"Eigentlich ist im Islam alles erlaubt"

Wedad Lootah, Autorin des ersten Sexratgebers für Moslems im Interview

Autorin des ersten Sexratgebers für Moslems im Interview

Drucken

Schriftgröße

Der Kontrast könnte schwerlich größer sein: Da sitzt eine Frau, von der bis auf die Augen nicht viel zu sehen ist. Den Körper verhüllt ein tiefschwarzer Hijab, das Gesicht zusätzlich ein Niqab, ein dunkler Schleier.
Und diese Frau spricht über: weiblichen Orgasmus, Analverkehr, Luststeigerung und andere Intimitäten. So offenherzig, dass die Dolmetscherin zeitweise merklich ins Stocken gerät.

Wedad Lootah hat den ersten Sexratgeber für Moslems geschrieben – und damit für einen veritablen Skandal in ihrer Heimat, dem Emirat Dubai, gesorgt. Das Buch thematisiert eine Reihe von Tabus, die in der arabischen Welt bislang nicht öffentlich angerührt werden durften. Schon gar nicht von einer Frau. Lootah spricht die sexuellen Probleme und Defizite der mos­lemischen Gesellschaften an und gibt anhand konkreter Fälle Tipps zu ihrer Lösung. Die 45-Jährige hat durchaus Autorität, sich zu ­Fragen der Sexualität zu äußern. Sie ist seit neun Jahren als Fami­lienreferentin am Gericht von ­Dubai tätig – als erste Frau und auf persönlichen Wunsch von Muhammad ibn Raschid Al Maktum, dem Herrscher des Emirats, bestellt. „Darauf bin ich sehr stolz“, sagt sie.

Was ihr zusätzlich den Rücken stärkt: Ihr Ratgeber ist aus keiner westlich-liberalen Perspektive verfasst. Darauf weist schon der Titel hin, der „Top Secret: Prinzipien und Anstandsregeln in verheirateten intimen Beziehungen“ lautet.

Sex? Ja. Aber nur auf Basis des Korans. Auch wenn dieser in der Lesart jener Experten, auf die sich Lootah beruft, in mancherlei Belangen deutlich aufgeschlossener erscheint als der Weltkatechismus der katholischen Kirche – umstürzlerisch sind die Schlussfolgerungen, die Wedad Lootah daraus für das traditionelle Geschlechtermodell ableitet, keineswegs. „Ich wollte zeigen, was im ­Eheleben dem Islam nach erlaubt und was verboten ist“, sagt sie. Dafür ersuchte sie vor Veröffentlichung des Buchs auf Arabisch um den Segen des Muftis von Dubai. Der Geistliche erteilte ihn denn auch, warnte allerdings, dass die Öffentlichkeit möglicherweise noch nicht bereit für derartige Tabu­brüche sei. Entsprechend heftig waren die ersten Reaktionen, die bis zu Morddrohungen gingen. Lootah lässt sich dadurch wenig beeindrucken. Eine zweite Auflage, diesmal auf Englisch, ist gerade in Vorbereitung, damit es auch Ausländer und Angehörige anderer Religionen lesen können, für die das Gericht in Dubai seit 2005 Eheberatungen anbietet.

Hinter dem Niqab sind die Gesichtszüge von Wedad Lootah nicht einmal zu erahnen. Aber ihre Augen zeigen, dass sie viel lächelt, auch während des Gesprächs – und ihre Gestik, dass sie eine willensstarke Frau ist. „Top Secret: Prinzipien und ­Anstandsregeln in verheirateten ­intimen Beziehungen“ mag nach den Ansprüchen der säkularen westlichen Welt nicht entsprechen. Muss es aber auch nicht. Es ist der Anfang einer Auseinandersetzung über Sexualität und Geschlechterrollen – in einer Gesellschaft, die jahrzehnte- und jahrhundertelang jeglichen Versuch unterdrückt hat, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.

