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EU-Milliarden für Österreich: Überfordert statt überfördert

Das Finanzministerium veröffentlicht auf einem Transparenzportal die größten Empfänger einer EU-Förderung. Nach profil-Recherchen stellt sich heraus: Viele der angeblichen Nutznießer wissen gar nichts davon.

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„Ich stehe ein bisschen auf der Leitung.“ „Können Sie mir kurz weiterhelfen: Was sind ARF-Förderungen?“ „Bis zu Ihrer Anfrage war unserer Mandantin überhaupt der Begriff der ‚ARF-Förderung‘ unbekannt.“ „Wir bekommen jede Menge schräge Mails, aber offenbar stammt es doch nicht von einem Spaßvogel. Wir wussten gar nicht, was ARF ist.“ „Wir haben zu keinem Zeitpunkt die angesprochenen ARF-Förderungen beantragt. Möglicherweise ist es zu einer Verwechslung gekommen.“

So oder ähnlich begannen zahlreiche E-Mails und Telefonate, die profil in den vergangenen Tagen erhalten respektive geführt hat. Kurios: Am anderen Ende der Leitung waren jeweils Vertreterinnen und Vertreter von Unternehmen oder Organisationen, die vom Finanzministerium offiziell als Empfänger von „ARF“-Förderungen in Millionenhöhe ausgewiesen werden – aber selbst offensichtlich noch nie etwas davon gehört hatten. Bis zu einer Anfrage dieses Magazins im Rahmen entsprechender journalistischer Recherchen. Dann freilich begannen Telefone, Mail-Accounts und wohl auch die eine oder andere Google-Suchmaske zu glühen.

Was steckt hinter „ARF“?

Das Kürzel „ARF“ steht für „Aufbau- und Resilienzfazilität“ (auf Englisch: Recovery and Resilience Facility, RRF) – ein riesiger Fördertopf, den die Europäische Union ins Leben gerufen hat, um die Folgen der Corona-Krise abzudämpfen. Kenner der Materie munkeln, dass angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Folgen zu Beginn der Pandemie vor allem Staaten in Südeuropa unter die Arme gegriffen werden sollte. Da die EU aber nicht einfach auf Gemeinschaftskosten einzelnen Ländern helfen darf, wurde ein Instrument entwickelt, das allen Mitgliedsstaaten offensteht – und Auszahlungen an bestimmte Bedingungen knüpft.

Der Start reicht ins Jahr 2021 zurück. Bis 2026 harren nun insgesamt rund 724 Milliarden Euro der Auszahlung in Form von Zuschüssen oder Darlehen. Österreich stehen davon – einem bestimmten Berechnungsschlüssel folgend – bis zu vier Milliarden Euro zu.

Hier kommt also in relativ kurzer Zeit ziemlich viel Geld in Umlauf. Das birgt gewisse Risiken, was die korrekte Verwendung dieser öffentlichen Finanzmittel anbelangt. Um abseits staatlicher Ebenen und Kontrollinstanzen für Transparenz zu sorgen, hat sich deshalb eine Reihe europäischer Medienhäuser zu einem Rechercheverbund zusammengeschlossen. Geleitet wird das Projekt mit dem Namen „RecoveryFiles“ von der niederländischen Plattform „Follow the Money“. Für Österreich ist seit kurzem profil an Bord.

Daten plötzlich stark verändert

Und just, als vergangene Woche die Medienkooperation Fahrt aufnahm, ereignete sich folgendes: Quasi vor den Augen der Journalisten änderten sich wesentliche Daten, die das österreichische Finanzministerium zu den ARF-Förderungen im Internet veröffentlicht hat. Und zwar auf höchst unvorhersehbare Weise. Journalistisch kommt das quasi einer Operation am offenen Herzen gleich.

