„Wie soll ich das schaffen?“

Working Poor. Sinkende Löhne, steigende Kosten: 200.000 Menschen in Österreich arbeiten und sind trotzdem arm

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Die Autoscheibe ist kaputt, zwei Zähne auch. Jetzt muss Agathe Bauer* Entscheidungen treffen: Weiter mit dem zugepickten Autofenster fahren – und auf eine Krone sparen? Oder das Auto zur Reparatur bringen – und den günstigsten Zahn wählen, das „Krankenkassengebiss um 70 Euro“? Kurz: Sie hat die Wahl, ob man ihr die Armut im Gesicht oder am Auto ansieht.
Eine dritte Variante gibt es nicht. Agathe Bauer verdient 1100 Euro netto im Monat und kann genau vorrechnen: Die 50-Quadratmeter-Wohnung für sie und ihren 18-jährigen Sohn kostet im teuren Salzburg 500 Euro Miete; wenn sie Heizkosten, Versicherung, Handy, Internet („das brauchen Kinder heutzutage“) und andere Fixkosten abzieht, bleiben ihr 200 Euro pro Monat. Sparmöglichkeiten gibt es keine mehr, aufs Auto kann sie nicht („Ich arbeite in einer Bäckerei, zu den Öffnungszeiten passt kein Bus“), auf die Kosten für ihren Sohn will sie nicht verzichten: „Er besucht eine höhere Schule, das möchte ich ihm ermöglichen.“ Damit sie überhaupt über die Runden kommt, jobbt Frau Bauer am Wochenende in einem Gasthaus. „Wie lange ich das schaffe, weiß ich nicht. Immerhin bin ich 52.“

Agathe Bauer will, wie alle in diesem Artikel, ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Nicht weil sie sich geniert, arm zu sein: „Das Schämen fällt mit den Jahren weg. Aber ich habe Angst, meine Arbeit zu verlieren.“ Trotzdem steigt ihre Wut: „Ich sehe nicht ein, warum man von einem Vollzeitjob kaum leben kann.“

Sinkende Reallöhne
Eigentlich sollte es Menschen wie Frau Bauer im reichen Österreich nicht geben, das war zumindest der Plan. Der Sozialstaat basiert auf der Idee, dass Arbeit vor Armut schützt. „Working Poor“ ist ein Phänomen, das in der Ersten Welt nur in den turbokapitalistischen USA oder in Randstaaten Europas überlebt. So dachte man lange. Doch die Rechnung stimmt nicht mehr: Die Reallöhne, besonders jene des untersten Einkommensdrittels, sinken seit Jahren; gleichzeitig klettern die Preise für Energie, Wohnen und Lebensmittel steil nach oben. Dass Flachbildschirme und Reisen billiger wurden, nützt den Geringverdienern gar nichts. Das Resultat ist in der aktuellen Armutsstatistik nachzulesen: 200.000 Menschen, immerhin fünf Prozent aller Erwerbstätigen, sind arm, obwohl sie arbeiten. 90.000 von ihnen haben sogar einen ganzjährigen Vollzeitjob und trotzdem zu wenig zum Leben. Rechnet man Partner und Angehörige dazu, leben 470.000 Menschen in „Working Poor“-Haushalten. Tendenz steigend.
Was eine Person verdient, sagt wenig aus; entscheidend ist, wie viele Menschen mit diesem Einkommen (inklusive aller Sozialleistungen) auskommen müssen.

Sarah Schmid etwa verdient auf den ersten Blick gar nicht schlecht. Die 35-jährige Akademikerin arbeitet in der Reiseabteilung eines Großkonzerns in Wien und kommt, mit Zulagen für Sonntagsdienste, bei ihrem Vollzeitjob auf 1490 Euro netto, Familienbeihilfe inklusive. Was Frau Schmid unter die statistische Armutsschwelle (1066 Euro für den ersten Erwachsenen, 533 für den zweiten, 320 Euro pro Kind) rutschen lässt, ist ihre Familie: Drei Kinder zwischen zwei und sechs Jahren, ein Mann, ein Nicht-EU-Bürger, derzeit Hausmann. Mehr als zwei Kinder zu haben, steht auf der Liste der Armutsrisken ganz oben, analysiert Judit Marte Huainigg, Sozialreferentin der Caritas: „Hinter dem Phänomen Working Poor versteckt sich oft Familienarmut.“ Egal, ob sie sich im Konzern oder außerhalb für einen besser bezahlten Job bewirbt, immer hört Sarah Schmid: „Wie wollen Sie das mit drei Kindern machen? Wenn ich aber einen Lebenslauf ohne Kinder schreibe, denken die: Die ist 35, die bekommt bald Kinder, die nehmen wir lieber nicht.“

Österreich liegt in jeder Studie über Lohnkosten auf den vorderen Rängen – und hat dennoch einen ausgeprägten Niedriglohnsektor, in dem jede dritte Frau und jeder zehnte Mann beschäftigt sind. Die üblichen Verdächtigen sind seit Jahren dieselben: Mit 43 Prozent arbeitet fast die Hälfte der „Working Poor“ im Dienstleistungssektor, wo durchschnittlich 8,57 Euro pro Stunde bezahlt werden, vor allem als Reinigungskraft, Kellner, Taxifahrer oder Security. Danach kommen Produktionsberufe, vom Lager- bis zum Leiharbeiter, dicht gefolgt vom Einzelhandel. Gäbe es keine Sozialleistungen geben, würde die Zahl der „Working Poor“-Haushalte auf 15 Prozent hochschnellen. Das ist am besten an der Feinanalyse der Mindestsicherung ablesbar: Eigentlich sollte dieses letzte Netz jene auffangen, die keinen Arbeitsplatz bekommen oder bewältigen. Allein in Wien brauchen aber 60 Prozent der Bezieher von Mindestsicherung die Hilfe, weil sie von ihrer Arbeit nicht leben können.

Alexander Huber ist einer von ihnen. Der 29-Jährige war Staplerfahrer, bis die Fabrik aus Wien wegzog. Seit einem Jahr arbeitet er bei einer Schädlingsbekämpfungsfirma. Das Gehalt erscheint mit 1680 brutto nicht schlecht. Herr Huber bekommt aber für seine 40-Stunden-Woche nur 590 Euro netto bezahlt – weil ihn das Unternehmen als „Lehrling“ einstufte. „Das ist eine Frechheit, die wollen eine billige Arbeitskraft. Ich bin zu 99 Prozent allein unterwegs, da ist niemand, von dem ich etwas lerne“, sagt Huber. Bisher bezog er auch noch 400 Euro Mindestsicherung. Ab Mai fängt er bei einem neuen Unternehmen an – und hofft, „dass die zahlen, was sie versprechen“.

Vier Minuten, vier Jahre
Armut schleppt sich durch ein ganzes Leben. Zwischen dem 15., dem ärmsten Wiener Bezirk, und dem reichen ersten Bezirk, liegen vier Minuten U-Bahn-Fahrt – und vier Jahre an Lebenserwartung. Wer kümmerlich verdient, ist kränker, hat später eine Armutspension oder bei Jobverlust nur Mini-Arbeitslosengeld zu erwarten. „Um das zu verhindern, müssen wir Grundsicherungselemente ins Sozialsystem einbauen“, sagt Cornelia Schmidjell, Sozialreferentin der Salzburger Arbeiterkammer. Der Gewerkschaftsbund sieht die Lösung in höheren Gehältern und drängt auf Mindestlöhne von 1500 Euro brutto.

Wenig überraschend finden sich unter den „Working Poor“ viele schlecht Ausgebildete, die nie über die Pflichtschule hin-auskamen. Unerwarteter ist schon der erkleckliche Anteil der Menschen in Sozialberufen.
Katharina Koller zum Beispiel. Die 46-jährige Kommunikationswissenschafterin muss über ihre paradoxe Situation manchmal lachen: Sie arbeitet in einer Linzer Frauenberatungsstelle, hilft Frauen bei Gehaltsverhandlungen und anderen Geldfragen – und verdient mit 1600 Euro selbst so wenig, dass sie nebenbei an einer Fachhochschule unterrichtet, damit ihre beiden Söhne studieren können. „Das geht uns allen so. Ich hätte alle Kolleginnen zum Gespräch mitbringen können“, erzählt Koller bitter. Sie hat jetzt gekündigt und macht sich selbstständig: „Schlechter kann es nicht werden.“

Wenn Österreich einerseits immer wohlhabender wird, andererseits immer mehr Menschen mit zu wenig auskommen müssen, wird es Zeit für eine Gerechtigkeitsdebatte, findet Marcel Fink. „Um substanziell etwas weiterzubringen, müssen wir diskutieren, welche Arbeit uns wie viel wert ist“, fordert der Staatsrechtler an der Wiener Universität. Derzeit ist das Bild klar: Arbeit von Frauen und Migranten ist besonders wenig wert. Wenn irgendetwas schiefgeht, etwa die Beziehung, ist die Armutsschwelle erreicht.

Bei Magdalena Bratic war das vor zwei Jahren der Fall. Der Mann ist weg und zahlt keine Alimente für die achtjährige Tochter. Wären Bratic und ihr Ex-Mann Österreicher, bekäme sie vom Jugendamt Unterhaltsvorschuss. Ausländer(innen) müssen selber schauen, wie sie zu Alimenten kommen. Also hat Frau Bratic zwei Berufe: Montag bis Freitag arbeitet die 32-Jährige in Salzburg Vollzeit als Sekretärin, am Wochenende schiebt sie Schichten in einer Fast-Food-Kette. So kommt sie auf 1400 Euro netto – und kaum aus: „Die Schule ist so teuer! Heute ist Ausflug ins Haus der Natur, acht Euro. Neulich brauchte sie Stifte, ausgerechnet die teuren Faber Castell. Dazu der Hort, 160 Euro im Monat. Wie soll ich das schaffen?“

Wenn es nur ein Einkommen im Haushalt gibt, wird das Geld besonders schnell knapp. 13 Prozent der „Working Poor“ sind Alleinerziehende. „Leistbare Kinderbetreuungsplätze sind ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung von Armut“, sagt Sozialminister Rudolf Hundstorfer. Denn wer nur Teilzeit arbeitet – und das ist fast jede zweite erwerbstätige Frau in Österreich –, hat wenig Chancen, aus der Armutsfalle herauszukommen.
Jovana Juricic kann ein Lied davon singen. Die 30-Jährige ist Alleinerzieherin und Zimmermädchen in einem Salzburger Hotel. Damit sie überhaupt auf ihre 30 Arbeitsstunden pro Woche und 790 Euro netto kommt, muss sie jedes zweite Wochenende arbeiten. „Da brauche ich aber eine Babysitterin. Das kostet wieder 50 Euro pro Tag.“ In ein paar Wochen probiert sie ihr Glück in einem neuen Job, in einem Supermarkt. Wieder eine Niedriglohnbranche.

„Verstetigung“ heißen derartige Lebensläufe an der Armutsgrenze im Fachsprech. Die Soziologin Birgit Buchinger, Forscherin bei „solution“, hat etliche solcher Karrieren beobachtet. Sie findet eines besonders dramatisch: „Working Poor geben die Armut an ihre Kinder weiter. So entsteht eine Generation Prekariat. Und wir schauen zu.“

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin