Wie man einen Krieg gewinnt

Wie man einen Krieg gewinnt: profil Reporter in den Schluchten der Taliban

profil Reporter in den Schluchten der Taliban

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Am Morgen des 20. Juli 2009, einem Montag, geschah Unerhörtes im Distrikt Chora, Provinz Uruzgan, Afghanistan: Es begann damit, dass ein Mann aus dem Tor des Krankenhauses der Ortschaft Ali Shirzai trat und die Straße zur Militärbasis Mirwais heraufeilte, vorbei an der Apotheke, dem Teehändler, dem Mechaniker. Seine abgetretenen Schuhe wirbelten bei jedem Schritt ein wenig Staub auf, an der Wache des Stützpunkts verlangte er nach Captain Marea von der niederländischen Armee.

Er legte die rechte Hand zum Gruß auf die Brust, machte eine kleine Verneigung vor der Soldatin und nahm auf einem wackeligen Klappsessel Platz. Dann überreichte er ihr ein Stück Papier, einen Brief mit wenigen Zeilen und zwölf kleinen, blauen Fingerabdrücken: den Unterschriften von Afghaninnen aus dem Distrikt, die eine nie dagewesene Forderung erhoben – einen Platz, an dem sie unter sich sein können. Ohne die Ehemänner, die sonst jeden ihrer Schritte überwachen. Und ohne die Burkas, mit denen sie sich verhüllen müssen, wenn ihnen ab und zu einmal gestattet wird, außer Haus zu gehen.

Ein Frauenzentrum für Chora. Auf dem Friedhof.
Captain Marea1 faltete den Brief sorgsam zusammen, und dann lachten sie beide, der Krankenhausverwalter von Ali Shirzai und die Panzerkommandantin mit dem abgeschlossenen Studium in klinischer Psychologie, die sich auf der niederländischen Basis Mirwais – dem nördlichsten Außenposten der ISAF in Uruzgan – um zivile Entwicklungsprojekte kümmert. Sie wussten: Der Brief könnte der Beginn von etwas Neuem sein. Schon jetzt war er ganz sicher dies: ein kleiner Sieg in einem langen Krieg, der im Großen weitaus hoffnungsloser scheint als im Kleinen.

Friedhof der Imperien
Afghanistan ist der Albtraum jeder Armee. Noch viel mehr ist es der Albtraum jeder westlich-demokratischen Regierung, die eine Armee in den Auslandseinsatz schickt. Es hat sich seit seiner Gründung durch den paschtunischen Stammesfürsten Ahmad Schah Durrani im 18. Jahrhundert noch nie auf Dauer unterwerfen lassen, egal, ob von Besetzern oder selbst ernannten Befreiern. Die Briten bezahlten ihre Versuche im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit zehntausenden Gefallenen. Die Sowjets erlitten zwischen 1979 und 1989 ein ähnliches Desaster. Den Beinamen „Friedhof der Imperien“ trägt Afghanistan zu Recht, erkauft hat es ihn mit dem Blut seiner Bevölkerung. Die Zahl seiner Toten wird alleine für die Zeit der russischen Besatzung auf mehr als eine Million geschätzt.

Seit Dezember 2001 ist die NATO mit der ISAF (International Security Assistance Force) in Afghanistan. Sie soll dafür sorgen, dass das Land und seine Institutionen nach Jahrzehnten Bürgerkrieg und Taliban-Herrschaft wiederaufgebaut werden, und die afghanische Polizei und Armee so weit auf Vordermann bringen, dass sie selbst für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen können. Der nächste Prüfstein dafür sind die Präsidentschaftswahlen, die am Donnerstag kommender Woche stattfinden. Dass der Westen das Land nach dem überraschend schnellen Fall des Taliban-Regimes im Dezember 2001 nicht sich selbst überließ, lag wohl weniger an humanitärem Skrupel als an einer tief sitzenden Angst: die Al Kaida, der die radikalislamischen Gotteskrieger vor den Anschlägen von 9/11 Gastfreundschaft gewährt hatten, könnte sich in den gesetzlosen Weiten Afghanistans neu organisieren.

