"Wir wissen, worauf es ankommt"

Ägypten. Der Chefideologe der Muslimbrüder über die Proteste gegen Präsident Mursi

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Interview: Gunter Müller

profil: Bis zu 300.000 Demonstranten in ganz Ägypten, Gefechte mit der Polizei, Richter, die vor einer neuen Diktatur unter Präsident Mohammed Mursi warnen: Die Muslimbrüder sind nicht einmal ein halbes Jahr an der Macht, und schon droht Ägypten vor einem Bürgerkrieg zu stehen.
El-Haddad: Aber nein, wir stehen nicht einmal annähernd vor einem Bürgerkrieg. Hier kursieren falsche Zahlen: Es gab maximal 60.000 Demonstranten – und das nicht im ganzen Land, sondern in nur drei Städten. Die Konfrontation zwischen Muslimbrüdern und der Opposition ist ein Zeichen von lebendigem Parlamentarismus, wie es ihn überall auf der Welt gibt. Glauben Sie mir: Die Muslimbrüder sind politisch pragmatisch, suchen nicht den Konflikt, sondern den Kompromiss. Wir wissen genau, worauf es in diesem Spiel ankommt.

profil: Sie können doch nicht bestreiten, dass es eine gefährliche Polarisierung in der ägyptischen Politik gibt.
El-Haddad: Warum soll das gefährlich sein? Polarisierung gibt es in jeder Demokratie. Wir haben – anders als unter Mubarak – freie Meinungsäußerung. Jeder Protest muss friedlich und gesetzeskonform vor sich gehen. Ja, es gab leider Gewalt in den vergangenen Tagen. Am Ende werden aber alle Beteiligten eine friedliche und demokratische Lösung finden.

profil: Präsident Mohammed Mursi hat ein Gesetz erlassen, wonach kein Gericht seine Entscheidungen anfechten darf. Das ist nicht gerade demokratisch.
El-Haddad: Das stimmt schlichtweg nicht. Unseren Gegnern mag die aktuelle Regierung nicht gefallen, aber dafür gibt es faire und freie Wahlen, in denen über die Machthaber entschieden wird. Das ist neu in Ägypten, wir sind auf dem richtigen Weg. Es stimmt, der Präsident hat ein Dekret erlassen, wonach er gegenüber den obersten Richtern immun ist.

profil: Warum eigentlich?
El-Haddad: Weil dieses Gremium unter Mubarak installiert wurde und seine Mitglieder die demokratische Revolution wie auch die demokratisch gewählte Regierung zerstören wollen. Wir haben soeben über eine neue Verfassung abgestimmt, die hoffentlich bald einer Volksbefragung unterzogen wird. Ohne Mursis Beschluss, sich von den Richtern unabhängig zu machen, hätten wir all das nicht erreicht. Es war die richtige Entscheidung.

profil: Aber haben Sie den Widerstand gegen diesen Beschluss nicht unterschätzt? Tausende Ägypter, die im Jänner 2011 für die Absetzung des Mubarak-Regimes demonstrierten und ihr Leben riskierten, gehen heute wieder auf die Straße.
El-Haddad: Sie wissen offensichtlich nicht, dass die Muslimbrüder von Anfang an gegen das Mubarak-Regime demonstrierten und einen Großteil der Massenproteste gegen das Mubarak-Regime mitorganisierten.

profil: Dennoch demonstrieren heute viele gegen den Muslimbruder Mursi, weil sie fürchten, dass Ägypten sich wieder zu einer Diktatur entwickelt.
El-Haddad: Die Diktatur wurde vor eineinhalb Jahren gestürzt. Es dauert lange, bis die Mubarak-Kräfte nicht mehr an der Macht sind. Die Höchstrichter in Ägypten sind schwer korrupt und vom alten Regime ernannt worden. Sie wollten Mubarak-Generäle wieder einsetzen und Ägyptens Transformation torpedieren. Präsident Mohammed Mursi will, dass dieses Gremium künftig demokratisch legitimiert ist, und dafür brauchen wir eine neue Verfassung. Er versprach bei seiner Wahl, Ägypten zu einem demokratischen Land zu machen – jetzt setzt er das in die Tat um. Die Mehrheit steht hinter dem Präsidenten, aber weil Mursis Anhänger Gewalt verhindern wollen, gehen sie nicht auf die Straße, um für ihn zu demonstrieren.

profil: Sie fürchten also nach wie vor ein Comeback des Mubarak-Regimes?
El-Haddad: Das ist eine große Gefahr. Wir haben bislang nur die Führungsebenen in der Verwaltung ausgetauscht, jetzt arbeiten wir uns Schritt für Schritt nach unten. Mubarak hatte allein in seinen Ministerien etwa 3000 Mitarbeiter, die bis heute sehr loyal sind und unser Demokratieprojekt zerstören wollen. Diese Menschen schüren Angst und Hass, sie spielen in der derzeitigen Konfrontation zwischen Regierung und Opposition eine wichtige Rolle. Das alte Mubarak-System kann man nicht von heute auf morgen auflösen, aber das muss passieren, denn es bestiehlt die Bevölkerung und verhindert damit wirtschaftliche Entwicklung.

