Der Unselige

Wie selig ist Johannes Paul II., vormals Papst und Schutzpatron der Kinderschänder?

Kirche. Wie selig ist Johannes Paul II., vormals Papst und Schutzpatron der Kinderschänder?

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Als Johannes Paul II. am 2. April 2005 um 21.37 Uhr in seinen Privatgemächern im Vatikan starb, schien es nur noch eine Formalität, ihn selig- und schließlich heiligzusprechen. Bereits bei der Totenmesse riefen Anhänger „Santo subito!“ ­(sofort heilig), und Benedikt XVI., der ­Nachfolger von Johannes Paul II., verzichtete auf die vorgeschriebene Wartefrist von fünf Jahren und leitete schon nach etwas mehr als zwei Monaten den Seligsprechungsprozess ein.

Kardinal José Saraiva Martins
, der damalige Vorsitzende der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, hielt in der kleinen Kirche von San Pietro della Jenca in den Abruzzen eine Messe und benannte einen der Gipfel des Gran-Sasso-Gebirges nach Johannes Paul II. In seiner Predigt verglich er Karol Wojtyla mit Elias und Moses, denn alle drei hätten die Berge geliebt. Die Spitze „Giovanni Paolo II“ sei 2424 Meter hoch, aber sie würde dank des neuen Namens über ihre eigentliche Höhe „weit hinauswachsen“, prophezeite der Kardinal.

Johannes Paul II. war eine historische Figur. Er war der Pole, der wesentlich dazu beigetragen hatte, dass der kommunistische Ostblock zusammenbrach; er unternahm wichtige Schritte zur Aussöhnung der katholischen Kirche mit dem Judentum; er reiste 247.613 Kilometer um den Erdball und begeisterte weltweit die Massen.

Es muss ein Leichtes für die Kongregation sein, die Kriterien für eine Seligsprechung als erfüllt abzuhaken: Den „Ruf der Heiligkeit“ (fama sanctitatis) genoss der Kandidat schon zu Lebzeiten unter den Gläubigen. Ein Wunder gewirkt zu haben ist nicht so schwierig, wie es scheint: Im riesigen Reservoir an Kirchenfunktionären und Gläubigen findet sich immer eine unerklärliche Spontanheilung, die man dem Seligen in spe zuschreiben kann. Schließlich die Forderung nach überdurchschnittlicher Einhaltung der christlichen Tugenden – ein Pleonasmus, dies einem Mann zuzuschreiben, der mehr als 26 Jahre als „Heiliger Vater“ fungiert hat. Karol der Selige also? Nein. Stattdessen: Karol, der Mitwisser unsagbarer Verbrechen. Karol, der Komplize, der Straftäter vor Verfolgung bewahrte. Karol, der Pate, der ein System begründete, das auf Stillschweigen baute, wenn es galt, Täter vor ihren Opfern zu schützen.

Vermächtnis.
Das unselige Vermächtnis des Johannes Paul II. tritt erst jetzt, fünf ­Jahre nach seinem Tod, zutage, und die Kirche hätte gut daran getan, die weise Fünfjahresregel im Seligsprechungsprozess einzuhalten. Es begann damit, dass erwiesene Fälle von sexuellem Missbrauch öffentlich wurden und sich dabei zeigte, dass Joseph Ratzinger, in der fraglichen Zeit Vorsitzender der Glaubenskongregation, von einer Verfolgung der Täter abgesehen hatte. Um Ratzinger – heute unter dem Namen Benedikt XVI. selbst Papst – zu verteidigen, wiesen Kirchenfunktionäre darauf hin, dass Ratzinger sehr wohl gegen die Kinderschänder vorgehen hatte wollen. Dies sei allerdings „am Widerstand des Vatikans“ gescheitert. Hinter dieser Formulierung, die etwa Ross Douthat, ein konservativer Kommentator der „New York Times“, in seinem Artikel „The Better Pope“ gebraucht, verbirgt sich, kaum verhüllt, der Vorwurf: Nicht Ratzinger deckte die Täter, sondern sein damaliger Vorgesetzter Johannes Paul II. trug ihm dies auf.

Als profil vorvergangene Woche einen führenden Mitarbeiter der Erzdiözese Wien zu einem Hintergrundgespräch traf, brachte der prompt die Kopie eines Zeitungs­artikels mit. Nicht ganz zufällig war es ­Douthats Kommentar „The Better Pope“.