Das geschah zwar nicht, dafür kehrten jedoch die Taliban zurück. Aus den Rückzugsgefechten des früheren Regimes ist über die Jahre ein Volksaufstand geworden, der inzwischen auch die von Paschtunen dominierten Gebiete jenseits der Grenze zu Pakistan erfasst hat. Damit steht die Stabilität einer ohnehin problematischen Atommacht auf dem Spiel. Berücksichtigt man dazu noch die strategischen Interessen von Ländern wie Indien oder dem Iran in der Region und die globale Konkurrenz zwischen dem Westen und China, kommt man den wahren Gründen für das internationale Interesse an Afghanistan schon näher. An den Taliban und Al Kaida allein liegt es jedenfalls nicht. Erstere sind und bleiben eine lokale Widerstandsbewegung, die weder Interesse noch Kapazitäten hat, in den internationalen Terrorismus einzusteigen und den Westen auf seinem eigenen Terrain anzugreifen. Und ob Osama bin Laden und seine Kampfgefährten überhaupt noch handlungsfähig sind, ist höchst fraglich – ihre Handlanger und Gefolgsleute im heiligen Krieg brauchen Afghanistan als sicheren Hafen aber längst nicht mehr.

Durch das Alte Testament
Der Distrikt Chora, in dem sich die Ortschaft Ali Shirzai, die niederländische ISAF-Militärbasis Mirwais und möglicherweise schon bald das erste Frauenzentrum Afghanistans befinden, ist einer der abgelegensten und ärmsten Bezirke der ohnehin abgelegenen und armen Provinz Uruzgan.
Vom Wachturm ihres Stützpunkts aus blicken Captain Marea und die anderen Soldaten der Red Devils vom 12. niederländischen Infanteriebataillon über ein Tal, das auf 1700 Meter Seehöhe zwischen schroffen Bergrücken liegt. Es wird vom Fluss Kamisan Rud bewässert. An seinen Ufern bleibt das Land selbst im Hochsommer grün. Dort bewirtschaften Bauern Obstgärten und Felder, Hirten lassen Schafe weiden. Wenige hundert Meter dahinter endet die Vegetation abrupt. Ab hier gibt es nur mehr Staub, Sand und Steine. In den kleinen Dörfern entlang des Flusses sieht man kaum Menschen auf den Straßen, und schon gar keine Frauen. Die Bewohner von Chora verschanzen sich in ihren durch meterhohe fensterlose Mauern blickdicht von der Außenwelt abgeschotteten Gehöften, den so genannten Qualas. Als Transportmittel dienen Esel und Pferde, wenige haben Motorräder, noch weniger Autos.

„Es ist, als ginge man durch das Alte Testament“, sagt der niederländische General Tom Middendorp, der bis vergangenen Montag die Streitkräfte der ISAF in Uruzgan kommandierte. Nach Tarin Kowt, der Hauptstadt der Provinz Uruzgan, sind es rund 30 Kilometer Wegstrecke – das heißt mindestens zwei Stunden Fahrzeit. Dort weiß man nicht viel über Chora: Rund 46.000 Einwohner soll der Distrikt haben, aber das ist lediglich eine grobe Schätzung, weil es hier noch nie eine Volkszählung gegeben hat.

Chora wiederum weiß kaum etwas über die Welt da draußen. Als im Jahr 2006 zum ersten Mal Truppen der ISAF in das Tal kamen, glaubten manche Bewohner, russischen Soldaten gegenüberzustehen. Das Ende der Sowjetunion hatte sich nicht bis zu ihnen durchgesprochen. All das ist durchaus charakteristisch für den vom Volksstamm der Paschtunen dominierten Süden Afghanistans, das Kernland der Taliban-Bewegung: Mullah Omar, ihr berühmt-berüchtigter Führer, ist in Uruzgan geboren und aufgewachsen. Präsident Hamid Karzai, der ebenfalls aus der Gegend stammt, wäre 2001 in Tarin Kowt beinahe von den Gotteskriegern getötet worden – wenige Tage bevor er sein Amt antrat. Aber ausgerechnet hier, wo es am wenigsten zu erwarten wäre, zeigt sich jetzt ein Hoffnungsschimmer.

