Die Kurz-Anklage: „Ein starkes Motiv“
Am 18. Oktober um 9.30 Uhr wird im Großen Schwurgerichtssaal des Wiener Straflandesgerichts Justizgeschichte geschrieben: Erstmals seit Fred Sinowatz (SPÖ) anno 1991 muss sich ein früherer Bundeskanzler der Republik vor Gericht verantworten. Es ist Sebastian Kurz, einst Super-Star der heimischen Innenpolitik und Hoffnungsträger der ÖVP. Zumindest bis zum Herbst 2021. Da musste er sich nach einer Reihe bekanntgewordener Vorwürfe und Verdachtslagen aus der Politik zurückziehen. Ein Teil soll nun vor Gericht geklärt werden: Als amtierender Kanzler soll Kurz – so der Verdacht – vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss unter Wahrheitspflicht gelogen haben.
Eines vorneweg: Kurz hat sämtliche Vorwürfe immer vehement bestritten. Knapp bevor profil am Freitag als erstes Medium über die Anklageerhebung berichtete, hatte der frühere Bundeskanzler dies nochmals via Kurznachrichtendienst „X“ (vormals: Twitter) bekräftigt: „Die Vorwürfe sind falsch und wir freuen uns darauf, wenn nun endlich die Wahrheit ans Licht kommt und sich die Anschuldigungen auch vor Gericht als haltlos herausstellen.“
Ob Kurz damit Recht behält, wird sich weisen. profil liegt der 108 Seiten starke Strafantrag der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) vor, der sich nicht nur gegen den Ex-Kanzler, sondern auch gegen dessen ehemaligen Kabinettschef Bernhard Bonelli sowie gegen die frühere Casinos-Austria-Chefin Bettina Glatz-Kremsner richtet. Auch Bonelli und Glatz-Kremsner haben strafrechtliches Fehlverhalten immer bestritten.
Dreifach falsch?
Laut Strafantrag soll Kurz in drei inhaltlichen Zusammenhängen falsch ausgesagt haben. Sie alle hängen mit dem Umbau der milliardenschweren „Österreichische Bundes- und Industriebeteiligungen GmbH“ (ÖBIB) zur „Österreichische Beteiligungs AG“ (ÖBAG) in den Jahren 2017 bis 2019 zusammen. Die Staatsholding managt die Anteile der Republik an Unternehmen wie OMV, Verbund, A1 oder Post. Der Ex-Kanzler soll – so der Vorwurf – bei seiner Befragung im U-Ausschuss am 24. Juni 2020 seine Rolle bei der Besetzung des ÖBAG-Vorstands mit Ex-Finanz-Generalsekretär Thomas Schmid sowie der Auswahl der Aufsichtsräte heruntergespielt haben.
Kurz sei nämlich bereits im „Frühling/Sommer 2017“ an Schmid herangetreten, „um ihn mit der Vorbereitung der Strukturreform zu beauftragen“, schreibt die WKStA im Strafantrag. Der damalige ÖVP-Chef habe Schmid darüber hinaus auch mitgeteilt, dass er Schmids Rolle „in der Leitung der neu zu strukturierenden Beteiligungsgesellschaft“ sehe. Was die Besetzung des ÖBAG-Aufsichtsrats anbelangt, habe Kurz sich bei vielen Gesprächen beteiligt und aktiv eingebracht. Dies soll Kurz laut Verdachtslage gegenüber dem Ausschuss ebenso unrichtig dargestellt haben wie seine Kenntnis über eine Postenvereinbarung zwischen Schmid und dem FPÖ-Berater Arnold Schiefer. Schmid und Schiefer waren im Hintergrund so etwas wie die Chefverhandler der Türkis-Blauen Republik – auch wenn es um Postendeals ging.
Die Falschaussage-Vorwürfe gegen Bonelli beziehen auf ähnliche Sachverhalte. Jene bezüglich Glatz-Kremsner drehen sich wiederum zum Gutteil um Vorstandsbestellungen bei der Casinos Austria AG. Glatz-Kremsner soll diesbezüglich auch als Zeugin vor der WKStA nicht die Wahrheit gesagt haben.
