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Die neue Welt des Kokains: Wie Europa zur Drogenküche kolumbianischer Gangs wird

Das internationale Drogen-Business verändert sich seit einigen Jahren stark. Gerade in Bezug auf Kokain spielen auch EU-Länder eine immer wichtigere Rolle – und zwar bereits im Produktionsprozess. Alarmierende Ergebnisse einer globalen Recherche.

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März 2023. Am Landesgericht Korneuburg startet ein aufsehenerregendes Verfahren gegen vier Männer und eine Frau. Die – teils in Ostösterreich wohnhaften – Slowaken sollen in großem Stil und über Jahre hinweg Drogen geschmuggelt und verkauft haben. Von zumindest 50 Kilogramm Kokain und mehr als 150 Kilo Methamphetamin (vulgo: Crystal Meth) ist vor Gericht die Rede. Die Drogen sollen in Wien, Niederösterreich, dem Burgenland, aber auch in der Slowakei weiterverkauft worden sein. Bevorzugte Übergabeorte waren laut Anklage etwa Hotels in Wien oder Parkplätze. Ins Land kam das Suchtgift – so der Vorwurf – teilweise in extra umgebauten Fahrzeugen. Das Kokain dürfte zuvor über die Niederlande nach Europa gelangt sein. Ursprüngliches Herkunftsland: Kolumbien.

Es ist beileibe nicht die einzige große Drogen-Causa mit Österreich-Bezug, in der Kolumbien eine wichtige Rolle spielt. Das riesige Land ganz im Norden Südamerikas gilt als größter Kokain-Produzent der Welt. Zwei Drittel des begehrten, aber verbotenen weißen Pulvers, das in Europa in Umlauf gelangt, sollen aus Kolumbien stammen. Das hinterlässt auch hierzulande Spuren – unter anderem folgende:

  • Anfang dieses Jahres wurde bekannt, dass die US-Drogenbehörde DEA einen in der Steiermark lebenden gebürtigen Montenegriner verdächtigt, einem von den Vereinigten Staaten und Kolumbien aus operierenden Drogen-Kartell anzugehören. Die DEA machte in diesem Zusammenhang auch noch zwei weitere Verdächtige aus, die in Wien gemeldet sind und von dort wiederholt nach Südamerika pendelten.
  • Ende 2021 flog in Linz ein Drogen-Ring auf, der mehrere Kilo des illegalen Stoffs über die Dominikanische Republik nach Österreich geschmuggelt hatte – unter anderem versteckt im Gestänge von Reisekoffern. Zumindest ein Teil des Koks stammte laut Ermittlungsergebnissen aus Kolumbien.
  •  2018 entdeckten britische Behörden auf einem Flughafen in der Nähe von London in einem Privatjet 15 Koffer mit insgesamt 500 Kilogramm Kokain. Gestartet war die Maschine in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota. Das Flugzeug gehörte zur Flotte von „Tyrolean Jet Services“ (TJS) – damals eine Tochterfirma des österreichischen Swarovski-Konzerns, bei der man Charterflüge buchen konnte. (TJS distanzierte sich seinerzeit von dem Vorfall und betonte, man habe keinerlei Verbindungen zu den Passagieren des Fluges gehabt. Vorwürfe gegen das Unternehmen wurden nicht erhoben.)
  • 2015 berichtete profil über eine junge Oberösterreicherin, die bei der Ausreise aus Kolumbien mit einem Hartschalenkoffer erwischt worden war, dessen Außenhüllen aus einer eigens angefertigten Kautschuk-Suchtgift-Mischung bestanden hatten. Inhalt: 2,1 Kilogramm reines Kokain. Die Polizei ging davon aus, dass ihr die Drogen von ihrem Freund untergejubelt worden waren. Dennoch saß sie dreieinhalb Jahre in einem kolumbianischen Gefängnis in Haft.

Wer verstehen will, wie das globale Milliarden-Business mit Suchtgift funktioniert, muss den kolumbianischen Drogennetzwerken folgen. Eine internationale Journalistenkooperation hat genau das gemacht – mit durchaus besorgniserregenden Ergebnissen, die bis nach Europa führen.