Freunde unter Feinden
Die Idee war in ihrer naiven Überzogenheit geradezu typisch für die Ära der amerikanischen Neocons: „Wir haben ein strategisches und, ich glaube, auch moralisches Interesse an einem florierenden, friedlichen und demokratischen Afghanistan“, erklärte US-Präsident George W. Bush noch wenige Wochen vor dem Ende seiner Amtszeit im Dezember 2008. „Und egal, wie lange es dauert, wir werden der Bevölkerung von Afghanistan helfen, Erfolg zu haben.“ Jahrelang erschöpfte sich diese Hilfe im Wesentlichen auf den Einsatz der US-Armee, die sowohl unter dem Kommando der ISAF zum Einsatz kam als auch eigenständig im Rahmen der „Operation Enduring Freedom“ Terrorbekämpfung betrieb.

Die ISAF selbst hat ihr Einsatzgebiet seit 2001 sukzessive auf das ganze Land erweitert. Gegenwärtig verfügt sie über mehr als 61.000 Soldaten aus 42 Nationen. Und es werden immer mehr, seit der neue US-Präsident Barack Obama den Afghanistan-Feldzug auch für sich selbst zum gerechten Krieg erklärt hat, an dessen Ausgang er gemessen werden will. Nun schickt er zehntausende Mann zusätzlich an die Front. Bis Jahres­ende werden mehr als 100.000 westliche Soldaten in Afghanistan stationiert sein.
Aber Druck, das zeigt auch die jüngste Geschichte, erzeugt in Afghanistan bloß eines: Gegendruck. Je mehr Soldaten der Westen ins Land schickte, desto stärker wurde der Widerstand. 2002 starben pro Monat im Schnitt sechs westliche Soldaten, 2005 waren es elf, heuer bereits 33. Tendenz steigend. Insgesamt wurden seit 2001 fast 1300 Gefallene gezählt – und ein Vielfaches an getöteten afghanischen Sicherheitskräften, Zivilisten und Aufständischen.

Dass der Afghanistan-Krieg mit Waffengewalt nicht zu gewinnen ist, dämmerte den aufgeschlosseneren Militärs vor Ort schon bald. Durchsetzen konnte sich diese Erkenntnis aber erst nach dem Abgang der Bush-Administration. Mittlerweile ist sie zum Credo der Mission geworden. „Keine Besatzungsmacht kann hoffen, einen Aufstand niederzuschlagen, indem sie den Weg zum Sieg durch Töten und Erobern erzwingt“, heißt es in der aktuellen Ausgabe des angesehenen Theorieorgans „Foreign Affairs“2. „Sie muss sich Freunde machen, besonders unter ihren Feinden.“

Jetzt wollen plötzlich alle mit den Taliban reden: der neue NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, der britische Außenminister David Milliband und seine US-amerikanische Amtskollegin Hillary Clinton. Bislang wurden die radikalislamischen Gotteskrieger als straff organisierte, zentral geführte Quasiarmee betrachtet, die keiner Vernunft und keinem Verhandlungsangebot zugänglich schien. Inzwischen ist klar, dass es sich um eine zwar breite, aber auch völlig uneinheitliche Widerstandsbewegung handelt. Die Hardcore-Islamisten des früheren Regimes von Mullah Omar kämpfen aus religiösen und ideologischen Motiven gegen die Regierung in Kabul und ihre ausländischen Verbündeten. Lokale Clanchefs verteidigen ihren Machtbereich, Drogenhändler ihre Transportrouten, Opiumbauern ihre Felder. Wer bei Militärschlägen der NATO oder der USA Angehörige verloren hat, versucht, sich zu rächen. Wer sich von der Regierung im Stich gelassen oder durch korrupte Behörden übervorteilt fühlt, genauso. Und: Kriege in Afghanistan werden in der Regel nicht durch Kampfhandlungen entschieden, sondern durch die Bereitschaft einer ausreichenden Anzahl von Beteiligten, die Seiten zu wechseln. All das sind gute Gründe, das Gespräch zu suchen.