Wenn die Lüge leichtfällt
Die Unwahrheit zu sagen wäre für sich allein genommen strafrechtlich noch nicht relevant. Das ist es erst, wenn es auch einen beweisbaren Vorsatz gibt. Darum legt die WKStA in der Anklageschrift einen besonderen Fokus auf die – von ihr vermutete – Motivlage von Sebastian Kurz: „Fallbezogen liegt ein starkes Motiv für eine vorsätzliche Falschaussage vor: Die hier zu beurteilenden Aussagen beziehen sich allesamt auf Fragen zu einer möglichen von Kurz zu verantwortenden (strafrechtlich per se nicht relevanten) politischen Einflussnahme auf Postenbesetzungen und umfassende und explizite Vereinbarungen zu verpöntem ‚Postenschacher‘. Kurz und seine Bewegung haben stets als Markenkern einen ‚neuen Stil‘ ihrer Politik beworben. Die jahrelange sogenannte ‚große‘ Koalition wurde immer wieder auch für den offensichtlichen Proporz und Postenschacher kritisiert, weshalb es für Kurz wesentlich war, dass seine Bewegung in der öffentlichen Wahrnehmung eine andere ‚Politik‘ glaubhaft machen kann.“
Hinzu käme laut WKStA noch, dass „eine Lüge besonders leichtfällt, wenn zwei Voraussetzungen vorliegen: Einerseits, wenn sie einer Person oder Institution dient, zu der eine enge Bindung besteht (hier die eigene Partei), andererseits, wenn durch die Lüge keine andere Person unmittelbar geschädigt wird, höchstens eine anonyme Institution, z.B. der Staat“.
Zustimmung und Widerspruch
Kurz soll also die Unwahrheit gesagt haben, um die eigene politische Glaubwürdigkeit zu bewahren. Die WKStA geht jedoch davon aus, dass auch die Aussagen einer Reihe anderer Personen nicht zwingend vollumfänglich mit der Realität in Einklang zu bringen sind: „Zusammengefasst zeigt sich ein Gesamtbild, wonach befragte Mitbeschuldigte oder Zeugen abhängig von der Nähe und der spezifischen Loyalität zu den Beschuldigten entweder eigene Erinnerungen in weitem Umfang bestritten, oder … Aussagen tätigten, die in offenem Widerspruch zu objektiven Beweisergebnissen wie den zahlreichen Chatnachrichten, E-Mail, Kalendereinträgen und sonstigen physischen oder elektronischen Dokumenten stehen“, heißt es im Strafantrag. Nachsatz: „Derartigen Aussagen kommt daher keine ‚entlastende‘ Wirkung zu.“
Kurz schrieb am Freitag via „X“ (bis vor Kurzem Twitter): „Die WKStA hat sich nun trotz 30 entlastender Zeugenaussagen dazu entschieden, einen Strafantrag wegen mutmaßlicher Falschaussage vor dem U-Ausschuss zu stellen. Darin wird wieder einmal versucht, meine Aussagen falsch zu interpretieren durch Spekulationen, ob ein ‚Na‘ auf ein ‚Nie‘ als doppelte Verneinung, Widerspruch oder Zustimmung zu werten ist oder die Frage, ob das Wort ‚involviert‘ passender gewesen wäre als ‚informiert‘. Wie bereits viele Vorwürfe der WKStA wird sich auch dieser als falsch herausstellen.“
Bonelli wollte am Freitag kein Statement zum Strafantrag abgeben. Der Anwalt von Bettina Glatz-Kremsner, Lukas Kollmann, teilte auf profil-Anfrage mit: „Die Entscheidung der WKStA, den nunmehr vorliegenden Strafantrag zu erheben, ist zur Kenntnis zu nehmen. Meine Mandantin ist jedoch sehr zuversichtlich, dass sie ihren Standpunkt gegenüber dem Gericht umfassend darlegen wird können.“ Sie gehe „von einem positiven Verfahrensgang“ aus.