Was ist passiert? Die EU-Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, die Top-100-Empfänger von ARF-Leistungen zu veröffentlichen. In Österreich geschieht das über das sogenannte Transparenzportal des Finanzministeriums. Und von einem Tag auf den anderen schienen dort plötzlich um 400 bis 450 Millionen Euro weniger ausbezahlte Förderungen für Unternehmen, Vereine und andere Organisationen auf, die Leistungen im Bereich der Weiterbildung und Umschulung von Arbeitskräften erbringen. Die naheliegende Vermutung, dass ein Datenproblem vorliegen könnte, wurde auf profil-Anfrage seitens des Ministeriums vehement zurückgewiesen. Stattdessen teilte man unumwunden mit: „Niedrigere Zahlen als zuvor sind vor allem auf Rückzahlungen zurückzuführen, im kleineren Ausmaß auch auf Korrekturmeldungen.“

Das Förder-Mysterium

Förderrückzahlungen in dieser Gesamthöhe? Von mehr als siebzig Unternehmen, Vereinen und sonstigen Organisationen – quasi dem Who-is-who der heimischen Arbeitsmarkt-Ausbildungs-Szene? Was ist da los? Gleich vorneweg: Einen Tag später beteuerte das Finanzministerium entgegen der ursprünglichen Auskunft, es habe gar keine Rückzahlungen gegeben. Man habe – kurz gesagt – einen bisher enthaltenen nationalen Förderanteil im Rahmen eines der halbjährlich vorgesehenen Datenupdates aus der Gesamtsumme herausgerechnet.

Dass dadurch die früheren Zahlen zu österreichischen ARF-Empfängern – vorsichtig formuliert – wenig aussagekräftig waren, ist jedoch lange nicht das größte Problem. Noch in der Annahme, es habe Rückzahlungen gegeben, kontaktierte profil eine deutlich zweistellige Zahl der offenbar betroffenen Förderungsempfänger aus dem Transparenzportal– mit dem eingangs beschriebenen Resultat, dass so gut wie alle, von denen Rückmeldungen kamen, gar nichts vom EU-Fördertopf wussten.

Praktisch unisono legten sie dar, dass sie als ganz normale Auftragnehmer des Arbeitsmarktservice (AMS) oder anderer öffentlicher Auftraggeber agieren und etwa Schulungen durchführen oder Lehrwerkstätten betreiben würden. ARF-Förderungen hätten sie nicht erhalten, und dass sie im Transparenzportal aufscheinen, erst durch profil erfahren. Die Aufträge seien ganz normal ausgeschrieben und entsprechend der erbrachten Leistung bezahlt worden. Demnach dürfte es folgendermaßen gelaufen sein: Das AMS oder andere öffentliche Einrichtungen beauftragten Dienstleister im Ausbildungsbereich und bezahlten diese. Einen Teil des Geldes holten sie sich dann aus dem ARF-Topf retour und gaben als Empfänger der Förderungen die bereits abgegoltenen Unternehmen an, die davon jedoch nichts erfuhren.

Das AMS erläutert auf Anfrage, dass man selbst ebenfalls nicht unmittelbar ARF-Mittel erhalte. Arbeits- beziehungsweise Finanzministerium könnten jedoch zum Beispiel die sogenannte Corona-Joboffensive aus dem EU-Topf refinanzieren.

EU-Leistung nicht öffentlich dargelegt

profil fragte einige der Anbieter, ob denn bei der Auftragsvergabe dazugesagt worden sei, dass es sich um ein ARF-Projekt handeln würde, oder ob Schulungsmaterialien entsprechend gekennzeichnet gewesen seien. Keiner der Befragten konnte das bestätigen. Die Leiterin einer Ausbildungseinrichtung meint, auch die Schulungsteilnehmer hätten das nicht mitbekommen: „Ich wusste es bis gestern Abend selbst nicht.“

Das ist mehr als nur ein optisches Problem. Die EU, die oft als politischer Sündenbock herhalten muss, wenn etwas Unpopuläres auf die Bevölkerung zukommt, verschwindet gerne dann aus der Wahrnehmung, wenn sie etwas Positives bewegt. Bezüglich ARF wurde und wird in Brüssel viel gestemmt. Im „Aufbau- und Resilienzplan“, den die österreichische Regierung vorgelegt hat, heißt es, der Plan „und die darin enthaltenen Maßnahmen“ sollten „einen möglichst hohen Bekanntheitsgrad erreichen“ und „die Finanzierung durch die EU auf allen Ebenen sichtbar gemacht werden“. Davon ist man zumindest im Arbeitsmarktbereich offenbar weit entfernt.

