Draußen vor der Tür

Zwangsräumungen und Selbstmorde in Spanien

Spanien. Zwangsräumungen und Selbstmorde als Symptome der Krise

Drucken

Schriftgröße

Von Manuel Meyer

Als der gerichtliche Räumungsbefehl kam, den das Geldinstitut durchgesetzt hatte, sahen Pedro, 68, und ­Jovita, 67, in ihrer Verzweiflung einfach keinen anderen Ausweg mehr. Am 12. Februar setzten sie ihrem Leben ein Ende. Innerhalb einer Woche hätten die beiden Pensionisten ihre Wohnung in Cas Català auf Mallorca räumen müssen, da sie ihre Schulden bei der Bank nicht mehr begleichen konnten.

Einer der Söhne fand die beiden gegen 14 Uhr tot im Bett auf. Als er sie friedlich nebeneinander liegen sah, dachte er zunächst an ein Gasleck, einen Unfall. Doch dann entdeckte er auf dem Nachttisch die leeren Medikamentendöschen und den Abschiedsbrief, in dem sie erklärten, die Last der Schulden und die Zwangsräumung nicht ertragen zu können.
Der Tod des Rentnerpaars ist in Spa­nien kein Einzelfall. Am Tag nach ihrem Suizid erhängte sich ein Mann in Alicante. Vier Tage später gab es erneut einen Selbstmord in Calvià (Mallorca). Seit Jahresbeginn brachten sich in Spanien bereits zehn Menschen wegen ihrer Schulden und der bevorstehenden Delogierung um. Im vergangenen Jahr waren es mehrere Dutzend Menschen, die aus Verzweifelung und aus Furcht vor Obdachlosigkeit und sozialer Ausgrenzung den Weg in den Tod wählten.

Die nicht enden wollende Wirtschaftskrise und eine Massenarbeitslosigkeit von 25 Prozent treibt immer mehr Spanier in die Armut. Hunderttausende können deshalb die Raten ihrer Hypotheken nicht mehr bezahlen, die ihnen während des Immobilienbooms einst von Banken leichtfertig und ohne jegliche Bonitätsprüfungen nahezu aufgedrängt wurden, sagt Guillem Domingo, Sprecher der „Plattform der Hypothekenbetroffenen“ (PAH). Die offiziellen Zahlen geben ihm Recht. Seit dem Platzen der Immobilienblase vor fünf Jahren wurden fast 400.000 Zwangsräumungen in Spanien durchgeführt.

„Rettet Menschen, nicht Banken“
Auch Amaia, eine 53-jährige Mutter von drei Kindern aus der baskischen Kleinstadt Barakaldo, konnte ihre Schulden nicht mehr begleichen. Als die Polizei Mitte November deshalb vor ihrer Tür stand, stürzte sich die Frau aus dem Fenster im vierten Stockwerk. Die Verzweiflungstat der ehemaligen Stadträtin und die mittlerweile landesweit stattfindenden Massendemonstrationen unter dem Motto „Rettet Menschen, nicht Banken“ veranlassten die konservative Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy dazu, die Zwangsräumungen per Dekret für zwei Jahre auszusetzen. „Das Gesetz ist jedoch völlig unzureichend. Erstens, weil es das Problem nur zeitlich verschiebt und bei Zinsen von bis zu 30 Prozent die Schuldenlast der Betroffenen empfindlich erhöht. Zweitens, weil nur wenige soziale Härtefälle berücksichtigt werden“, kritisiert Rafael Mayoral, Rechtsanwalt der Bürgerinitiative PAH.

Irene González ist einer dieser wenigen Ausnahmefälle. Am vergangenen Mittwoch wurde ihre Zwangsräumung um zwei Jahre verschoben. „Doch bei den derzeitigen Arbeitsmarktbedingungen löst das mein Problem nicht“, klagt die 46-Jährige. Eigentlich sollte sie schon am 19. November ihre Wohnung geräumt haben. Gerade einmal einen Monat gab die Bank ihr damals Zeit, die 70 Quadratmeter große Wohnung im Madrider Arbeiterviertel mit ihren beiden Kindern Gabriel, 9, und Sara, 13, zu verlassen.

„Mich traf der Schlag, als ich die Räumungsaufforderung im Briefkasten fand“, erzählt Irene. Ihr Ex-Mann, den sie vor sieben Jahren wegen häuslicher Gewalt verließ, hatte plötzlich die Zahlungen der monatlichen Hypothekenraten von rund 1000 Euro einfach eingestellt. Doch weder er, noch die Bank unterrichteten sie davon. Als Irene Mitte Oktober den Räumungsbescheid erhielt, hatte die Bank die Wohnung in der Quijada-de-Pandiellos-Straße bereits ohne ihr Wissen an eine Immobilienfirma weiterverkauft.

Hypothek oder Essen
Nur wenige Tage zuvor setzte ihr Arbeitgeber, ein Unternehmen zur Herstellung von Klimaanlagen, fast die Hälfte der 20 Angestellten auf die Straße. Irene durfte bleiben, aber ihr ehedem schon geringer Monatslohn von 800 Euro wurde nochmals empfindlich gekürzt, da sie nur noch halbtags arbeiten darf. „Es war schlimm. Ich musste mich zwischen Hypothek und Essen entscheiden“, erzählt Irene. Als ihr kleiner Sohn sie fragte, ob er wenigstens seine Spielsachen mitnehmen könne, falls sie die Wohnung verlassen müssten, war sie kurz vor dem Zusammenbruch.
Dennoch wirkt Irene González stark. „Das muss ich auch sein. Ich habe keine Zeit zum Weinen. Ich muss mein Leben und meine Familie retten“, sagt sie bestimmt. Doch manchmal verlässt auch sie die Kraft: abends, wenn sie alleine im Bett liegt und vor lauter Sorgen nicht einschlafen kann. Sie selbst würde den Weg in den Tod niemals wählen. Doch wenn sie in der Zeitung die Geschichten der Menschen liest, die unter der Last der Schuldenprobleme zusammengebrochen sind und den Freitod wählten, versteht sie die Motive nur allzu gut.

„Du fühlst dich verlassen, frustriert. Du denkst, dein Leben ist gescheitert, und du hast das Gefühl, für Freunde und Familie zur Last zu werden“, sagt Irene. Es sei vor allem der Mix aus Wut, Schuldgefühlen, sozialer Ausgrenzung und Einsamkeit, welche viele nicht selten aus Schamgefühlen selber wählen, die Betroffene in dieser prekären Situation an den Rand einer Depression und der völligen Resignation treibe, erklärt auch Psychologin Irene Montero, die freiwillig bei der Bürgerplattform PAH ihre Dienste anbietet.

Die „Plattform der Hypothekenbetroffenen“ hat mittlerweile landesweit über hundert Anlaufstellen. Die Betroffenen kommen regelmäßig zusammen, um gemeinsame Strategien gegen die Banken zu beschließen, Zwangsräumungen anderer Mitglieder durch Massenproteste zu verhindern oder auch 1,4 Millionen Unterschriften für eine neue Gesetzesinitiative zu sammeln.

Die wurde in der vergangenen Woche trotz des Widerstands der regierenden Konservativen, die im Parlament eine Mehrheit haben, überraschend angenommen. Es war der Tag, an dem der aufsehen­erregende Selbstmord des Rentnerpaares auf Mallorca bekannt wurde. Ob die Parteien jedoch Anfang März wirklich auf die PAH-Forderungen eingehen werden, daran zweifelt Irene González. Verlangt werden mehr Sozialwohnungen und das Aussetzen aller Zwangsräumungen, nicht nur jener in den bisher definierten sozialen Härtefällen. „Die Politiker sind aber eher auf der Seite der Banken und nicht der Menschen“, sagt Irene resigniert und fragt sich, wie es ihr wohl in zwei Jahren ergehen wird, sollte die Wirtschaftskrise nicht endlich enden.

Chronologie der Krise

1996–2006
Spanien im Bau-Boom. Die Preise für Immobilien steigen stark, der Anteil des Bau- und Immobiliensektors am BIP klettert auf 18 Prozent. Die spanischen Privathaushalte sind mit etwa 135 Prozent ihres Jahreseinkommens verschuldet.

2007
Die Immobilienblase platzt, angestoßen vom Crash des US-Immobilienmarktes und der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise. Die sozial­demokratische Regierung von Luis ­Zapatero beschließt mehrere Konjunkturprogramme, die einen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Land verhindern sollen.

2009
Die EU leitet ein Defizitverfahren gegen das Land ein. Die Regierung verordnet erste Sparmaßnahmen. Ein striktes Austeritätsprogramm wird Anfang 2010 durchgesetzt: 65 Milliarden Euro sollten damit in drei Jahren eingespart werden.

2011
Im November siegt die konservative Volkspartei unter Mariano Rajoy bei den Parlamentswahlen. Die neue Regierung verschärft den Austeritätskurs und weitet die Ausgabenkürzungen von 65 Milliarden Euro auf 102 Milliarden Euro aus.

2012
Nach Hilfspaketen der spanischen Regierung sagt die EU im Juli den maroden spanischen Banken Hilfe zu: Sie erhalten 37 Milliarden Euro an Hilfsgeldern aus dem ESM. Die Neuverschuldung des Staats wächst 2012 aufgrund der tiefen Rezession und ­einer Arbeitslosenrate von 25 Prozent um die Rekordsumme von 146 Milliarden Euro an.

2013
Vergangenen Freitag veröffentlicht die EU-Kommission ihre Wachstumsprognose für dieses und das nächste Jahr. Spanien wird demnach 2013 ein Defizit von 6,7 Prozent vorausgesagt, 2014 sollen es 7,2 Prozent werden. Damit ist die Lage deutlich schlechter, als es die EU noch im Herbst erwartet hatte.

Mitarbeit: Elisabeth Postl