profil: Frau Lootah, was hat Sie zu Ihrem Buch bewogen?
Lootah: Während meiner Zeit beim Gericht bin ich direkt in Kontakt mit Ehepaaren und deren Problemen gekommen. Das Hauptproblem war, dass die Menschen aufgrund unserer Traditionen nicht offen sprechen dürfen, besonders über familiäre und intime Angelegenheiten. In den ersten vier Jahren meiner Arbeit war es sehr schwierig, Informationen von meinen Klienten zu bekommen, da sie sehr schüchtern waren. Ich habe bemerkt, dass die meisten Eheprobleme mit Sex zu tun hatten – nach und nach erfuhr ich von einigen besonderen Fällen, die mich schließlich dazu bewogen haben, das Buch zu schreiben.

profil: Zum Beispiel?
Lootah: Einmal kam eine Frau zu mir, die 20 Jahre von ihrem Ehemann genötigt wurde, Analverkehr mit ihm zu haben. Sie wusste die ganze Zeit über nicht, dass es auch andere Formen der Sexualität gibt. Oder eine 52-jährige Frau, die seit 35 Jahren verheiratet und bereits Urgroßmutter war und nie erfahren hatte, dass man beim Geschlechtsverkehr auch Lust empfinden kann.

profil: Woran liegt das?
Lootah: Die Frauen wussten viel zu wenig über Sex. Wir versuchen ihnen zu vermitteln, dass Sex nicht falsch ist, sondern eine stärkende Rolle in der Beziehung zum Mann spielt. Die Frauen sind jetzt besser informiert, aber Probleme mit den Männern gibt es immer noch.

profil: Welche Probleme sprechen Sie an?
Lootah: Unter anderem, dass die Männer sehr egoistisch sind. Sie beenden den Sex, wann es ihnen passt. Die Frau ist dazu da, schwanger zu werden und die Kinder großzuziehen. Ein weiterer Fall hat mich dazu bewogen, den Ratgeber zu schreiben: Eine frisch verheiratete Ehefrau wurde von ihrem Mann gedrängt, seinen ganzen Körper und auch seinen Penis zu lecken. Das ist im Islam nicht verboten, aber die Frau hatte Hemmungen. Die Frauen hier sind so erzogen, dass sie solche Sachen nicht machen wollen. Ihr Mann warnte sie, er würde sich scheiden lassen, wenn sie nicht mache, was er verlangt. Als sie sich weiter weigerte, schlug er sie und ließ sich scheiden, obwohl die beiden ein gemeinsames Kind hatten.

profil: Das heißt: Die arabischen Männer sollten an sich arbeiten?
Lootah: Ja. Ein großes Problem sind zum Beispiel auch Ehemänner, die fremdgehen. Unsere Gesellschaft hat sich erst in den vergangenen 35 Jahren geöffnet und modernisiert. Daher kommt es, dass es für die Männer viele Dinge gibt, die interessanter sind als die Ehefrauen. Sie wollen alles ausprobieren, was sie in den Medien sehen.

profil: Aber macht es die Öffnung durch Medien und moderne Technik nicht auch leichter, einen Partner oder eine Partnerin zu finden?
Lootah: Die moderne Technik ist für unsere Gesellschaft ein Nachteil. Wir waren auf diesen Wandel nicht vorbereitet, es ging zu schnell. Vor 30 Jahren hatten wir kaum Geld für Schuhe, jetzt hat jeder drei Handys eingesteckt. Es gibt unzählige Fernsehprogramme und das Internet. Es gibt tausende Angebote, mit denen wir schlecht umgehen können. Für wenig Geld kann man Sex mit Prostituierten haben, die Männer kommen mit diesem Angebot nicht zurecht. Beispielsweise führte eine meiner Klientinnen über lange Jahre eine gute Ehe, bis ihr Ehemann mit einem Freund ausging und die Prostitution entdeckte.

profil: Was lässt sich dagegen unternehmen?
Lootah: Ich wurde schon oft gefragt, ob ich dafür bin, dass ein Mann mehrere Frauen heiraten kann. Ich bin dafür, weil er dann nicht fremdgeht. Polygamie ist im Islam erlaubt. Ein Mann soll lieber eine zweite Frau heiraten, statt fremdzugehen.