profil: Wäre es aus Sicht der Muslimbrüder nicht vernünftig, den Dialog mit den liberalen, linken und säkularen Kräften zu suchen?
El-Haddad: Wir wollen das bestmöglich in der Verfassungsversammlung umsetzen. Die Muslimbrüder stehen in der Mitte und versuchen, einen Kompromiss mit den extremen Blöcken zu erzielen, mit den Salafisten auf der einen und den linken und säkularen Kräften auf der anderen Seite, damit diese Verfassung umgesetzt wird. Vor allem mit den linken und liberalen Blöcken ist die Arbeit schwer.

profil: Warum?
El-Haddad: Weil diese Gruppierungen enorm fragmentiert und untereinander zerstritten sind. Es gibt keine politische Führungspersönlichkeit, auf die sie sich einigen können. Erzielen wir einen Kompromiss mit einem Block, beschwert sich der andere – und umgekehrt.

profil: Manche meinen aber auch, dass der Verfassungsentwurf überhastet entstanden sei.
El-Haddad: Tatsache ist, dass die Verfassung sechs Monate lang diskutiert und ausgearbeitet wurde – mithilfe nationaler und internationaler Rechtsexperten. Wir hoffen, dass es so schnell wie möglich ein Referendum gibt. Nur dann können die Mitglieder der Verfassungsversammlung vom gewählten Parlament – und damit auf demokratische Art und Weise – bestimmt werden.

profil: Säkulare Kräfte innerhalb der Verfassungsversammlung boykottieren die Abstimmung, weil die Scharia weiterhin Grundlage des Rechtssystems bleibt, die Rechte von Frauen eingeschränkt werden und islamische Lehrer mehr Einfluss auf das Schulsystem haben sollen.

El-Haddad: Das stimmt schlichtweg nicht. Frauen und Männer haben laut ägyptischem Gesetz dieselben Rechte und Freiheiten. Die Religionsausübung der drei ­abrahamitischen Religionen wird speziell geschützt. Selbst nicht abrahamitische Religionen werden anerkannt sein. Das allein beweist doch, dass diese Vorwürfe absurd und oft politisch gesteuert sind.

profil: Warum basiert die ägyptische Verfassung auf dem religiösen Gesetz des Islam, der Scharia?
El-Haddad: Diesem Beschluss sind endlos lange Diskussionen vorausgegangen. Die Muslimbrüder haben immer darauf bestanden, dass in der Verfassung lediglich die Prinzipien der Scharia enthalten sind. Wir haben immer abgelehnt, dass islamische Texte direkt übernommen werden. Den Liberalen war diese Formulierung zu vage. Sie befürchteten, dass die Salafisten die Prinzipien der Scharia frei nach ihrer Ideologie interpretieren würden. Auf Drängen der Liberalen hat eine unabhängige islamische Universität diesen Teil für uns ausgearbeitet und klare Gesetzestexte formuliert.

profil: Vergangene Woche verurteilte ein Gericht in Ägypten sechs Christen in Abwesenheit zum Tode, weil sie an dem Mohammed-Video „Unschuld der Muslime“ mitgewirkt haben. Halten Sie solche Urteile für richtig?
El-Haddad: Ich kenne diesen Fall nicht. Ich kann nur so viel sagen: Die Beleidigung einer Religion und das Aussenden von Hassbotschaften sind definitiv ein Verbrechen, nicht nur in Ägypten, sondern in jeder Demokratie. Ich bin aber dagegen, dass man die Verantwortlichen zum Tode verurteilt, weil ich gleichzeitig an das Recht auf freie Meinungsäußerung glaube. Man muss so etwas verhindern, nicht in Form von Bestrafung, sondern in Form von Abschreckung. Natürlich hängt das auch davon ab, wie viel Zorn eine solche Hassbotschaft auslöst. Das muss jedes Land für sich festlegen: Was in Großbritannien, in Österreich oder Norwegen funktioniert, gilt vielleicht nicht für Spanien oder Italien. Es gibt gewisse kulturelle Besonderheiten, im Westen wie in der arabischen Welt, die in den jeweiligen Ländern berücksichtigt werden müssen.

Gehad El-Haddad, 30, ist Chefberater der regierenden Muslimbrüder in Ägypten. Nebenbei leitet er das Kairo-Büro des „Renaissance-Projekts“, eine Initiative der Muslimbrüder, die islamische Werte mit den Anforderungen der modernen Wirtschaftswelt kombinieren will.