Zehn Prozent der Lehrer sind völlig ungeeignet
Interview: Eva Linsinger, Ulla Schmid
profil: Wer sitzt jetzt vor uns: ein ÖVP-Politiker oder ein Lobbyist?
Salcher: Als Politiker habe ich stets gegen die Regel Nummer eins verstoßen: Wenns hart wird, halt den Mund. Deshalb bin ich jetzt Buchautor und will wenig beachteten Themen Aufmerksamkeit verleihen und zwar als Unabhängiger.
profil: Sind alle anderen Bildungsexperten abhängig?
Salcher: In diesem Land ist fast jeder abhängig. Dennoch sind alle Bildungsexperten, welcher Couleur auch immer, einig darüber, was in der Bildungspolitik passieren muss.
profil: Warum passiert dann nichts?
Salcher: In Wirklichkeit blockiert nur eine ganz kleine Minderheit: die ÖVP-dominierte AHS-Lehrergewerkschaft.
profil: Und Vizekanzler Josef Pröll, ÖVP-Politiker und Landeshauptleute.
Salcher: Die Landeshauptleute wollen mehr Macht. Dabei ist in keinem anderen demokratischen Land das Schulsystem so im Würgegriff der Parteien wie in Österreich. Wenn ein junger Lehrer in eine Schule kommt, stehen der rote und der schwarze Personalvertreter vor ihm, bevor er sein Zeug ausgeräumt hat. Jede der 4200 Schulen ist entweder Rot oder Schwarz zuzurechnen. Und die AHS-Lehrergewerkschaft vertritt vor allem die schwachen, nicht leistungsorientierten Lehrer, die mein Freund Bernd Schilcher treffend Auspufflehrer nennt: Ab Mittag ist von denen in der Schule nur mehr der Auspuff ihres Autos zu sehen, weil sie so schnell wie möglich verschwinden.
profil: Wenn die VP-dominierte AHS-Lehrergewerkschaft vor allem leistungsunwillige Lehrer vertritt: Warum hat sie dann in der ÖVP so viel Macht?
Salcher: In der SPÖ werden wider besseres Wissen die Privilegien der ÖBB-Mitarbeiter verteidigt, in der ÖVP jene der Lehrer. Das führt zu verstockten Ideologien. Ich sage den Bürgerlichen immer eines: Freunde, ihr seid vehemente Gegner der Gesamtschule. Dabei ist sie bisher nur in Wiens bürgerlichen Bezirken im Flächenversuch verwirklicht: In Wien-Hietzing und im 1. Bezirk gehen 90 Prozent der Kinder in die AHS das ist die schlimmste Form der Gesamtschule, nämlich die nicht leistungsorientierte.
profil: Und was antworten Ihnen Ihre ÖVP-Freunde auf dieses Beispiel?
Salcher: Ich muss jetzt aufpassen, dass ich nicht die ÖVP oder Teile der ÖVP verteidige. Nichts liegt mir ferner. Aber der ÖVP-Wirtschaftsbund oder die Industriellenvereinigung haben verstanden, dass ein Land mit acht Millionen Einwohnern es sich nicht leisten kann, nachweisbar ein Drittel unseres Bildungspotenzials zu vernichten. Der ÖVP-Wirtschaftsflügel agiert in der Bildungspolitik sehr vernünftig.
profil: Aber er setzt sich offenbar nicht durch.
Salcher: Durch die Standesdünkel weiter Teile der ÖVP in der Bildungspolitik verlieren wir zu viele Talente. Die Lehrergewerkschaft soll ruhig die Interessen ihrer Klientel vertreten, auch wenn sie sich gegen die Allgemeinheit richten. Aber die Pflicht einer Regierung ist es zu handeln. Bildungsministerin Claudia Schmied kann allein keine Bildungsreform machen. Dazu braucht es einen nationalen Konsens. Die Politik darf die Lehrergewerkschaft, die immer Nein sagt, nicht so ernst nehmen. Die ist nur ein Papiertiger.
profil: Dafür macht sie der Bildungsministerin große Probleme.
Salcher: Schmied kann nur die Öffentlichkeit mobilisieren, damit Kanzler und Vizekanzler endlich die Bildungsreform angehen. Leider steht Schmied noch unter dem Schock der Niederlage, die sie beim Versuch der Verlängerung der Lehrerarbeitszeit erlitt, und traut sich wenig. So läuft sie Gefahr, abgeschafft zu werden: Wenn das Bildungssystem verländert wird, brauchen wir kein Bildungsministerium. Diese Diskussionen über die Verländerung des Bildungswesens sind doch nur Scheindebatten. Die Eltern werden sich nicht mehr länger gefallen lassen, dass über Bildung, das größte Zukunftsthema, nicht geredet wird.
profil: Wir bremsen Sie ungern in Ihrem Optimismus aber die große Bildungsdiskussion und den Druck zur Reform können wir nicht erkennen.