profil: Sollten dann nicht auch Frauen polygam leben dürfen?
Lootah: Der Frau wurde dieses Recht nicht zugestanden, weil sie Kinder gebärt. Hätte sie mehrere Männer, wüsste man nicht, wer der Vater ist. Außerdem kommen in den Arabischen Emiraten auf einen Mann drei Frauen – durch die Vielehe müssen nicht so viele Frauen ledig bleiben.

profil: Ist es für Frauen nicht ein gewisser Wettbewerbsvorteil, dass sie verhüllt sind – sie sehen die Männer, diese können sie aber nicht sehen?
Lootah: Laut Islam soll die Frau verschleiert sein, wenn sie außer Haus geht. Aber es spielt nicht nur das Aussehen eine Rolle, sondern auch die Einstellung. Bei der Brautauswahl hat die Familie das Sagen. Beispielsweise gehen Mutter und Geschwister eines Mannes zur potenziellen Braut und reden mit ihr. Dort bekommen sie auch ein Foto, das in die Entscheidung einbezogen wird. Dann wird eine Verlobung vereinbart, der Mann und die Frau treffen sich einmal pro Woche zum Kennenlernen. Dabei trägt die Frau nur ein Kopftuch, das Gesicht darf sie zeigen. Nach der Verlobung gibt es noch eine Frist, bis die Hochzeit gefeiert wird. Beide Partner leben noch bei ihrer eigenen Familie, sind aber faktisch schon verheiratet. Das Paar darf sich sehen, die Frau darf den Schleier ablegen, sie dürfen sich umarmen, nur Sex dürfen sie noch nicht haben. Oft schicken Mütter ihre Töchter zu mir, damit ich sie vor der Hochzeit aufkläre. Einmal kam ein jung verheirateter Mann zu mir, der seine Frau vor der Ehe nicht unverhüllt gesehen hatte, und beschwerte sich, sie wäre zu dürr. Er wollte sich scheiden lassen.

profil: Wie hat das Gericht entschieden?
Lootah: Wir haben ihm empfohlen, ihr viel Bananenmilch zu geben und zu sehen, ob sie etwas zunimmt. Ein anderer Mann wollte sich scheiden lassen, weil er nach der Hochzeit bemerkte, dass die Frau eine schwere Hautkrankheit hat. Diese Scheidung haben wir bewilligt. Scheidungsgründe sind zum Beispiel auch Zeugungsunfähigkeit, Impotenz oder Homosexualität. Ich wollte mit meinem Buch auch zeigen, was im Eheleben dem Islam nach erlaubt und was verboten ist.

profil: Und: Was ist erlaubt?
Lootah: Eigentlich ist im Islam alles erlaubt. Das Einzige, was verboten ist, ist Analverkehr.

profil: Warum eigentlich?
Lootah: Durch Analverkehr werden die Schleimhäute dünner, Bakterien haben mehr Angriffsfläche. Er kann viele Krankheiten verursachen, auch HIV kann durch Analverkehr übertragen werden. Diese Art von Verkehr ist nicht nur Missbrauch, man fühlt sich als Frau auch behandelt wie ein Tier. Manchmal haben Paare vor der Ehe nur Analverkehr, damit die Frau Jungfrau bleibt. Auch das ist ein Problem.

profil: Es scheint so zu sein, dass viele arabische Männer ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Männern machen und die Sexualtechniken dann mit den Ehefrauen weiterführen wollen. Stimmt das?
Lootah: Ja, dieses Problem gibt es. Es gibt sowohl homosexuelle Erfahrungen bei Frauen als auch bei Männern. Es laufen gerade zwei Kampagnen in Dubai, die dieses Problem bekämpfen sollen. Wenn Frauen kommen und sich beschweren, dass ihre Männer nur Analverkehr wollen, schaue ich mir die Geschichte des Mannes genauer an. Meistens komme ich darauf, dass er vorher mit Männern Verkehr hatte.

profil: Ist Homosexualität ein häufiges Phänomen in den Emiraten?
Lootah: Es gibt sie immer wieder. Ich kann aber keine Prozentangaben machen.

profil: Homosexualität ist aus Sicht des Islam inakzeptabel. Warum?
Lootah: Homosexualität verursacht viele Krankheiten und steht der Fortpflanzung im Weg. Homosexualität zerstört die Männlichkeit, homosexuelle Männer können nicht mehr als Mann agieren, und das ist ungesund. Was sollen die Frauen machen, wenn alle Männer schwul werden? Wenn wir sagen, Homosexualität ist die persönliche Freiheit jedes Einzelnen, dann stirbt die Menschheit aus.

