„Cum-Ex“-Millionen: Finanz blitzte sechs Mal bei Gericht ab
Von Stefan Melichar
Schriftgröße
Und wieder sind knapp 40 Millionen Euro Steuergeld für immer weg: Am 22. März 2024 erging ein Urteil des Bundesfinanzgerichts, das es in sich hatte. Der Fall drehte sich um insgesamt rund 38,7 Millionen Euro, welche vom Finanzamt Eisenstadt in den Jahren 2011 bis 2013 an einen Investor in den Vereinigten Arabischen Emiraten ausbezahlt worden waren – zur Erstattung der zuvor von der Finanz einbehaltenen Kapitalertragsteuer auf Aktiendividenden. Ein Vorgang, der aus heutiger Sicht massive Fragen aufwirft.
Nähere Angaben zum glücklichen Geldempfänger – vermutlich keine Einzelperson, sondern eine Firma – enthält die anonymisierte Fassung der Gerichtsentscheidung, die profil vorliegt, nicht. Nicht weniger interessant sind jedoch die Begleitumstände, die sich aus der vorliegenden Urteilsausfertigung sehr wohl herauslesen lassen: Alles spricht dafür, dass die Millionen-Auszahlungen – rückblickend betrachtet – zu Unrecht erfolgt sind. Und trotzdem gelang es den Behörden nicht, das Geld zurückholen.
Der große Steuerraub
Es ist eine besondere Episode in einer Affäre, die unter dem Namen „Cum-Ex“ international seit Jahren für Schlagzeilen sorgt – profil berichtete wiederholt. Es geht darum, dass findige Banker, Anwälte, Berater und Investoren jahrelang auf Kosten der Staatskasse in zahlreichen europäischen Ländern massive Gewinne einstreichen konnten. Oftmals – so der Verdacht – mit rundheraus betrügerischen Mitteln.
„Cum-Ex“-Deals sind Aktiengeschäfte rund um den konkreten Tag der Dividendenzahlung. Das kann zu einer besonderen Konstellation führen: Österreichische Unternehmen, die Dividenden auszahlen, liefern Kapitalertragsteuer (KESt) an die Finanz ab. Investoren in Ländern mit günstigen Doppelbesteuerungsabkommen können sich diese teilweise oder ganz zurückholen. Und taten das in der Vergangenheit teils exzessiv.
Manche kauften Aktien knapp vor dem Stichtag und stießen sie bald danach wieder ab – holten sich aber die Steuer von der österreichischen Finanz. Doch damit nicht genug: Besondere Feinheiten bei der Gestaltung der mitunter höchst komplexen Transaktionen konnten zumindest früher sogar zu Mehrfach-Auszahlungen führen. Seit Jahren laufen auch in Österreich Ermittlungen wegen Betrugsverdachts gegen Investmentbanker und Konsorten, die im Verdacht stehen, derartige Deals missbräuchlich eingesetzt zu haben, um den Staat abzuzocken.
In Österreich hat man es dieser Steuer-Mafia allem Anschein nach nicht allzu schwer gemacht: Wie der Rechnungshof schon vor einiger Zeit herausgearbeitet hat, war die Finanz schlecht ausgestattet und überfordert. Im Ministerium wusste man das, tat aber lange nicht wirklich etwas dagegen. Das für derartige Fälle zuständige Finanzamt in Eisenstadt ließ man im Regen stehen, viel zu spät wurde dann vor rund zehn Jahren der Riegel vorgeschoben. Da war jede Menge Geld bereits weg. Nun zeigen profil-Recherchen: So sehr der Staat früher dabei versagte, die Umtriebe zu unterbinden, so sehr scheitert er jetzt daran, das Geld wieder zurückzuholen. Jedenfalls bisher.
International geht es um Milliardenbeträge. Das österreichische Finanzministerium hat lange geleugnet, dass es hierzulande überhaupt einen Schaden gibt. Erst 2019 legte man Zahlen auf den Tisch: insgesamt 187 Millionen Euro. Wobei nicht jedes „Cum-Ex“-Geschäft, das zu einer unrechtmäßigen Auszahlung führt, automatisch mit Betrug gleichzusetzen ist. Hier gelten im Strafrecht strengere Maßstäbe als im Finanzrecht. Die Folge für die Steuerzahler ist freilich dieselbe: Das Geld ist weg.
Mit dem Eingeständnis, dass Österreich doch einen beträchtlichen Schaden erlitten hatte, starteten politische Bestrebungen, diesen zumindest nachträglich zu minimieren. Der Zwischenstand, den profil erhoben hat, wirkt allerdings ernüchternd.
Die Schadensbilanz
Von der Gesamtsumme von 187 Millionen Euro muss man gleich einmal 75 Millionen abziehen, da diese bereits verjährt waren und ohnehin nicht mehr zurückgeholt werden konnten. Der Betrag war eine Schätzung des Finanzministeriums. Wie viel es wirklich gewesen ist, wird man wohl nie herausfinden.