Salcher: In einem Jahr ist die erste Hälfte der Legislaturperiode vorbei. Wenn bis dorthin nicht eine umfassende Bildungsreform beginnt, passiert bis zu den Nationalratswahlen nichts mehr. Dabei wären alle Konzepte fix und fertig, die Expertisen liegen meterweise auf dem Tisch, Kanzler und Vizekanzler müssten sich nur zu einer Entscheidung durchringen. Wenn das nicht gelingt, wird es einen Boom des privaten Schulsystems geben. Jeder, der es sich irgendwie leisten kann, wird sein Kind in eine Privatschule geben. Im öffentlichen Schulsystem werden die schlechten Lehrer und die Kinder der Migranten und der unteren Bildungsschicht übrig bleiben. Das ist ein Schreckensszenario. Dann gibt es eine echte Schul-Klassengesellschaft wie in Amerika oder England.
profil: Offenbar stört das die Regierungsspitze nicht.
Salcher: In Wirklichkeit sprechen beide Parteien mit gespaltener Zunge. Die ÖVP predigt immer von den Kindern, die in die Hauptschule gehen und glückliche Handwerker werden. Die SPÖ stellt immer die Gesamtschule als Paradies individueller Chancenförderung dar. Und Spitzenpolitiker beider Parteien geben ihre eigenen Kinder in internationale Privatschulen. Eine sehr brutale Maßnahme gegen diese Verlogenheit wäre ein Gesetz, wonach alle Politiker ihre Kinder in die nächste öffentliche Schule geben müssen. Dann würde es ganz schnell eine umfassende Reform des Schulsystems geben.
profil: Dieses Gesetz ist ein Traum von Ihnen. In der Realität steht bald die Entscheidung an, wie es mit dem Schulversuch Neue Mittelschule weitergeht. Was prognostizieren Sie?
Salcher: Die Neue Mittelschule war immer ein Etikettenschwindel, sie ist ja nur ein Upgrade der Hauptschule und hat mit einer Gesamtschule überhaupt nichts zu tun. Meine Prognose ist: Es werden noch mehr Hauptschulen zu Neuen Mittelschulen. Dann wird sich die SPÖ auf die Brust klopfen und sagen: Hurra, die Neue Mittelschule setzt sich durch. Und die ÖVP wird sich auf die Brust klopfen und sagen: Hurra, wir haben das Gymnasium gerettet. Dann haben wir drei statt zwei Schultypen, die Bildungsreform gilt als abgeschlossen, und nichts hat sich verändert. Dabei wäre eine Reform -bitter nötig: Wir haben das viertteuerste Schul-system der Welt, aber bei Weitem nicht das viertbeste.
profil: Was macht das System so teuer?
Salcher: Der eine Kostentreiber sind die vielen Kleinschulen. 34 Prozent der Volksschulen haben maximal drei Klassen mit teils nur fünf Kindern, das ist wahnsinnig teuer. Aber kein Bürgermeister will seine Schule auflösen. Dabei wäre es viel klüger, größere Schulen mit mehr Lehrern zu schaffen und die Kinder gratis dorthin zu transportieren. Der zweite Kostenfaktor ist das Lehrerdienstrecht.
profil: Sind die Gehälter zu hoch?
Salcher: Erstens findet Lehrerfortbildung prinzipiell am Vormittag statt und nie in den Ferien, das bedeutet viele teure Supplierstunden. Zweitens steigen die Gehälter automatisch und zu stark. Ich bin für höhere Anfangsgehälter, dann aber starke Leistungskomponenten, bis hin zur Kündigung von Lehrern. Wie viele Bundeslehrer wurden in den letzten Jahren wegen Unterschlagung oder schweren Verfehlungen entlassen?
profil: Kein einziger.
Salcher: Gewonnen. Zehn Prozent der Lehrer sind für den Beruf völlig ungeeignet. Wenn man sie entfernt, würde die Qualität des Bildungssystems signifikant steigen. Das passiert aber nicht und schafft eine Spirale der Mittelmäßigkeit, in der engagierte Junglehrer nur gemobbt werden.
profil: Sollen Lehrer mehr Zeit an der Schule verbringen?
Salcher: Von acht Uhr bis 16 Uhr haben Lehrer an der Schule zu sein. Das ist in fast allen erfolgreichen Ländern so. Ganztagsschule und Gesamtschule sind nur so möglich. Damit erübrigen sich Hausübungen und der Unsinn, dass Eltern mit den Kindern lernen müssen. Denn weil wir eine Halbtagsschule haben, hängt der Bildungserfolg viel zu sehr von den Eltern ab. Wenn die Eltern wenig gebildet sind, bleiben das auch die Kinder.
profil: Die Lehrergewerkschaft kontert, es gebe an Schulen keine Arbeitsplätze.