Wer einmal lügt, …
Zentral für den „Verfahrensgang“ – besonders mit Blick auf Sebastian Kurz – wird freilich die Befragung von Thomas Schmid. Der frühere ÖBAG-Chef versucht bekanntlich in Bezug auf Vorwürfe gegen seine Person Kronzeuge zu werden. Er hat einerseits ein weitreichendes Geständnis abgelegt und andererseits der WKStA dabei geholfen, seine sichergestellten Handy-Chats in einen Kontext zu setzen. Dabei belastet er auch Kurz. Der bevorstehende Auftritt Schmids im Falschaussage-Prozess wird zeigen, wie glaubhaft der frühere türkise Strippenzieher im Finanzministerium vor Gericht wirkt. Das kann auch Signalwirkung haben für weitere Ermittlungen gegen Kurz in Zusammenhang mit der sogenannten Inseraten- beziehungsweise Umfragen-Affäre (der Ex-Kanzler bestreitet auch hier sämtliche Vorwürfe).
Die Verteidigung wird absehbarer Weise im Prozess auch darauf abzielen, die Glaubwürdigkeit Schmids zu erschüttern. Dies wurde bereits im Zuge des Ermittlungsverfahrens versucht – mit Hilfe eines von Kurz geheim mitgeschnittenen Telefonats zwischen ihm und Schmid. Im Strafantrag argumentiert die WKStA nun, dass Kurz „ein – wohl ihn selbst entlastendes – Beweismittel schaffen wollte“ – dies unter Nutzung einer List, indem er die Aufnahme verheimlicht und im Telefonat „beinahe alle Fragen suggestiv“ gestellt habe.
Kein Kavaliersdelikt
Schmid ist allerdings nur eine von 21 Personen, die die WKStA ab Mitte Oktober in den Zeugenstand heben will. So werden etwa auch die Ex-ÖVP-Finanzminister Hartwig Löger und Gernot Blümel, Ex-ÖBAG-Aufsichtsratsvorsitzender Helmut Kern, der steirische Investor Siegfried Wolf oder der frühere Casinos-Aufsichtsratschef Walter Rothensteiner vor Gericht geladen. Auch Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) und Kurz-Berater Stefan Steiner sollen nach dem Willen der WKStA als Zeugen aussagen.
Der Allgemeinheit, die falsche Zeugenaussagen allzu oft als ‚Kavaliersdelikte‘ empfindet, muss daher klar signalisiert werden, dass bei falschen Beweisaussagen mit Verurteilungen zu rechnen ist.
Die Strafdrohung im Fall einer Verurteilung beträgt bis zu drei Jahre Haft. „Ein bei Delikten mit einem solchen Strafrahmen grundsätzlich gesetzlich mögliches diversionelles Vorgehen kommt fallbezogen mangels Verantwortungsübernahme und zusätzlich auch aus generalpräventiven Gesichtspunkten nicht in Betracht“, führt die WKStA im Strafantrag aus.
Die Anklagebehörde verweist auf einen Beschluss des OLG-Wien in Bezug auf ein anderes Gerichtsverfahren und zitiert folgendermaßen daraus: „Der Allgemeinheit, die falsche Zeugenaussagen allzu oft als ‚Kavaliersdelikte‘ empfindet, muss daher klar signalisiert werden, dass bei falschen Beweisaussagen mit Verurteilungen zu rechnen ist. Dies gilt gerade in Verfahren – wie hier – mit besonderem öffentlichen Interesse, vor allem im Falle erwiesener Falschaussagen, die die Aufklärung derartiger Taten oder die parlamentarische Kontrolle behindern können.“ Laut OLG bedürfe es einer „spürbaren staatlichen Reaktion, um der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass solche Delikte mit entsprechender Härte verfolgt werden“.
In der Causa Kurz ist nun freilich zunächst einmal die erste Instanz am Zug. Das Verfahren führt Richter Michael Radasztics – ein bis vor nicht allzu langer Zeit auf Wirtschaftsstrafrecht spezialisierter Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Wien. Es wird sich zeigen, ob die Vorwürfe vor Gericht bestand haben oder – wie vom Ex-Kanzler erhofft – in sich zusammenbrechen.