Projekt „NarcoFiles“

profil ist Teil einer weltweiten Recherchekooperation unter dem Namen „NarcoFiles: The New Criminal Order“. Das länderübergreifende Investigativprojekt befasst sich mit organisiertem Verbrechen auf einer globalen Ebene, mit neuen Entwicklungen in diesem Bereich, mit seinen Nebenerscheinungen und mit jenen, die diese Form der Kriminalität bekämpfen.

Das Projekt wird vom „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP) in Partnerschaft mit dem „Centro Latinoamericano de Investigación Periodística“ (CLIP) geleitet. Ausgangspunkt war ein Leak von E-Mails der kolumbianischen Staatsanwaltschaft. Mehr als vierzig Medienpartner auf der ganzen Welt haben das Material geprüft und mit Informationen aus Hunderten anderen Dokumenten, Datenbanken und Interviews untermauert. In Österreich berichten neben profil auch der Investigativpodcast „Die Dunkelkammer“ sowie „Der Standard“.

Kokain-Business breitet sich aus

Das Kokain-Business ist im Wandel – und breitet sich aus: Konzentrierte sich der Anbau von Koka-Pflanzen im industriellen Stil noch vor nicht allzu langer Zeit auf Kolumbien, Peru und Bolivien, reicht dieser mittlerweile weit nach Zentralamerika hinein.

Der Thinktank „Insight Crime“ geht davon aus, dass die kolumbianische Guerilla-Gruppe FARC bis 2016 bis zu 40 Prozent des weltweiten Kokain-Handels kontrolliert hatte. In diesem Jahr schloss jedoch die Regierung des Landes einen Friedensvertrag mit der FARC. Als die Gruppe zersplitterte, wurden die Karten neu gemischt, und es entstand ein deutlich diverserer Markt für die Produktion und Verbreitung des begehrten weißen Pulvers. Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft – auch das illegale.

Gleichzeitig dürften die Kokain-Barone und neuen Gangs für sich erkannt haben, dass es wirtschaftlich günstiger ist, näher an den Abnehmern zu produzieren. Somit entwickelten sich Länder in Zentralamerika wie Guatemala, Honduras oder Mexiko, die früher eher als Stationen auf Schmuggelrouten gedient hatten, zu Anbaugebieten weiter. Mittlerweile wurden nachgelagerte Teile des mehrstufigen Produktionsprozesses aber auch über den Atlantik hinweg ausgelagert – nach Europa.

Das heißt jedoch nicht, dass die kolumbianischen Kartelle, Clans und Gangs an Bedeutung im internationalen Drogen-Business verloren hätten. Ganz im Gegenteil: Sie exportieren neben Drogen nun zusätzlich auch noch ihr Personal und ihre Expertise im Bereich der Weiterverarbeitung. Dies zeigen zusammengeführte Recherchen von OCCRP und den NarcoFiles-Projektpartnern „El Universal“, „Plaza Pública“, „Agencia Ocote“, „Ojoconmipisto“, „Narcodiario“, „Follow the Money“, „Knack“ sowie CLIP.

Drogenküche in der Reitschule

Juli 2020: Vor dem Pferdestall einer Reitschule im niederländischen Ort Nijeveen hält ein Bus mit getönten Scheiben. Dem Fahrzeug entsteigt eine Gruppe Kolumbianer. Diese sind nicht gekommen, um Reiten zu lernen. Im Stall haben ihre Auftraggeber – eine kriminelle Gruppierung aus der Region – das größte Kokainlabor eingerichtet, das niederländischen Ermittlern jemals unterkommen sollte. Einer späteren Anklage zufolge war die Drogenküche darauf ausgelegt, bis zu 200 Kilo Kokain pro Tag zu produzieren.

Den Kolumbianern wurden bei der Ankunft die Handys abgenommen. Die Tür wurde hinter ihnen versperrt, wie sie später aussagten, und sie verbrachten – der niederländischen Staatsanwaltschaft zufolge – die folgenden zehn Tage damit, Kokain zu extrahieren, zu verarbeiten und zu verpacken. Geplant gewesen sei die riesige Menge von einer Tonne.

Auslagerung mit System

Ermittlungsakten zufolge waren die Kokain-Köche im Auftrag eines Kolumbianers unterwegs, der wiederum mit Anführern einer niederländischen Gang in Kontakt stand. Die Niederländer hatten zuvor eine Reihe von Örtlichkeiten besichtigt, bevor sie sich letztlich für die Reitschule entschieden. Dies geht aus sichergestellten Nachrichten des verschlüsselten Dienstes „EncroChat“ hervor, welchen die Polizei hacken konnte. Die Chats finden sich nun in einem Haftbefehl wieder.

„Dieser Ort ist perfekt“, schrieb ein niederländisches Gang-Mitglied an jenen Mann in Kolumbien, der das Kokain liefern würde. Dessen sinngemäße Antwort: „Lass uns die Sau rauslassen.“ (auf Englisch: „Let‘s go wild.“)

Die Einrichtung eines solchen Drogenlabors kostet Geld: Aus Kolumbien sollen zu diesem Zweck mehr als 1,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden sein. Die Auslagerung nach Europa hat System. Anders als in Südamerika sind die notwendigen Chemikalien für die Weiterverarbeitung hier leichter erhältlich. Außerdem wird Kokain in unterschiedlicher Form geschmuggelt – etwa gemischt mit geschmolzenem Plastik oder aufgelöst in einer Flüssigkeit, mit der dann Kleider und andere Materialen vor dem Transport imprägniert werden.

In der Folge muss die reine Droge aus dem Transportmaterial herausgelöst werden. Das ist eine der Aufgaben derartiger Labors. In Nijeveen zum Beispiel wurde die Kokainbasis zunächst aus Kohle extrahiert und dann kristallisiert. Derartige Schmuggelmethoden sind schwer zu entdecken. Gleichzeitig bergen sie aber auch ein gewisses Risiko für die Verbrechersyndikate: Geht man bei der Rückgewinnung nicht richtig vor, erhält man nämlich mitunter nur einen Bruchteil des Kokains zurück – oder ruiniert gar die gesamte Lieferung.

Ein Experte der niederländischen Polizei geht davon aus, dass die Kolumbianer, die für die Arbeit in den Laboratorien nach Europa gebracht werden, oft dieselben sind, die das Suchtgift zuvor in ihrem Heimatland in entsprechenden Trägermaterialen versteckt haben. Diese wüssten am besten, wie man das Kokain zurückgewinnen kann.

Mittlerweile gibt es allerdings auch in Europa Drogenküchen, die in den eigentlichen Produktionsprozess von Kokain eingebunden sind. Im heurigen Jahr hob die spanische Polizei ein Labor aus, in welchem das Suchtgift direkt aus der sogenannten Kokain-Basispaste – eine Art Vor-Produkt, das aus den Koka-Blättern gewonnen wird – hergestellt wurde und nicht aus einem Trägermaterial für den Schmuggel. Da die Paste billiger ist als das fertige Kokain, können die Gangs auf diese Weise ihre Verluste reduzieren, wenn doch einmal eine Lieferung vom Zoll abgefangen wird. Die spanischen Behörden rechnen damit, dass sich diese Vorgehensweise alleine aus ökonomischen Gründen exponentiell ausbreiten werde.

„Rekordniveau bei Verfügbarkeit und Gewalt“

Als Hotspots für die Weiterverarbeitung von Kokain in Europa gelten Belgien, die Niederlande und Spanien. Alleine in den Niederlanden hat die Polizei seit 2018 mehr als 60 Drogenküchen ausgehoben.

Im Mai 2022 verwiesen Europol und die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) darauf, dass sich die EU immer mehr zum Umschlagplatz für Kokain und Methamphetamin entwickle: „Die Produktion wird jetzt auch in Europa ausgeweitet, was auf Veränderungen in der Rolle der Region im internationalen Kokainhandel hinweist“, heißt es im Bericht. Europa stehe einer zunehmenden Bedrohung durch einen diverseren und dynamischeren Drogenmarkt gegenüber, der durch eine enge Kooperation europäischer und internationaler Kartelle geprägt sei. EMCDDA-Chef Alexis Goosdeel zufolge habe dies zu einem „Rekordniveau bei der Verfügbarkeit von Drogen, zunehmender Gewalt und Korruption und sich verschlimmernden Gesundheitsproblemen“ geführt.