Blieben also rund 112 Millionen Euro, die allesamt in den Jahren 2011 bis 2013 ausbezahlt worden waren und nun zurückgefordert werden sollten. Wie das Finanzministerium auf Anfrage mitteilte, wurden jedoch bisher lediglich rund 4,8 Millionen Euro tatsächlich zurückbezahlt. profil-Recherchen zufolge stammten rund drei Millionen Euro davon von einer britischen Bank, welche einer Rückforderung durch das Finanzamt letztlich nachkam, ohne diese vor Gericht zu bekämpfen. Die Bank beziehungsweise einige ihrer Mitarbeiter spielen in einem zentralen Fall von Cum-Ex-Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) eine Rolle – zu diesen Ermittlungen später mehr. Mitarbeiter des Instituts könnten gemäß Verdachtslage einer anderen Tätergruppe bei besonders ausgefeilten und mutmaßlich betrügerischen Cum-Ex-Deals zur Hand gegangen sein. Die Bank entschied sich offenbar, bei der Aufklärung mitzuwirken und Geld, das sie selbst aus Cum-Ex-Geschäften eingestreift hatte, zurückzugeben. Die WKStA sah in der Folge von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen das Institut ab.
Zu den zurückbezahlten 4,8 Millionen Euro kann die Finanz weitere rund 4,1 Millionen Euro verbuchen: Sie hat den Betrag mit späteren Erstattungsanträgen derselben Antragsteller gegengerechnet und – obwohl für diese die Voraussetzungen vorgelegen wären – keine Auszahlungen vorgenommen. Das war es dann allerdings auch schon auf der Haben-Seite. In aller Kürze: Den zurückgeholten 8,9 Millionen Euro stehen Ausbuchungen von insgesamt 39,6 Millionen Euro gegenüber, die praktisch für immer weg sind. Rund drei Millionen Euro davon haben sich als verjährt herausgestellt und wurden daher gar nicht zurückgefordert. Der Rest musste aufgrund zweier rechtskräftiger Urteile des Bundesfinanzgerichts in den Wind geschrieben werden – darunter jenes, das eingangs dieses Artikels erwähnt ist.
Schlechte Karten bei Gericht
Offen sind somit noch Rückforderungen von rund 63,2 Millionen Euro. Wobei es in Bezug auf 21,9 Millionen Euro davon gar nicht gut aussieht: Die Investoren haben die Rückforderung beim Bundesfinanzgericht bekämpft und allesamt in erster Instanz Recht bekommen. Quasi im Staccato setzt es in diesen vier Fällen innerhalb weniger Wochen von Mitte Februar bis Anfang April dieses Jahres Niederlagen für die Behörde. Diese zieht zwar in die nächste Instanz. Möglich waren aber nur sogenannte außerordentliche Rechtsmittel, weil das Bundesfinanzgericht eigentlich keine offenen Grundsatzfragen mehr sah.
Rechnet man die beiden bereits rechtskräftigen Entscheidungen dazu, blitzte die Finanz mit ihren Rückforderungen somit sechs Mal bei Gericht ab – und damit in sämtlichen Fällen, welche beim Bundesfinanzgericht entschieden wurden. Man darf gespannt sein, wie die Rechtsmittel verlaufen. Weshalb ausgerechnet beim – am Anfang des Artikels beschriebenen – besonders großvolumigen Fall keine Revision versucht wurde, ließ das Ministerium auf Anfrage mit Verweis auf die interne Entscheidungsbildung unbeantwortet.
Dass es rechtlich bei der Rückforderung massiv hapert, ist insofern überraschend, als – nach Jahren des Leugnens – 2019 ein neues Gesetz erlassen wurde, um unter anderem das Eintreiben dieser Gelder rechtlich möglich zu machen. Wie profil-Recherchen zeigen, greift dieses Gesetz jedoch ausgerechnet in Cum-Ex-Fällen bisher überhaupt nicht.
Finanzamt erstellte keine Bescheide
Dazu muss man wissen, dass das Finanzamt Eisenstadt sowohl technisch als auch, was die Personalressourcen betraf, mit den zahlreichen KESt-Erstattungsanträgen in den Jahren vor 2014 derart überfordert war, dass es für genehmigte Anträge keine Bescheide ausstellte. Das Geld wurde einfach überwiesen – teilweise zig Millionen Euro pro Empfänger. Das wurde als Verwaltungspraxis hingenommen, widerspricht jedoch eigentlich den rechtlichen Notwendigkeiten.
Als die Regierung 2019 endlich an der Rückholung zu arbeiten begann, dachte man offenbar, aus der Not eine Tugend machen zu können. Die Bundesabgabenordnung wurde um Paragraf 241a ergänzt – möglicherweise die am klarsten formulierte Gesetzesstelle Österreichs: „Wer Rückzahlungen oder Erstattungen aufgrund abgabenrechtlicher Vorschriften ohne Rechtsgrund erlangt hat, hat die entsprechenden Beträge zurückzuzahlen.“ Der Verweis auf abgabenrechtliche Vorschriften wurde später gestrichen.
Der Versuch, auf Basis der rechtsgrundlos – nämlich ohne Bescheid – erfolgten Cum-Ex-Auszahlungen nachträglich eine Rückzahlungspflicht durch die Empfänger zu argumentieren, erwies sich jedoch bisher als untauglich. Das Bundesfinanzgericht hielt gleich im ersten entsprechenden Urteil fest, dass es „sachlich nicht gerechtfertigt“ sei, den „Nachteil dieser rechtswidrigen Verwaltungsübung“ uneingeschränkt auf die Steuerpflichtigen zu überwälzen.
Das Gericht sah eine rückwirkende Anwendung von § 241a mit Verweis auf den Vertrauensschutz nicht als rechtmäßig an. Die Finanz legte Revision beim Verwaltungsgerichtshof ein. Der wiederum gelangte zu der Ansicht, dass der Paragraf die Behörde nicht von der Notwendigkeit entbinde, eine Abgabenfestsetzung vorzunehmen. Bevor nicht per Bescheid über den ursprünglichen Erstattungsantrag entschieden ist, kann das neue Gesetz also darauf nicht angewandt werden.
Neues Gesetz greift nicht
Das hat zu der kuriosen Situation geführt, dass die Finanzbehörden Anfang Februar 2024 in zumindest vier Fällen Erstattungsanträge von Investoren per Bescheid abgewiesen hat – mehr als zehn Jahre nach der Auszahlung. Das Bundesfinanzgericht ließ sich davon jedenfalls nicht beeindrucken und gab den Investoren in erster Instanz Recht. Die Argumentation sinngemäß: Die Finanz habe das Geld bereits 2019 zurückgefordert. Das Gericht habe über das damalige Vorgehen zu entscheiden. Spätere Ereignisse würden nicht zum Prozessgegenstand gehören.
Ein möglicher rechtlicher Ausweg könnte darin liegen, den Zeitablauf zu entwirren: Zuerst die Rückforderung von 2019 stornieren, dann per Bescheid die ursprüngliche Erstattung ablehnen und dann noch mal das Geld zurückfordern. Die Frage ist allerdings, ob das die ohnehin bestehende Verjährungsproblematik nicht noch verschärfen würde.
Dass die Finanz derart in die Defensive gelangen würde, war nicht unbedingt zu erwarten. In Bezug auf eine wesentliche Vorfrage haben die Behörden sogar eine unerwartete Trumpfkarte in die Hand bekommen. Der Verwaltungsgerichtshof sah nämlich die Frage, wann genau jemand Eigentümer von Aktien sein muss, um überhaupt Anspruch auf ein Dividenden-KESt-Erstattung zu haben, noch strenger als die Behörde selbst. Das ist seit Mitte 2022 ausjudiziert. Seither lässt sich klar sagen, ob eine Auszahlung zu Unrecht erfolgt ist – ganz unabhängig von der Frage eines allfälligen Betrugs. Auf diese Weise ist es der Finanz zumindest gelungen, zusätzliche Erstattungsbegehren von insgesamt rund 3,2 Millionen Euro, bei denen noch keine Auszahlung erfolgt war, vor Gericht abzuschmettern.
60 Beschuldigte
Ob die diversen Fälle beim Bundesfinanzgericht auch Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen sind, lässt sich aus den vorliegenden anonymisierten Entscheidungen nicht herauslesen. Fest steht, dass das Thema Cum-Ex sowohl die WKStA als auch die Staatsanwaltschaft Eisenstadt beschäftigt. Die WKStA ermittelt gegen rund 60 Beschuldigte – darunter ungefähr 40 natürliche Personen verschiedenster Staatsangehörigkeit. Es geht um insgesamt 83 Millionen Euro Schaden, wobei in Bezug auf rund 50 Millionen Euro die Taten gemäß Verdachtslage im Versuchsstadium geblieben sind. Bei rund 33 Millionen Euro geht die WKStA von einem vollendetem Schaden aus.
Sachverhalte unter einer Schadensgrenze von fünf Millionen Euro hat die WKStA an die Staatsanwaltschaft Eisenstadt abgetreten. Dort verzeichnet man laut einer Sprecherin fünf einzelne Cum-Ex-Ermittlungsverfahren. Diese seien formal „abgebrochen“, weil man auf das Ergebnis von Rechtshilfeersuchen an andere Länder warte. Wenn Ergebnisse da sind, werden die Verfahren wiederaufgenommen. Die Schadensbeträge der Ermittlungsstränge summieren sich laut Verdachtslage auf insgesamt rund 15 Millionen Euro.
profil war vor einiger Zeit Teil einer weltweiten Journalistenkooperation unter dem Titel „CumEx Files 2.0“, geleitet von der gemeinnützigen deutschen Rechercheplattform „CORRECTIV“. Hier geht es zu den damaligen Berichten.
Stefan Melichar
ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.