Pinkfarbene Gummistiefel
Egal, wie oft sie bereits auf Patrouille gegangen sind: In den letzten Minuten vor dem Aufbruch macht sich bei den Infanteristen der Red Devils auch nach mehr als vier Monaten Dienst in den Bergen Uruzgans immer noch Anspannung bemerkbar. Die sieben Männer und zwei Frauen, eine davon ist Captain Marea, kontrollieren Waffen, Ausrüstung, Wasservorräte.
Acht Uhr früh, die Marlboro am Boden ausgedämpft, die schusssichere Weste festgezurrt, dann öffnet sich das Tor der Basis Mirwais. Squad 1 marschiert in einer lang gezogenen Reihe in Richtung Ali Shirzai. Erst passieren die Soldaten ein paar Qualas. Hinter den leicht verzogenen Metalltüren lassen sich Augenpaare erahnen, die ihnen folgen. Am Straßenrand spielen Kinder, sie tragen pinkfarbene Gummistiefel mit dem grünen Logo der ISAF an der Seite. Es ist ein gutes Zeichen, dass sie damit nach draußen dürfen. Anderswo bringen die Taliban Menschen um, die Geschenke von Ausländern annehmen.

Im Moment wirkt alles friedlich, aber in der Gegend entscheiden oft wenige Meter darüber, ob man sich auf sicherem Terrain befindet oder in Feindesland. Erst tags zuvor ist keine zwei Kilometer nordwestlich ein Soldat der australischen Armee, die ihren Stützpunkt direkt neben der Operationsbasis Mirwais hat, in eine Sprengfalle gelaufen. Er war sofort tot. Ein zweiter Aus­tralier und drei Zivilisten, darunter ein Kind, wurden bei dem Anschlag schwer verletzt.

Auch die Niederländer selbst waren in der vorangegangenen Woche von Attentaten betroffen. Ein Stück flussaufwärts hatten Taliban einen Truppentransporter der ISAF mit einer Mine erwischt, den lahmgelegten Konvoi anschließend mit Handfeuerwaffen und Panzerfäusten angegriffen und dann auch noch ein zu Hilfe gerufenes Panzerfahrzeug in die Luft gejagt. Es dauerte 18 Stunden, bis sich die Red Devils mithilfe australischer und US-Truppen aus der Gefahrenzone zurückziehen konnten – ohne eigene Verluste.

Unter Beschuss zu geraten macht den Soldaten weniger Angst als die IEDs (Improvised Explo­sive Devices), also Sprengfallen. Sie sind derzeit die wichtigste Waffe der Taliban, ihr Einsatz wird immer weiter perfektioniert. Inzwischen verwenden die Aufständischen vermehrt Antipersonenminen, die mit Metalldetektoren nicht aufgespürt werden können. Nach wenigen hundert Metern erreicht Squad 1 den Beginn der Hauptstraße von Ali Shirzai. An ihrem Ende liegt das erste Ziel der Patrouille, das Krankenhaus. Hier will sich Captain Marea mit Afghaninnen treffen, um ihnen von der Idee zu erzählen, die sie seit Wochen verfolgt – dem Frauenzentrum.

„Wenn nötig, kämpfen wir“
Captain Marea gehört nicht direkt zu den Kampftruppen der Red ­Devils. Die Panzerkommandantin ist Mitglied eines so genannten PRT (Provincial Reconstruction Team), das sich in erster Linie um zivile Entwicklungsprojekte kümmern soll. Auch die anderen ISAF-Kontingente verfügen über derartige Teams. Das Besondere am Modell der Niederländer ist, dass jeder Einheit automatisch PRT-Leute beigestellt werden. „Wir legen Wert darauf, dass unsere Leute in 3-D denken – Sicherheit, Entwicklung und Verwaltungsführung“, sagt General Tom Middendorp. „Sie sollen sich nicht nur um Aufständische kümmern, sondern auch um die Lebensumstände der Menschen und ihre Probleme, um ein komplettes Bild zu bekommen.“

Middendorp selbst stimmt im niederländischen ISAF-Hauptquartier in Tarin Kowt sämtliche Operationen und Projekte mit seinem zivilen Konterpart Joep Wijnands ab. Das geht mitunter so weit, dass militärische Einsätze abgeblasen werden, weil die Zivilisten andere, mehr erfolgversprechende Lösungen präsentieren. Modelle wie dieses hatten den Niederländern bei den anderen ISAF-Streitkräften anfangs den Ruf eingebracht, Weicheier zu sein. „Aber das hat sich geändert“, sagt Middendorp. „Wenn es nötig ist, kämpfen wir. Wenn es nicht notwendig ist, kümmern wir uns um Entwicklungsprojekte. Wir haben bewiesen, dass wir beides können.“