profil: Im katholischen Christentum ist Sex nur vorgesehen, um sich fortzupflanzen. Wie finden Sie das?
Lootah: Ich bin moslemisch, und ich bleibe bei meinem Islam.

profil: Es gibt viele Dinge, die im Westen am Islam kritisiert werden. Dazu gehört auch die weibliche Beschneidung.
Lootah: Laut Islam müssen Männer beschnitten werden. Ich bin aber strikt gegen die Beschneidung von Frauen. Für sie wird das im Koran auch nicht verlangt. In den Emiraten gibt es immer wieder Menschen, die darauf bestehen. Meiner Meinung nach ist weibliche Beschneidung kriminell, ungerecht und gegen den Islam.

profil: Ihr Buch richtet sich an verheiratete Paare. Wird es irgendwann auch eines für Unverheiratete geben?
Lootah: Ich bin gegen Sex vor der Ehe. Es ist in Ordnung, wenn sich Paare umarmen. Aber es gibt Grenzen. Wenn Paare vor der Ehe intim sind und es dann bereuen und heiraten wollen, sind wir für diese Ehe. Der Wunsch muss aber auf Liebe basieren und nicht nur den Fehler berichtigen wollen. Der Islam ist hier sehr liberal.

profil: Ab welchem Alter sollte eigentlich mit Sexualaufklärung begonnen werden?
Lootah: In einem Interview wurde ich gefragt, ob ich Sexualunterricht an Schulen geben würde, ich sagte natürlich Ja. Es sollten entsprechende Programme für jedes Alter entwickelt werden. Man müsste bereits bei den Kleinsten mit dem Sexualkunde­unterricht anfangen, damit sie lernen, ihre Grenzen zu kennen und zu wahren. Sie sollen wissen, was richtig und was falsch ist. Zum Beispiel weiß ich von einem fünfjährigen Mädchen, das von seinem 14-jährigen Cousin missbraucht wurde. Vor allem wegen Fällen wie diesem bestehe ich so vehement darauf, dass man früh mit Aufklärung beginnt.

profil: Wie waren eigentlich die Reaktionen auf Ihr Buch?
Lootah: Als erstmals eine meiner Studien im Internet veröffentlicht wurde, waren sie sehr stark. Aber das hat mich nur bewegt weiterzumachen.

profil: Wurden Sie auch bedroht?
Lootah: Ja. In den arabischen Staaten gibt es viele konservative Menschen. Einige behaupteten, ich sei keine Moslemin mehr. Manche sagten auch, ich sei eine Spionin für Israel oder Amerika. Einige drohten sogar, mich umzubringen.

profil: War es für Ihre Familie oder Ihren Mann ein Problem, dass Sie den Sexualratgeber geschrieben haben?
Lootah: Am Anfang waren meine Brüder gegen das Buch. Ich bin dann mit meinen Geschwistern das Manuskript durchgegangen, und sie konnten sagen, wenn ihnen etwas zu extrem war. Diese Passagen habe ich gestrichen. Sonst gab es keine Probleme mit der Familie.

profil: Und was sagt Ihr Mann dazu, dass Sie gerade mit einem fremden Mann über Sex sprechen?
Lootah: Er hat kein Problem damit. Ganz und gar nicht.

profil: Ich bin seit neun Jahren verheiratet. Was würden Sie mir raten, damit die Beziehung weiterhin funktioniert?
Lootah: Auf Dauer kann eine Ehe langweilig werden. Deshalb ist es gut, wenn man immer wieder Zeit ohne den anderen verbringt. Das hält die Sehnsucht aufrecht. Wenn Sie auf Geschäftsreise sind, sollten Sie Ihrer Frau Geschenke mit nach Hause bringen, möglichst teure, denn die Ehefrau ist das Teuerste, das man hat. Probleme sollten gleich besprochen werden. Und ein- bis zweimal in der Woche sollte man sich Zeit füreinander nehmen, ohne Kinder.