Staat „holt sich etwas zurück“

Dazu kommt, dass im Gespräch mit Schulungsanbietern nicht unbedingt der Eindruck entsteht, dass mit dem EU-Geld etwas Neues, Zusätzliches auf die Beine gestellt worden wäre. Wurden lediglich bereits laufende Programme mit EU-Geldern refinanziert? „Davon gehe ich aus“, meint ein Verantwortlicher einer Ausbildungsorganisation zu profil: „Ich könnte mir vorstellen, dass der Staat sparen will und sich etwas zurückholt.“

Das AMS hält auf Anfrage fest, dass Förderungsempfänger von der Refinanzierung durch ARF-Mittel „nicht notwendigerweise Bescheid wissen, da sie selbst keinen ARF-Antrag stellen mussten. Kundgetan wurde die Finanzierung über die AMS-Website.“

Österreich hat bisher etwas mehr als eine Milliarde aus dem ARF-Topf ausbezahlt bekommen. Das betrifft nicht nur den Arbeitsmarktbereich: Als größter Empfänger scheinen bisher im Transparenzportal die ÖBB mit 351 Millionen Euro auf. Auch hier dürfte es jedoch so sein, dass nicht das Unternehmen direkt das Geld bekommt, sondern das Finanzministerium dieses einbehält und damit entsprechende Rahmenpläne refinanziert. Die ÖBB verweisen auf Anfrage auf eine Förderzusage von insgesamt 543 Millionen Euro.

Genaue Aufschlüsselung erst Ende 2026

Ein weiterer ARF-Empfänger aus dem Eisenbahnbereich ist die ELL Austria GmbH, die Elektroloks verleast. Geschäftsführer: der ehemalige SPÖ-Bundeskanzler und frühere ÖBB-Chef Christian Kern. Laut Transparenzportal hat die ELL, die über eine Firmenkonstruktion in Luxemburg zwei großen französischen Versicherungen gehört, rund 3,4 Millionen Euro erhalten. Kern betont gegenüber profil, man wolle „mehr hocheffiziente, vollelektrisierte Kapazitäten“ für den Schienengüterverkehr zur Verfügung stellen.

Weitere große ARF-Förderungen sind für den Ausbau des Breitband-Internets vorgesehen. Paradoxerweise kann das Finanzministerium keinen Gesamtüberblick darüber geben, wofür bisher wie viel ausbezahlt wurde: Die Zuteilung zwischen ARF-Komponente und nationalem Anteil erfolge „ex-post“ – nach der letzten Überweisung Ende 2026.

Reformen für weiteres Geld fehlen

Vielleicht hat sich das Thema ARF aber auch schon vorher erledigt: Österreich könnte es schwerfallen, die restlichen knapp drei Milliarden Euro loszueisen, die noch in Brüssel bereitliegen. Per Juli 2023 waren mehrere Reformen, die als Voraussetzungen für die Auszahlung der nächsten Tranche gelten, nicht erfüllt. Darunter das Inkrafttreten eines „Erneuerbaren Wärmegesetzes“, das eigentlich für das erste Quartal 2022 angepeilt gewesen wäre, oder die Verabschiedung einer Bodenschutzstrategie, welche bereits im vierten Quartal 2022 vorliegen hätte sollen. Ebenfalls bald ein Jahr auf sich warten lässt ein Gesetz zum automatischen Pensionssplitting.

Österreich war bemüht, möglichst viel aus dem türkis-grünen Regierungsprogramm in die ARF-Strategie zu verpacken. Nun neigt sich die Koalition ihrem Ende zu, und zentrale Punkte sind noch nicht umgesetzt. Das könnte den Förderfluss jäh zum Versiegen bringen.

Wer in Zusammenhang mit dem ARF-Topf auf europäischer Ebene prächtig verdient, sind jedenfalls auch international tätige Beratungsunternehmen. Wie das Projekt „RecoveryFiles“ aktuell zeigt, haben große Beratungsfirmen bisher zumindest 300 Millionen Euro eingenommen – unter anderem für die Unterstützung von Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung von Reformen, die in Zusammenhang mit dem ARF-Programm stehen.

 

Update 13.10.2023 um 10:10 Uhr: Ergänzung des AMS-Statements

Update 14.10.2023 um 10:10 Uhr: Ergänzung BMF-Statement: „...im Rahmen eines der halbjährlich vorgesehenen Datenupdates...“

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).