Falsches Spiel: Wie China Kritiker unterdrückt – sogar bei der UNO
September 2024, am Sitz der Vereinten Nationen in Genf: Am Rande einer Sitzung des UNO-Menschenrechtsrats widmet sich eine Diskussionsveranstaltung der Situation im autoritär regierten China – konkret der unterdrückten Volksgruppe der Uiguren. Auf dem Podium: die Vize-Vorsitzende einer UN-Arbeitsgruppe, zwei Vertreter von Menschenrechts-Organisationen und eine uigurische Menschenrechtsanwältin. Kurz zusammengefasst: China kommt in den Vorträgen nicht gut weg.
Doch kaum sind die Sprecher fertig, meldet sich eine Frau aus dem Publikum zu Wort und wirft den Diskutanten vor, „Lügen und Gerüchte“ zu verbreiten. Diese sollten sich lieber mehr um Rassismus und Waffengewalt in den USA kümmern, so der verbale Ablenkungsversuch. Wer ist die Frau? Eine Diplomatin, die naturgemäß die Position ihrer Regierung vertreten muss? Offiziell nicht. Auf dem Papier gehört sie zu einer Nicht-Regierungs-Organisation (NGO). Inoffiziell sieht die Sache jedoch ganz anders aus.
Wie eine internationale Investigativ-Kooperation unter der Leitung des „International Consortium of Investigative Journalists“ (ICIJ) zeigt, hat China zig Schein-NGOs bei den Vereinten Nationen in Stellung gebracht. Diese sind in Wahrheit eng mit dem Staat oder der kommunistischen Partei verbandelt. Derartige Schein-NGOs helfen – Kritikern zufolge – mit, die UNO zunehmend zu einem feindlichen Umfeld für Vertreter von Menschenrechtsgruppen und Opfer von Menschenrechtsverletzungen machen. Es handelt sich dabei um eine von mehreren geheimen Strategien Chinas, Regimegegner im Ausland mundtot zu machen.
Investigativ-Projekt „China Targets“
In den vergangenen zehn Monaten haben insgesamt 104 Journalistinnen und Journalisten von 43 Medienhäusern aus 30 Ländern intensiv zu diesen Strategien recherchiert – darunter auch profil. Beteiligt sind unter anderem der britische „Guardian“, die „Washington Post“, „Le Monde“ und das deutsche Investigativ-Büro „Paper Trail Media“. In Österreich berichtet – neben profil – auch die Tageszeitung „Der Standard“ über die vom ICIJ organisierte Recherche unter dem Projektnamen „China Targets“ (sinngemäß übersetzt: chinesische Ziele).
Einer der Brennpunkte: die UNO in Genf. Dort tagt mehrmals im Jahr der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Dieses Gremium besteht aus 47 Mitgliedsstaaten, die jeweils für drei Jahre von der UNO-Generalversammlung gewählt werden. Auf den ersten Blick kommt das Ganze steif und diplomatisch daher: viele Anzugträger, stundenlang folgt Rede auf Rede. Faktisch handelt es sich aber um eine zentrale Kampfzone: zwischen jenen, die der Meinung sind, dass jeder Mensch unantastbare Rechte hat; und jenen, denen solche Rechte nicht in den Kram passen. Das sind in erster Linie Diktaturen und autoritäre Regime, die alles tun, um ihre Macht einzuzementieren. Sie halten meist gar nichts davon, dass Kritiker oder Personen, die in irgendeiner Form im Weg stehen, irgendwelche Rechte haben sollten. Und schon gar nicht wollen sie, dass jemand aus einem anderen Land sich diesbezüglich einmischen könnte.
Doch genau das passiert in Genf – oder sollte dort zumindest passieren. Es ist die größte Bühne der Welt, um – abseits strafrechtlicher Verfolgung – Menschenrechtsverstöße anzuprangern, Verantwortliche namhaft zu machen und Opfern eine Stimme zu geben. Dazu gehört auch, Betroffene anzuhören, die mitunter unter großem persönlichen Risiko ihre Anliegen vertreten.
Chinas eiserne Hand
Eines jener Länder, das über sein eigenes Verhalten ungern Rechenschaft ablegt, ist China. Die Führung in Peking herrscht mit eiserner Hand und einem tiefgreifenden elektronischen Überwachungssysteme über rund 1,3 Milliarden Einwohner. Angepasst leben und nicht aufmucken, lautet die Devise. Doch nicht einmal das schützt in allen Fällen vor Verfolgung. Bestimmte Volksgruppen stehen besonders unter Kuratel: neben den muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang sind das vor allem auch die Tibeter.
Es gibt also Grund genug, China in Sachen Menschenrechte kritisch zu durchleuchten. Die UNO wäre der geeignete Ort dafür. Doch China ist mittlerweile ein echtes Schwergewicht auf der Weltbühne und stilisiert das Menschenrechtsthema gerne zu einer Frage der Weltordnung hoch. Peking inszeniert sich dabei gerne als Schutzmacht des globalen Südens, wo der Fokus manchmal mehr auf wirtschaftlichem Aufschwung als auf lupenreiner Demokratie liegt. Gleichzeitig investiert China heftig in derartigen Ländern – und ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach den USA zweitgrößter Beitragszahler bei der UNO.
Subtiler Einfluss
Die Führung in Peking steht schon länger im Verdacht, seine faktische Macht zu nutzen, um andere Länder dazu zu drängen, bei der UNO im Sinne Chinas zu agieren. Doch die Einflussnahme des autoritären Regimes auf das Geschehen bei den Vereinten Nationen spielt sich offenbar auch noch auf einer anderen, deutlich subtileren Ebene ab.
Beim UNO-Menschenrechtsrat dürfen nicht nur Abgesandte von Mitgliedsstaaten im Rahmen der Debatten mitreden. Auch Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) können sich – wenn sie über eine entsprechende Akkreditierung verfügen – zu Wort melden. Sie haben die Möglichkeit, im „Völkerbundpalast“ in Genf mit Diplomaten zu konferieren und hochrangige Neben-Events zu veranstalten. Gerade den Menschenrechtsbereich will man schließlich nicht nur staatlichen Akteuren, die immer auch Machtinteressen haben, überlassen. Doch dieses System kann offenbar ausgenutzt und ad absurdum geführt werden.
Chinas Staats- und Partei-NGOs
Aktuell verfügen 106 Organisationen aus China, Hongkong, Macau und Taiwan über den begehrten „Konsultativstatus“. Wie die Recherchen im Rahmen des Projekts „China Targets“ zeigen, sind 59 von ihnen jedoch eng mit der chinesischen Regierung oder der kommunistischen Partei Chinas verbunden: Bei 46 dieser Organisationen findet sich Führungspersonal, das auch Positionen im Regierungsapparat oder in der Partei innehat. Zehn der angeblichen NGOs erhalten mehr als die Hälfte ihrer finanziellen Mittel vom chinesischen Staat. 53 von ihnen versichern der kommunistischen Partei auf ihrer Website oder in offiziellen Dokumenten ihre Treue.
Mit anderen Worten: Was offiziell als Nicht-Regierungs-Organisation daherkommt, steht in vielen Fällen in Wahrheit unter dem Einfluss des Staates oder der Staatspartei. Der Fachbegriff dafür lautet „GONGOs“ (Government-Organised NGOs). Ein Widerspruch in sich: faktisch handelt sich um so etwas wie Schein-NGOs.
Schein-NGO mit Doppelleben
Einzelne dieser Organisationen führen dabei offenbar eine Art Doppelleben. profil stieß im Rahmen der Recherche auf eine chinesische NGO, welche auf ihrer englischsprachigen Internetseite ihre Statuten aus dem Jahr 2014 präsentiert. In diesen spielt die kommunistische Partei überhaupt keine Rolle. Auf der chinesischsprachigen Website dieser Organisation ist jedoch geradezu das Gegenteil der Fall.
Dort finden sich – offenbar aktuellere – Statuten aus dem Jahr 2019. In diesen wird der Zweck der Organisation auch darin beschrieben, das Gedankengut des Marxismus-Leninismus, von Mao Zedong, Deng Xiaoping und dem jetzigen Staatsführer Xi Jinping als Leitideologie und Handlungsanleitung anzusehen. Man wolle immer der Parteiführung folgen und die Arbeit der Partei in den gesamten Organisationsablauf und in die Organisationswicklung einfließen lassen. Die Organisation praktiziere sozialistische Kern-Werte und fördere den Geist des Patriotismus. Den Statuten zufolge ist man der Führung der kommunistischen Partei nicht nur treu ergeben, sondern sagt auch zu, Parteiaktivitäten durchzuführen.
Was ist nun die Rolle derartiger GONGOs bei der UNO – und insbesondere im sensiblen Bereich des Menschenrechtsrats?
Einschüchterung von Kritikern
Thupten Dergey ist 24 Jahre alt, in Tibet geboren und lebt in Wien. Seine Eltern seien 2008 nach Österreich geflohen, erzählt der Student im Gespräch mit profil. Er selbst sei 2010 nachgekommen. Seit zweieinhalb Jahren engagiere er sich nunmehr aktiv für die Rechte der Tibeter. Damit geht er auf Konfrontationskurs mit dem chinesischen Regime. Mittlerweile ist Dergey Co-Präsident der Menschenrechtsorganisation „Students for a Free Tibet“ in Österreich.
Trotz seiner noch vergleichsweise kurzen Tätigkeit im Aktivismusbereich hat Dergey schon mehrfach erfahren, wie es ist, wenn man gegen einen schier übermächtigen Gegner wie China antritt. Unter anderem an einem Ort, der eigentlich wie kein anderer dazu gedacht wäre, Menschenrechte und deren Verfechter zu schützen – nämlich beim UNO-Menschenrechtsrat in Genf.
Im Visier Chinas
Im Jänner 2024 stand dort eine Länderüberprüfung der Situation in China an. Nach Jahren voller Berichte über Menschenrechtsverletzungen kündigte sich bei der UNO ein öffentlicher Showdown an. Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt wollten live dabei sein und sich Gehör verschaffen. Unter den Angereisten: Thupten Dergey.
Bereits in der Menschenschlange bei der ersten Sicherheitskontrolle seien viele chinesische Vertreter gestanden, erzählt Dergey im Gespräch mit profil. Er geht davon aus, dass es sich um Repräsentanten chinesischer GONGOs gehandelt habe. „Wir sind fotografiert worden, obwohl das bei der UNO verboten ist“, sagt Dergey. Als er dann die Sicherheitskontrolle passiert gehabt habe, sei er in Richtung Sitzungsgebäude gelaufen. Und plötzlich habe er festgestellt, dass parallel zu ihm ein chinesischer Mann gelaufen sei. Dieser sei immer dann stehengeblieben, wenn auch er selbst Halt gemacht habe. „Ich habe versucht, in abzuschütteln“, erzählt Dergey.
„Da hatte ich schon Angst“
Vor dem Konferenzsaal habe es dann jedoch eine weitere Warteschlange gegeben. Auch dort seien er und andere Aktivisten fotografiert worden. „Ständig sind Leute auf mich zugegangen, die mich auf Chinesisch angesprochen haben“, sagt Dergey. „Da hatte ich schon Angst, das sind ja Regierungsleute.“
Dergey beklagt, dass die Vereinten Nationen keinen Weg gefunden hätten, effektiv gegen das Fotografieren und Filmen vorzugehen. „Das ist gefährlich“, betont der Aktivist. Das chinesische Regime sei mit seinen Gegnern schließlich nicht zimperlich. Mittlerweile zeigt Dergey öffentlich sein Gesicht, wenn er gegen das Vorgehen Pekings protestiert. Die chinesischen Behörden hätten in der Zwischenzeit ohnehin genug Fotos von ihm, meint der Student achselzuckend.
„China weiß Bescheid“
Vorgänge, wie jene, über die Dergey berichtet, lassen sich im Nachhinein nur schwer verifizieren. Fest steht, dass es zahlreiche ähnliche Fälle gibt – insbesondere, was das verbotene Fotografieren von chinesischen Regimekritikern bei der UNO in Genf betrifft.
In einer aktuellen Analyse der Menschenrechtsorganisation „International Service for Human Rights“ (ISHR) wird ein Fall aus dem März 2024 beschrieben. ISHR habe damals in Genf ein vertrauliches Treffen zwischen UNO-Funktionären und Xinjiang-Aktivisten veranstaltet. Plötzlich seien vier Chinesen aufgetaucht, die nicht eingeladen gewesen seien. Man habe sie nicht hineingelassen. Ihr Auftauchen habe aber das Ziel verfolgt, den Teilnehmern zu signalisieren, dass die chinesische Regierung über die Vorgänge Bescheid wisse und diese beobachte, folgert ISHR. Pure Einschüchterung also.
Als zwei uigurische Aktivisten dann von einer kurzen Rauchpause vor dem Gebäude zurückgekommen seien, hätten sie erzählt, von einer Person in einem schwarzen Lieferwagen fotografiert worden zu sein. Kurz darauf sei die Vierer-Gruppe in diesen Wagen gestiegen und weggefahren. Laut ISHR habe es sich bei zwei der vier Personen um Frauen gehandelt, die für einen Event eines besonders wichtigen chinesischen GONGOs in Genf gewesen seien. Eine davon habe auch in einer Sitzung des Menschenrechtsrats ein Statement für die bewusste Organisation abgegeben.
„Augen und Ohren der Regierung“
In der aktuellen Analyse geht ISHR der Frage nach, wie sich chinesische GONGOs bei der UNO in Genf auswirken. Und kommt zum Schluss, dass die Folgen beträchtlich sind. 2018 sei im Schnitt nur etwa jedes fünfhundertste NGO-Statement beim Menschenrechtsrat von einer solchen Organisation gekommen. 2024 sei es dann bereits jedes fünfundzwanzigste gewesen. Da der zeitlichen Raum für zivilgesellschaftliche Statements ohnehin begrenzt sei, werde es durch die wachsende Präsenz der GONGOs immer enger, meint ISHR. Es habe auch Fälle gegeben, in denen der Zugang zum Sitzungssaal beschränkt worden sei, weil GONGOs so viele Sitze in Beschlag genommen hätten.
GONGOs würden als „zusätzliche Augen und Ohren“ der Regierung in Peking dienen, warnt ISHR. Dadurch würde die UNO in Genf zu einem immer feindlicheren Umfeld für Aktivisten und für Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Gleichzeitig hintertreibe China die Neu-Akkreditierung legitimer Menschenrechts-NGOs.
Applaus für die eigene Staatsführung
Eine zentrale Organisation aus der Riege der GONGOs ist die „Chinese Society for Human Rights Studies“ (CSHRS). ICIJ-Recherchen zufolge findet sich die CSHRS von 2018 bis 2024 stolze 300 Mal auf der Sprecherliste bei Sitzungen des UNO-Menschenrechtsrats. Einer inhaltlichen Analyse zufolge kann die Mehrheit der Statements als pro-chinesisch angesehen werden. Dutzende andere chinesischer Organisationen – der Großteil von ihnen GONGOs – nutzten die Sitzungen ebenfalls dazu, die chinesische Regierung zu loben.
Letztlich verzerrt China damit den internationalen Diskurs über Menschenrechte, in dem das Reich der Mitte sonst wohl nur ganz wenige direkte Fürsprecher finden würde. In den vergangenen Jahren gab es nämlich jede Menge Anlass, um die Führung in Peking in diesem Bereich zu kritisieren. Ein gewichtiger Grund: die Verfolgung und massenhafte Internierung von Uiguren in der Provinz Xinjiang, die seit 2018 die UNO beschäftigt. Zufall oder nicht – seit 2018 hat sich die Anzahl der chinesischen Organisationen mit Konsultativstatus fast verdoppelt.
UNO: Differenzierung könnte missbraucht werden
Bei der UNO ist man sich des GONGO-Problems durchaus bewusst, hat aber bislang offenbar keine Lösung dafür gefunden. Auf ICIJ-Anfrage heißt es, man arbeite daran, Raum für unabhängige Organisationen zu sichern. Man könne jedoch nicht damit anfangen, zwischen „authentischen“ und „nicht-authentischen“ NGOs zu unterscheiden. Eine solche Differenzierung sei nicht durchführbar und könne auch missbraucht werden.
China hat sämtliche Vorwürfe immer zurückgewiesen. Auf aktuelle Anfrage der „China Targets“-Recherchepartner „Tamedia“ und „Paper Trail Media“ reagierte die Ständige Vertretung Chinas bei den Vereinten Nationen in Genf nicht.
Das Reich der Mitte verfolgt längst schon eine größere Vision: nicht nur die aktuelle Debatte über die Einhaltung von Menschenrechten im Griff behalten, sondern Menschenrechte als solche im eigenen Sinne umzudefinieren. Ende Februar 2025, zum 80-Jahr-Jubiläum der UNO, forderte Chinas Außenminister Wang Yi – seines Zeichens Mitglied des Polit-Büros der kommunistischen Partei – eine „Reform und Verbesserung“, um den „richtigen Zugang“ zu Menschenrechten zu „wahren“. Zusammengefasst geht es dabei stark um wirtschaftliche Entwicklung – und ganz dezidiert nicht um Einmischung von außen.
Was in China passiert, soll also in China bleiben. Applaus von Seiten seiner Schein-NGOs ist der Führung in Peking dafür wohl sicher.