Salcher: Sie will ja keine schaffen. Die Unterrichtsministerin wollte jedem Lehrer einen Computer geben, die Lehrergewerkschaft war dagegen. Jetzt kann Schmied nicht einmal jedem Lehrer eine E-Mail -schicken. Das wäre in jedem anderen Unternehmen unmöglich.
profil: Was ist für Sie das ideale Schulsystem?
Salcher: Die derzeitige Trennung mit zehn Jahren in Hauptschule und AHS ist eine soziale Diskriminierung und gehört beendet. Wir brauchen eine Gesamtschule. Dafür muss man aber vorher das Lehrerdienstrecht ändern. Meine Wunschschule schaut so aus, dass jeder Schüler ab zehn Jahren individuelle Lehrpläne bekommt. Da sitzt zum Beispiel einer in Mathematik im Spitzenkurs und in Englisch, wo er weniger talentiert ist, in einem Kurs auf niedrigerem Level. Wir müssen nach Talent, nicht nach Alter differenzieren. Das heißt, dass das zehnjährige Mathematiktalent mit Zwölfjährigen rechnet, in Englisch aber mit Jüngeren sitzt. -
Es gibt schon Schulen, die das machen.
profil: Aber die sind im Schulversuchsstadium und werden das wohl die nächsten 20 Jahre bleiben.
Salcher: Die vielen guten Projekte müssen endlich zur Norm werden. Und die Schulen benötigen mehr Autonomie und eigene Budgets. Ein Direktor in einem schwierigen sozialen Gebiet braucht etwa mehr Sozialarbeiter. Derzeit kriegt er aber teure Atlanten geliefert, weil der Landesschulrat das super findet. Wir brauchen starke Direktoren, die nicht nach Parteibuch ausgewählt werden, sondern nach Qualifikation. Der Direktor soll das Recht haben, seine Lehrer anzustellen und zu kündigen.
profil: Sollen Migrantenkinder auf Schulen und Bezirke aufgeteilt werden?
Salcher: Die Amerikaner haben einst Afroamerikaner mit Bussen quer durch Städte gefahren, um sie aufzuteilen, das ist keine Lösung. Es handelt sich eher um eine Unterschichten- als um eine Migrantenproblematik. Wir sind das einzige Land der Welt, in dem die dritte Generation Migranten schlechter Deutsch spricht als die zweite. Wenn eine Schule viele Zuwanderer hat, nehmen die Österreicher ihre Kinder heraus, und der Migrantenanteil schnellt weiter in die Höhe. Man kann die Österreicher nicht zwingen, dass sie ihre Kinder in solche Schulen geben. Wir müssen aber sicherstellen, dass diese Schulen maximale Förderung bekommen.
profil: Wann soll Bildung beginnen?
Salcher: Das verpflichtende Kindergartenjahr ist ein großer Fortschritt. Von Écoles maternelles davor halte ich wenig. Es gibt auch Overkill an Förderung, wenn schon Dreijährige mit Mandarin beschallt werden. Aber wir geben im internationalen Vergleich zu viel Geld für die Oberstufen und zu wenig für die Volksschulen aus. Dabei steht und fällt mit der Volksschule alles. Wer eine großartige Volksschullehrerin hat, geht sehr gut ins Leben.
profil: Braucht es mehr Volksschullehrer? Meist sind die einzigen Männer in Volksschulen der Schulwart und der Direktor.
Salcher: Und angesichts der steigenden Zahl der Alleinerzieherinnen sehen viele Kinder überhaupt nie einen Mann. Es müssen dringend mehr Männer an die Volksschulen, das funktioniert aber nur, wenn die Einstiegsgehälter steigen. Ein Mann macht das nicht um das Geld.
profil: Und für Lehrerinnen reicht die Bezahlung?
Salcher: Die Volksschule war ein sehr familienverträglicher Halbtagsjob. Künftig sollen auch Volksschullehrer bis 16 Uhr an der Schule sein, dann gibt es mehr Geld. Die herausragenden Bildungssysteme der Welt schaffen es, aus allen Uni-Absolventen gute Lehrer herauszusuchen. Von zehn, die in Finnland Lehrer werden wollen, schafft es einer. Oder in Singapur hat ein Lehrer 200 Stunden Fortbildung verpflichtend pro Jahr. Wir reden viel zu wenig über Lehrerauswahl.
profil: Werden die Falschen Lehrer?
Salcher: Teilweise suchen sich gerade die Schwächsten den Beruf aus. Wir müssen aber die Besten dazu kriegen, Lehrer zu werden. Das ist der entscheidende Baustein der Bildungsreform. Alles andere ist nicht spielentscheidend.