sehen und keiner es abwenden kann". So sprach er zu den Umschwung witternden Gewerbetreibenden, Anwälten und Notaren, die einem Haider-Empfang in der Sky Bar, hoch über den Dächern von Wien, in auffallend großer Zahl gefolgt waren. Hier war natürlich keine Rede von der so genannten "Überfremdung", auch der Kinderscheck wurde nur kursorisch gestreift. Zu den Rollen, mit denen Haider sich seit neuestem besetzt, gehört ja die des umsichtigen Staatsmannes.
Doch war Haider immer schon in der Lage, mehrere Rollen gleichzeitig zu spielen, ohne die Übersicht zu verlieren.
Ein paar Stunden später, am Platz vor dem Wiener Stephansdom, drohte er dem Kanzler mit einem "Delogierungsbefehl". Dort war die Stimmung eben doch recht umstürzlerisch gefärbt, und die Einpeitscher, die ihre Hände bei den Signalwörtern "Drogendealer", "Kinderschänder", "Kriminelle" und "Ausländer" hochrissen, hatten die Menge geradezu in Verzückung versetzt.
Kärnten als Vorbild. Der Wahlkampf war für die Freiheitlichen glücklich verlaufen. In Kärnten katapultierte Haider sämtliche Altpolitiker aus dem Aufsichtsrat eines landeseigenen Unternehmens und ersetzte sie durch parteiunabhängige Anwälte und No-tare, mit denen er eine gute Gesprächsbasis hat. Der Strompreis für die privaten Haushalte wurde gesenkt, und man hat noch im Ohr, wie Kärntner Politiker von SPÖ und ÖVP dies aufgrund geltender Verträge zuerst als traumtänzerisch abgetan hatten. Die Mieten wurden billiger. Und wenn die Menschen zur Arbeit fuhren, hörten sie im Radio glückliche Mütter aus dem Kärntner Pilotprojekt vom Kinderscheck schwärmen.
Vor kurzem demontierte Haider den Klubchef der Kärntner Sozialdemokraten, weil dieser, im Brotberuf Landesbeamter, seine Sekretärin gebeten hatte, für ihn die Stechuhr zu bedienen. Der sozialdemokratische Abgeordnete und Landesbeamte Anton Leykam verteidigte sich damit, dass er auf der Stechuhr "nicht eingeschult" worden sei, er hätte sie nicht richtig zu bedienen gewusst. Was hätte Haiders Behauptung, dass die Sozialdemokraten um ihre Macht zittern, an ihrer politischen Funktion kleben und den Staat als Selbstbedienungsladen begreifen, besser illustrieren können?
Wenn Haider angesichts solcher Zustände den Vergleich mit der griechischen Tragödie heranzieht, dann sollte man bedenken, dass diese ursprünglich aus dem erzählenden Chor entstanden ist, in dem die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft in einem übermächtigen Einheitsgefühl aufgehoben wurde.
Ein dumpf grollender Chor hat mit Haiders Eintritt in die Politik vor drei Jahrzehnten einen talentierten Kapellmeister gefunden. Anfangs bestand sein Publikum nur aus jungen Schwärmern, die dem alten Traum vom Dritten Reich nachhingen, den ihre Eltern, durchwegs begeisterte Nationalsozialisten, längst schon verbittert abgelegt hatten. Der 16-Jährige sagte, Österreich sei deutsch und müsste wieder heimgeholt werden. Haider sprach von "Mischungen von Völkern und Rassen", die er jedoch nur im Kärntner Grenzland, in Wien und in den niederösterreichischen Industrieregionen für zahlenmäßig relevant hielt. Heute ist Haiders Resonanzboden eine Art von Volksgemeinschaft, die im Gewand des Österreich-Patriotismus daherkommt und ihren vorläufigen Höhepunkt in den Plakaten gegen die so genannte "Überfremdung" gefunden hat.
Gegenüber ausländischen Journalisten beklagt sich Haider gern, dass er noch immer als "Nazi" angesehen werde, bloß weil seine Eltern Funktionäre des NS-Regimes gewesen sind. Haiders Elternhaus könnte man sich in der Tat wie eine Versuchsstation vorstellen, in der die Sensibilität für Stimmungen und Klassenunterschiede, für oben und unten, für Täter und Opfer, erlaubte und verbotene Worte bis zur Perfektionierung erlernt werden konnten. Von Kindesbeinen an hat Haider erfahren, dass seinen Eltern das Bürgerrecht nur gnadenhalber zugestanden worden war, dass andere ehemalige Nationalsozialisten Karriere machten, weil sie bei einer der beiden Staatsparteien angeheuert hatten. In Haiders Elternhaus pflegte man das Zweite-Republik-Ressentiment - und Haider war ein gelehriger Schüler.
Demontage Stegers. Als Haider Obmann der freiheitlichen Jugend wurde, begann in Österreich die Regentschaft sozialdemokratischer Bundeskanzler. Feminismus, Strafvollzug ohne Gefängnis, Mitbestimmung, Freiheit der Kunst waren die Themen, mit denen Kreisky 13 Jahre lang für die Sozialdemokratie absolute Mehrheiten erreichte. Die Spuren dieser Politik möchte Haider heute gern auslöschen. Haider sagt, damals sei ihm ein Licht aufgegangen, wie unfrei der Bürger in diesem Land doch sei, wie verfilzt die Machtstrukturen sich zwischen Kammern, Verbänden und Politik doch darstellten.
Die Aufteilung der Gesellschaft in rote und schwarze Machtbereiche und die Sozialpartnerschaft blieben auch bestehen, als die Freiheitlichen mit den Sozialdemokraten im Jahr 1983 eine Regierung bildeten. Der liberale Parteichef Norbert Steger schaffte es gerade, ein paar blaue Einsprengsel in den staatlichen Institutionen zu etablieren. Haider, damals freiheitlicher Parteichef in Kärnten, intervenierte selbst eifrig für seine Parteigenossen, doch eigentlich wollte er selbst an die Macht. Innerhalb von drei Jahren hatte er die Koalitionsregierung mit dem freiheitlichen Vizekanzler - um bei seinen Worten zu bleiben - "sturmreif" geschossen. Man könnte dies als Modell dafür nehmen, falls wider Erwarten in den nächsten Monaten eine blau-schwarze Regierung zustande kommt, in der Jörg Haider nicht vertreten ist.
Seit Haider am Innsbrucker Parteitag 1986 mit Unterstützung der "Kellernazis", wie sein Vorgänger Steger zu sagen pflegte, die Führung der FPÖ übernommen hat, ist er im Windschatten seiner Wähler immer größer geworden. Zuerst sammelte er ehemalige Wähler der Volkspartei. In den neunziger Jahren entdeckte er die Sprengkraft der Ausländerfrage und stieß massiv in sozialdemokratische Wählerschichten vor. Und er spricht vielen Menschen aus dem Herzen, die sich der vermeintlichen Willkür von Gesetzen und Vorschriften ausgeliefert sehen und die nicht wissen, wieso und warum.
Haiders Kritik an den Verhältnissen ist immer diffus geblieben. Sie ähnelt mehr einer Menschenjagd als einer Systemkritik. Er führt Funktionäre der anderen Parteien mit ihren Gehaltszetteln und Pensionen vor, er findet immer irgendeinen Ausländer, der vergewaltigt oder gestohlen hat und dennoch Sozialhilfe bezieht. Wie würde er, wenn er könnte, wie er wollte, mit der Schattenregierung Sozialpartnerschaft wirklich verfahren? Man weiß nicht so recht, ob die propagierte Erneuerung nicht einfach darauf hinausliefe, dass sich nun auch noch die Haider-Partei in das Proporzsystem zwängt.
Mit seinem 42-Prozent-Erfolg in Kärnten ist Haider salonfähig geworden. Keiner wagte es, ihm den Landeshauptmann zu verwehren, obwohl er doch 1991 wegen des Lobs für die "Beschäftigungspolitik des Dritten Reichs" von diesem Posten abgewählt worden war. Auch sein späterer Auftritt vor SS-Veteranen in Krumpendorf, die er als "anständige Menschen" würdigte, war bald vergessen. Haider geht eben einfach mit der Zeit, wenn er zum Beispiel dieser Tage einem CNN-Reporter wortreich erklärte, dass er das eine niemals gesagt und das andere nur vor "Kärntner Pensionisten" vorgebracht habe. Im österreichischen Wahlkampf waren seine Entgleisungen ohnehin kein Thema mehr gewesen.
Führungsanspruch. Die wundersame Wandlung des ehemaligen Rabauken in einen Politiker, der mit seinen sozialpolitischen Forderungen die SPÖ zu übertrumpfen versuchte, wurde nur durch die Ausländerhetze in Wien empfindlich gestört. So ganz dezidiert wollte allerdings keiner seiner Konkurrenten dagegen auftreten. Hatten sie doch selbst die Null-Zuwanderung zu ihrem Programm erhoben, und die Umfragen sagten, dass dies die angestammte Bevölkerung wünsche. Haider bestimmt eben schon seit Jahren den Ton, in dem über die Verhältnisse hierzulande geredet wird.
So hat er es zweifellos geschafft, die Politik zu einem Psychodrama, nicht zuletzt zu seinem eigenen, zu machen. Da muss ein Wahlerfolg, der ihn nicht an die erste Stelle setzt, fast schal schmecken.
In Haiders politischem Leben kann man einen roten Faden entdecken, eine Charaktereigenschaft, die all das, was er tut, bis ins Kleinste kennzeichnet. Es ist der kindische und potenziell gefährliche Drang, immer und überall der Beste zu sein, mehr geliebt und gefürchtet zu werden als andere. Haider will zwar unbedingt dazu gehören, doch soll er dabei an erster Stelle stehen. Keiner seiner Parteigenossen, die eine Zeit lang in der öffentlichen Anerkennung gleich wichtig waren, hat politisch überlebt. Die Liberale Heide Schmidt hat eine neue Partei gegründet, Haiders ehemaliger Klubobmann Norbert Gugerbauer zog sich ins Privatleben zurück. Der einst nützliche Kompagnon Ewald Stadler, der als "Haiders Dobermann" im Parlament den Rabauken gab, wurde nach Niederösterreich abgeschoben.
Nie hat es einer wagen dürfen, Haiders Position in Zweifel zu ziehen. Die derzeitigen Spitzenkandidaten der FPÖ, Patrick Ortlieb und Theresia Zierler, werden das sicher nicht tun. Gäbe es da nicht den unberechenbaren Großindustriellen Thomas Prinzhorn, könnte Haider bei den künftigen Koalitionsverhandlungen in aller Seelenruhe pokern. Er will die Führung der Republik übernehmen, wenn er so stark geworden ist, dass er anschaffen kann. Doch das ist diesmal noch nicht der Fall.
Von Christa Zöchling
"profil" 40/99 vom 4.10.1999