Kämpfen mussten die Niederländer in der Tat. Als sie im Jahr 2006 mit rund 1700 Soldaten die Verantwortung für Uruzgan übernahmen, war die Sicherheitslage so prekär wie in den südlich gelegenen Nachbarprovinzen Kandahar und Helmand. „Selbst in der Provinzhauptstadt Tarin Kowt wurden wir beschossen, sobald wir nur aus dem Camp fuhren“, erinnert sich Sergeant Major Frank von den Red Devils, der nun die Operationsbasis Mirwais kommandiert. Im Distrikt Chora war die Lage nicht viel anders. „Als wir hier ankamen, hat es in der Gegend rund 300 Aufständische gegeben, die uns bekämpft haben“, sagt Frank. Im Juni 2007 fand dann die „Schlacht von Chora“ statt. Mehrere hundert Taliban griffen das Tal an, attackierten afghanischen Polizeiposten und eroberten rund um den ISAF-Stützpunkt ein Dorf nach dem anderen.

Es war das Gespenst von Srebrenica, das die Reaktion der Niederländer diktierte: 1995 hatte eines ihrer Blauhelm-Kontingente in Bosnien schmählich dabei versagt, ein Massaker serbischer Truppen an tausenden Zivilisten zu verhindern. Das sollte sich keinesfalls wiederholen. Vier Tage lang lieferten sich die Niederländer schwere Gefechte mit den Aufständischen. Dann waren die Taliban in Chora geschlagen. Aufgegeben haben sie bis heute nicht. Sergeant Major Frank schätzt, dass er es in der Gegend derzeit mit rund 30 Hardcore-Taliban zu tun hat, die Angriffe durchführen und Attentate verüben. Allerdings: Sie verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung immer mehr.

Im Hinterhof der Taliban
Ihre Waffen sind schussbereit, aber die Helme tragen die Red Devils lässig an der Seite, als Squad 1 zum Krankenhaus von Ali Chirzai marschiert. Das Zentrum des Dis­trikts Chora gilt inzwischen als sicher, die Einwohner wissen das zu schätzen. Immer wieder bekommen die Niederländer, aber auch die benachbarten Australier von Afghanen Hinweise auf Taliban und geplante Anschläge. Während sich in Helmand und Kandahar die Lage Woche für Woche zuspitzt, beruhigt sie sich in Uruzgan. In der Hauptstadt Tarin Kowt öffnen neue Geschäfte, erstmals hat sich auch eine Bank hier angesiedelt, die Zahl der zivilen Hilfsorganisationen steigt. Das hat natürlich nicht nur mit dem „niederländischen Ansatz“ zu tun, für den sich mittlerweile auch die US-Streitkräfte inter­essieren. Es liegt auch an Faktoren, die von der ISAF nicht zu beeinflussen sind.

„Helmand ist die wichtigste Produktionsstätte für Opium in Afghanistan, dort steht sehr viel Geld auf dem Spiel“, analysiert General Middendorp. „Die Provinz Kandahar wiederum ist das Kernland der Taliban, die Stadt so etwas wie ihre Hauptstadt. Dort stehen ihre eigenen Interessen auf dem Spiel. Uruzgan hingegen ist bloß eine Art Hinterhof. Das schafft die Bedingungen für mehr Fortschritt hier.“

Die relative, über Jahre hart erkämpfte Ruhe macht es auch möglich, dass das australische ISAF-Kontingent bereits daran geht, Straßen- und Brückenprojekte voranzutreiben. Sie sollen Tarin Kowt nach und nach mit der südwestlich gelegenen Stadt Dihrawud und Chora im Norden verbinden: „Ink Blots“, also Tintenkleckse, nennt die ISAF diese befriedeten Gebiete – der Ausdruck und die dazugehörige Strategie stammen aus der Bekämpfung des Aufstands im Irak durch US-General David Petraeus.
Zudem sind die Niederländer offenbar recht erfolgreich darin, sich keine neuen Feinde zu machen. Wenn sie einen Quala – das private Allerheiligste jedes Paschtunen – durchsuchen wollen, gilt: zuerst um Erlaubnis fragen und den Frauen die Möglichkeit geben, das Anwesen zu verlassen. Gestürmt wird nur, wenn es ganz konkrete Hinweise darauf gibt, dass sich dort hochrangige Aufständische befinden. „Vor Kurzem haben wir bei einer Aktion 200 Qualas durchsucht und dabei mehr als 20 Waffenlager gefunden“, berichtet General Middendorp. „Trotzdem mussten wir in keinem einzigen Fall den Zutritt erzwingen.“

Talib ist eben nicht gleich Talib. Und Afghanistan muss nicht verloren sein – vorausgesetzt, die bereits existierenden sicheren Zonen können gehalten und mithilfe messbarer ziviler Aufbaufortschritte erweitert werden; vorausgesetzt, Aufständische erhalten Anreize, den Kampf zu beenden; vorausgesetzt, die westlichen Verbündeten der Regierung in Kabul haben einen langen Atem: „Wir müssen für Jahrzehnte in Afghanistan bleiben“, sagt Middendorp.

Strategische Geduld
Ali Shirzai ist eines von gezählten 40.020 Dörfern in Afghanistan – ein paar Geschäfte, ein kleiner Bazar, das Spital ist winzig und karg ausgestattet, hat aber einen getrennten Frauentrakt. Letzteres will sich Captain Marea zunutze machen. Eines hat sie während ihrer Dienstzeit in Uruzgan gelernt: Wer hier etwas bewirken will, braucht Geduld – sogar „strategische Geduld“, wie ein Berater von General Middendorp sagt. Fortschritt wird hier nicht in Monaten oder Jahren gemessen, sondern in Generationen.

Er braucht auch die Bereitschaft, sich auf Tatsachen einzulassen, die für europäische Denkmuster schwer akzeptabel scheinen. Zum Beispiel wird man im Distrikt Chora Mädchen nur bis zur fünften Klasse in der Schule finden. Ein Beweis für die Rückständigkeit der Afghanen? Mitnichten: Wer nachfragt, erfährt nämlich, dass Mädchen bis vor fünf Jahren überhaupt nicht zur Schule gingen – und dass kommendes Jahr die ersten in die sechste Klasse aufsteigen werden.

Oder dass es bei einer derart konservativen Gesellschaftsstruktur mit derartig niedrigem Bildungsniveau vernünftig sein kann, zunächst vorrangig Buben auszubilden: weil Väter, die selbst Schreiben, Lesen und Rechnen gelernt haben, das tendenziell auch ihren Töchtern ermöglichen. Oder dass ein Frauenzentrum im Distrikt Chora nur am Gelände des Friedhofs denkbar ist: weil der „Ziarat“ der einzige Ort ist, den Afghaninnen der Tradition nach ohne Männer besuchen dürfen.

Deshalb betritt Captain Marea, klinische Psychologin und Panzerkommandantin, jetzt den Frauentrakt des Krankenhauses: Wo sonst könnte sie ihren Plan, den sie zuvor mit dem jungen Distriktchef und seinen Beratern abgeklärt hat, ungestört vortragen? Sie weiß, dass schätzungsweise 30 Prozent der afghanischen Frauen unter Depressionen leiden – weil sie die Qualas kaum verlassen dürfen und es ihnen nicht nur an sozialem Umgang mangelt, sondern auch an Sonnenlicht; weil sie häuslicher Gewalt ausgesetzt sind; weil sie die Hoffnung, dass sich je etwas an ihrer Situation ändern wird, aufgegeben haben.

Es wird viel Zeit brauchen, selbst für ein kleines Projekt wie das Frauenzentrum von Chora, darauf hat sich Captain Marea eingestellt. Wochen, vielleicht Monate. Aber schon am nächsten Morgen, einem sommerheißen Montag im Juli 2009, kommt ein Mann aus dem Krankenhaus zum Tor der Operationsbasis Mirwais geeilt. In der Hand einen Brief mit zwölf kleinen blauen Fingerabdrücken.