Wer nun tatsächlich der bessere Papst ist – Johannes Paul II. oder Benedikt XVI. –, kann man ohnehin noch nicht wissen. Und ob Ratzinger seine Hände in Unschuld waschen kann, nur weil er tat, was sein Chef von ihm verlangte, ist juristisch wie moralisch höchst fraglich. Sicher ist aber: Johannes Paul II. handelte nicht bloß in krassem Gegensatz zu christlichen Tugenden, sondern menschenverachtend.

Drei Fälle belegen dies deutlich:
Am 30. November 2004 empfing Papst Johannes Paul II. Pater Marcial Maciel Degollado, einen mexikanischen Priester, der 1941 mit den „Legionären Christi“ einen der mächtigsten und reichsten katholischen Orden gegründet hatte, zu einer speziellen Audienz und segnete ihn. Zu diesem Zeitpunkt lagen der Glaubenskongregation bereits Akten mit schweren Anschuldigungen gegen Pater Maciel vor (siehe profil 11/ 2010). Schon 1997 hatten acht Missbrauchsopfer – allesamt ehemalige Legionäre Christi – einen Brief an Johannes Paul II. geschrieben, den dieser ignorierte. Maciel war und blieb ein enger Freund des Papstes, und Joseph Ratzinger soll einem mexikanischen Bischof gegenüber gesagt haben: „Bedauerlicherweise kann der Fall Marcial Maciel nicht eröffnet werden, denn er ist sehr eng mit Papst Johannes Paul II.“ Erst nach dem Tod von Johannes Paul II. wurde der Serientäter Maciel vom Vatikan zum Rückzug aus der Öffentlichkeit überredet.

Ähnlich war es im Fall des Bischofs Lawrence C. Murphy, der an einer Schule für gehörlose Kinder im US-Bundesstaat Wisconsin an die 200 Buben missbrauchte. Trotz Klagen blieb die vatikanische Justiz untätig. Deren Chef Ratzinger soll auf Weisung von oben von einer Verfolgung abgesehen haben. Über Ratzinger stand nur Johannes Paul II.

Der dritte Fall illustriert die Logik hinter der Komplizenschaft. René Bissey, ein französischer Priester, missbrauchte Kinder. Sein Bischof, Pierre Pican, wusste davon. 1998 wurde Bissey von der französischen Justiz wegen des Missbrauchs zu 18 Jahren Haft verurteilt und Pican wegen Strafver­eitelung zu drei Monaten bedingt, da er die Polizei nicht informiert hatte. Kardinal Dario Castrillon Hoyos, im Vatikan für das Kirchenpersonal der Ortskirchen zuständig, beglückwünschte daraufhin im Jahr 2001 Pican in einem Brief dazu, seinen Bruder im Glauben nicht an die weltliche Justiz verraten zu haben. Vor wenigen Wochen erklärte Castrillon Hoyos dazu: „Der Heilige Vater (gemeint ist der damalige Papst Johannes Paul II., Anm.) gestattete mir, diesen Brief an alle Bischöfe weltweit zu versenden und ihn auch im Internet zu veröffentlichen.“

Hindernis.
Es sind nicht bloß ein paar Indizien, die belegen, dass Johannes Paul II. aktiv an der Vertuschung von Missbrauchs­fällen und der Straflosigkeit der Täter schuld war. Die Regeln, die während seiner Amtszeit Geltung hatten, sprechen Bände. Im formal sehr komplizierten Seligsprechungsverfahren ist festgelegt, dass nichts verschwiegen werden darf, was dem Vorgang zuwiderlaufen könnte. Sollten Hindernisse für eine Seligsprechung auftauchen, die sich durch eingehende Recherchen nicht aus der Welt schaffen lassen, so ist das Verfahren einzustellen.

Wenngleich viele Personen an dem Prozess beteiligt sind, so obliegt es letztlich nur einem Mann, die Entscheidung zu treffen: dem Papst, der die Seligsprechung auch in einem Gottesdienst vornimmt. Am 19. Dezember des vergangenen Jahres wurde der „heroische Tugendgrad“ von Johannes Paul II. festgestellt, was als Vorstufe zur Beati­fikation gilt. Sollte Johannes Paul II. seliggesprochen werden, darf er öffentlich verehrt werden. Nicht zuletzt einige straflos gebliebene Kinderschänder werden dies bestimmt tun.

Mitarbeit: Valerie Prassl

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur