Zeitgeschichte: „Eine gewisse Nähe“

Der Historikerstreit über Julius Wagner-Jauregg

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Schuld ist Nowotny. Als 2003 eine Historiker-Gruppe im Auftrag des Wiener Gemeinderats die Liste der in der Nazi-Zeit gewidmeten Ehrengräber der Stadt durchforstete, stieß sie nicht nur auf den Wehrmachts-Jagdflieger Walter Nowotny, sondern auch auf den Psychiater Julius Wagner-Jauregg. Der gebürtige Welser ist einer der Großen der österreichischen Medizingeschichte: 1929 wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, ab 1953 zierte sein Konterfei den 500-Schilling-Schein; 1957, zum 100. Geburtstag, widmete ihm die Post eine Sondermarke. Die oberösterreichische Landesnervenklinik trägt noch heute seinen Namen.

Die Wiener Forschergruppe, zu welcher die Historiker Manfried Rauchensteiner, Wolfgang Neugebauer und Ferdinand Oppl zählten, deckte in ihrem Endbericht eine weniger ruhmreiche Seite des berühmten Nervendoktors auf: Wagner-Jauregg habe „wesentliche Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung“ vertreten und „in logischer Konsequenz“ an seinem Lebensende die NSDAP-Mitgliedschaft angestrebt, heißt es im 2004 vorgelegten Schlussbericht.

In Oberösterreich verlangten daraufhin die Grünen, im Landtag Koalitionspartner der ÖVP, die Umbenennung der Linzer Nervenklinik. Landeshauptmann Josef Pühringer setzte darauf seinerseits eine Historiker-Kommission ein, die im September 2005 etwas andere Schlüsse zog: „Eine gewisse Nähe“ zum Nationalsozialismus könne bei Wagner-Jauregg angenommen werden, „post mortem kolportierte Sympathien für die NSDAP“ seien aber nicht nachweisbar: „Die Kommission kommt zu dem Ergebnis, dass Wagner-Jauregg nicht als historisch belastete Persönlichkeit anzusehen ist“, heißt es in dem von der Soziologin Brigitte Kepplinger, dem Leiter des Landesarchivs, Gerhard Marckhgot, und dem Sozialwissenschafter Hartmut Reese unterzeichneten Schlussbericht. Reese leitet die Gedenkstätte Hartheim, wo die Nazis tausende Kranke und Behinderte ermordet hatten.

Erbanlagen. Für Landeshauptmann Pühringer war die unangenehme Causa damit erledigt. Nun schlagen freilich die Wiener zurück: In einem neuen Papier, das diese Woche im Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes veröffentlicht wird, vertiefen die Historiker Wolfgang Neugebauer und Peter Schwarz ihre damaligen Erkenntnisse über die NS-Nähe von Wagner-Jauregg. Die Autoren sorgen damit nicht zum ersten Mal für Aufregung: Vor einem Jahr hatten sie die Studie über die braunen Flecken der roten Akademiker-Organisation BSA erstellt und damit gehörigen Wirbel in der SPÖ provoziert.

Einer der zentralen Streitpunkte im Fall Wagner-Jauregg ist dessen Verhältnis zur „Eugenik“. Dieser Begriff, geprägt 1883 von einem britischen Privatgelehrten, geht davon aus, dass die Menschen ihre Evolution selbst steuern und daher eine Verbesserung ihrer Erbanlagen erreichen können. Die Theorie fand rasch Anklang, und selbst sozialdemokratische Gesundheitspolitiker, wie etwa der legendäre Stadtrat des Roten Wien, Julius Tandler, konnten ihr zeitweise etwas abgewinnen. Zunehmend bemächtigten sich aber die Nationalsozialisten dieses Gedankens: „Fremdrassiges“ sollte aus dem „Erbgut des deutschen Volkes“ durch eugenische Maßnahmen entfernt werden. Im Zuge dieser „Rassenhygiene“ kam es in Deutschland schon ab 1933 zu Zwangssterilisierungen, später zu „Blutschutz“-Gesetzen, die den Geschlechtsverkehr zwischen Juden und „Ariern“ streng ahndeten, und schließlich zu den berüchtigten Euthanasiemorden an Kranken, Behinderten und „Asozialen“. Ihnen fielen allein in Wien und Hartheim 7500 Menschen zum Opfer, darunter 800 Kinder in der Klinik des kürzlich verstorbenen Psychiaters Heinrich Gross.

Schon lange vor der NS-Machtergreifung hatte in Österreich der „Bund für Volksaufartung und Erbpflege“ an der Verankerung eugenischer Ideen gearbeitet, dem Julius Wagner-Jauregg von 1928 bis 1935 vorstand. Das oberösterreichische Papier kam zum Schluss, der Psychiater habe in dieser Frage nur sehr moderate Positionen vertreten. So finde sich etwa „keine explizite Befürwortung der Zwangssterilisation“. Tatsächlich war der Arzt vor allem in seinen während der katholischen Ständestaatszeit geschriebenen Artikeln äußerst vorsichtig, da eine päpstliche Enzyklika die Eugenik strikt abgelehnt hatte.

„Ausmerzung“. Neugebauer und Schwarz zitieren in ihrem Konter gegen das oberösterreichische Gutachten allerdings aus den Lebenserinnerungen eines mit Wagner-Jauregg streitenden Wiener Gynäkologen, der notierte: „Er bekannte sich ... auch zu ausmerzenden Maßnahmen der Eugenik, vor allem zur Sterilisation.“ Und konnte es dem Psychiatrie-Papst verborgen bleiben, dass im Juli 1940 rund 3200 Patienten zwecks Ermordung aus der Anstalt Steinhof abtransportiert wurden, die er wenige Jahre zuvor noch selbst geleitet hatte? Der Psychiater Viktor Frankl, damals in weit weniger prominenter Position tätig, hatte die Deportation der Kranken in den Tod jedenfalls mitbekommen: In seinen Memoiren beschrieb er, wie es ihm gelang, einige jüdische Patienten zu retten.

Dennoch stimmt es zumindest formal, wenn das oberösterreichische Gutachten anführt: „Weder in den zentralen Quellen zur NS-Euthanasie noch in den Quellen zu Wagner-Jauregg finden sich Hinweise darauf, dass er von den Plänen zur ,Vernichtung unwerten Lebens‘ gewusst hätte oder gar involviert gewesen wäre.“

Auch in der Beurteilung der politischen Aktivitäten des Nervenarztes und Nobelpreisträgers liegen die Wissenschafter in Wien und Linz weit auseinander. Der Linzer Standpunkt: „Er war Mitglied der Großdeutschen Volkspartei (GDVP) ... Mitglied der NSDAP, ihrer Gliederungen oder ihr nahe stehender Organisationen war er nicht.“ Das Wiener Autorenduo Neugebauer und Schwarz hält den daraus gezogenen Schluss der Oberösterreicher, Wagner-Jauregg sei „nicht als historisch belastete Persönlichkeit“ einzustufen, für „nicht auf dem Stand der wissenschaftlichen Forschung“.

Die GDVP war die 1920 gegründete Sammelpartei von 17 nationalen Gruppen, darunter die „Schönerianer“. In ihrem „Salzburger Programm“ trat sie gegen Liberalismus, Marxismus und Individualismus auf, „die im Judentum ihre festeste Stütze haben“. Juden seien ethnisch keine Deutschen und könnten daher nie Mitglied der von der GDVP angestrebten „Volksgemeinschaft“ sein. 1923 wollten die GDVP und die Christlichsozialen Juden verpflichten, bei der Volkszählung ihre „Rasse“ anzugeben. Kurios: Die 1924 verstorbene Frau des GDVP-Mitglieds Wagner-Jauregg war Jüdin. 1933 trat die GDVP aus der Koalition aus und schloss ein Kampfbündnis mit den Nazis.

Wagner-Jauregg selbst stellte im April 1940 im Alter von 83 Jahren einen Aufnahmeantrag in die NSDAP. Nach seinem Tod im September desselben Jahres wurde sein Ansuchen abgelegt. Seine ehemalige Wirkungsstätte am Wiener Steinhof wurde 1941 in „Wagner-Jauregg Heil- und Pflegeanstalt“ umbenannt. Noch 1945 entfernte die neue Wiener Stadtverwaltung den Namen. Linz bleibt sein Wagner-Jauregg-Spital wohl erhalten: Dort sind inzwischen auch die Grünen von ihrer Umbenennungs-Forderung abgerückt.

Von Herbert Lackner