Kokain gilt nach Cannabis als meist konsumierte illegale Droge in der EU. Für das Jahr 2020 wurde der Markt für Kokain in der Europäischen Union im Bericht mit insgesamt mindestens 10,5 Milliarden Euro beziffert. Schätzungsweise hätten 14 Millionen Europäer im Alter von 15 bis 65 Jahren die Droge zumindest ausprobiert. Der wachsende Wettbewerb unter den Drogenanbietern habe in einigen Ländern eine Zunahme an gewalttätigen Auseinandersetzungen, Morden und Entführungen mit sich gebracht.

Interview mit einem Drogenkoch

Der Handel ist von Gewalt geprägt, der Produktionsprozess von Ausbeutung. Jene, die nach Europa geschickt werden, um in geheimen Labors zu arbeiten, sind nicht die, welche am Ende des Tages die Milliardenprofite einstreifen. Sie werden hingegen von den Gangs mehr oder minder wie Leibeigene behandelt. 

Das spanischen NarcoFiles-Partnermedium „Narcodiario“ konnte unter dem Siegel der Anonymität mit einem kolumbianischen Kokain-Koch sprechen, der in der Nähe von Madrid tätig war und dort ein sechsköpfiges Team leitete. Für eine „Einheit“ Kokain – üblicherweise eine Bezeichnung für Kilogramm – erhielt der Mann gerade einmal 450 Euro. Ein Bruchteil des Verkaufswerts. Warum macht er diese illegale Arbeit? Einer der Gründe: „Es ist das, was wir gut können“, sagt der Drogenkoch. „Ich wurde in einer Region geboren, wo das die alltägliche Arbeit jeder Familie ist. Man lernt mit Koka zu arbeiten, bevor man lesen oder schreiben kann.“

Der Mann erzählt, er sei von einem Freund für den Job in Europa empfohlen worden. Vor der Reise habe die kolumbianische Gang seinen Reisepass verlangt und die Flüge arrangiert. „Ich musste nur nach Cali fahren, wo mir eine Reiseagentur Flugtickets von Bogota nach Paris und von Paris nach Portugal gab. Man reist als Tourist.“ Von Portugal ging es weiter nach Madrid. Dort sei er spät in der Nacht abgeholt und zu Bauernhof auf dem Land gebracht worden, wo er 15 Tage verbracht und im Labor gearbeitet habe. Die Dämpfen seien intensiv gewesen: „Man muss hinausgehen um durchzuatmen. Aber wir sind schon ziemlich daran gewöhnt.“ Sie hätten nicht mit der Außenwelt kommunizieren dürfen und in Gemeinschaftsräumen mit Stockbetten geschlafen, erzählt der Mann.

Die Arbeit in derartigen Labors kann gefährlich sein. Im März 2020 flog eine Drogenküche in den Niederlanden in die Luft. Die Explosion machte einer ganzen Schafherde den Garaus und verpestete im Umkreis die Luft und den Boden. Dennoch erbringen die Kokain-Köche ihre Dienste für die Gangs gegen relativ wenig Geld. Kolumbianer, die in Spanien festgenommen worden waren, erzählten der Polizei, ihnen seien gerade einmal ein paar Tausend Euro versprochen worden. „Sie sind die armselige Basis eines kriminellen Geschäfts, das Milliarden Euro an Profiten abwirft“, sagt ein spanischer Ermittler zu OCCRP. Ähnlich wie in den Niederlanden schießen auch in Spanien die Drogenlabors aus dem Boden.

Katz-und-Maus-Spiel

Das Geschäft mit dem illegalen weißen Pulver weitet sich aus. Dass insgesamt immer mehr Kokain nach Europa kommt, zeigt sich auch an den beschlagnahmten Mengen: Laut Europol wurden 2020 und 2021 jeweils mehr als 200 Tonnen aus dem Verkehr gezogen. Ein Jahrzehnt zuvor waren es nur 49 Tonnen gewesen.

Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die große Differenz alleine aus verbesserten Ermittlungsmethoden ergibt. Letztlich können Drogenfahnder immer nur einen Teil aufspüren. Wie beschrieben, werden auch die Methoden der Schmuggler deutlich raffinierter.  Oder wie es ein belgischer Staatsanwalt gegenüber OCCRP ausdrückt: „Zwischen kriminellen Organisationen und Gesetzeshütern läuft ein niemals endendes Katz-und-Maus-Spiel.“

 

Hier geht es zur #NarcoFiles-Seite des OCCRP mit Links zu den Veröffentlichungen aller Projektpartner.

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.