Geheim-Studie zeigt, wie unzufrieden die Waldviertler sind
Die Waldviertler, die unbekannten Wesen: Im Jahr 2019 wollte die Niederösterreichische Landesregierung genau wissen, wie es um die Bedürfnisse im Nordwesten des Bundeslandes steht – und gab bei der Firma der Meinungsforscherin und früheren Familienministerin auf ÖVP-Ticket, Sophie Karmasin, eine Studie zur „Regionalentwicklung NÖ Nord“ sowie zur „Relevanz des Ausbaus der Waldviertel Autobahn“ in Auftrag. Im Rahmen dieser Erhebung führte die „Karmasin Research & Identity“ Ende 2019 Interviews mit 1200 repräsentativ ausgewählten Bewohnern der Bezirke Krems, Horn, Zwettl, Gmünd, Waidhofen/Thaya und Hollabrunn durch – eine aussagekräftige Stichprobe. Gekostet hat die Studie 49.188 Euro. Bemerkenswerterweise wurden die Ergebnisse vom Land jedoch nicht veröffentlicht – profil erhielt diese nunmehr auf Basis einer Anfrage nach dem Auskunftspflichtgesetz. Warum auch immer das Papier unter Verschluss gehalten wurde: Fest steht, dass einige Ergebnisse den politischen Repräsentanten nicht unbedingt gefallen haben dürften.
Vor der Umfragen-Affäre wurde Meinungsforscherin Sophie Karmasin vom Land Niederösterreich oft gebucht.
„Politik hat versagt“
Die „spontanen Assoziationen“ der Befragten, welche Karmasin in der Studie exemplarisch wiedergegeben hat, sprechen Bände: „Ich liebe das Waldviertel in seiner Unterentwickeltheit“ wird noch als positive Aussage gewertet. „Das Internet wird schneller, aber alles andere wird langsamer“ dann schon nicht mehr. Wobei auch gleich Schuldige für die Situation ausgemacht wurden: „Die Politik hat schon lange versagt, Bürgermeister ergreifen keine Initiative.“
Einer der 30 Befragten der „Tiefeninterviews“ brachte das Lebensgefühl der Region auf den Punkt: Das Waldviertel sei „liebevoll unterentwickelt“.
Zumindest ein Lob für die Politik ist in der Studie festgehalten: „Kulturangebot ist gut im Waldviertel, hier hat sich LH Pröll sehr eingesetzt.“ Der frühere Landeshauptmann Erwin Pröll war da allerdings bereits seit zweieinhalb Jahren nicht mehr im Amt. Nun muss sich die ÖVP-Landesspitze unter Johanna Mikl-Leitner mit der Unzufriedenheit der Waldviertler herumschlagen. „Viele Schulen haben zugesperrt, weil zu wenige Kinder da sind.“ „Kleinkindbetreuung wird kaum angeboten und ist sehr teuer, sodass es sich für Frauen nicht auszahlt, früh wieder arbeiten zu gehen.“ „Zu viele praktische ÄrztInnen, die in Pension gehen und nicht nachbesetzt werden.“ „Schließen von Ämtern, Infrastruktur, Abteilungen in Krankenhäusern.“ Und schließlich die für die Politik besonders bittere Erkenntnis: „Auf die öffentliche Seite kann man sich nicht verlassen, man muss sich in der Region selbst organisieren.“
Die Studie ist voll mit Zitaten, die aus Tiefeninterviews mit Waldviertlern stammen. Die Tonalität ist - vornehm ausgedrückt - emotional.
Auch wenn 83 Prozent der Befragten angaben, mit ihrer persönlichen Lebenssituation im nördlichen Niederösterreich sehr zufrieden oder zufrieden zu sein, kann dieses Ergebnis nicht über die herbe Schelte für die Politik hinwegtäuschen. Jene, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten weggezogen sind, wurden ohnehin nicht befragt.
Ein großer Kritikpunkt ist der öffentliche Verkehr: „Von Eggenburg komme ich mit der Bahn leichter nach Rom als nach St. Pölten“, ließ eine der befragten Personen Karmasin wissen. Und: „Ich muss mein Leben der Franz-Josephs-Bahn unterordnen.“ 63 Prozent der Befragten wünschten sich einen Öffi-Ausbau – und ein Maßnahmenpaket des Landes für die positive Entwicklung der Region. Ein allfälliger Bau einer Waldviertel-Autobahn rangierte auf der Wunschliste der Befragten gerade einmal auf Rang sechs – hinter: „Wirtschaftsförderung für Betriebsansiedelungen für mehr Arbeitsplätze in der Region“, „Ansiedelungshilfe für Hausärzte und Fachärzte in der Region“, „Ausbau des Schienennetzes“, „Bessere Bildungsangebote“ und „Ausbau Kindergärten, Horte, Pflegeeinrichtungen“.
Die Kritik an den fehlenden Öffis ist nachvollziehbar und lässt sich auch mit Zahlen untermauern. Christian Gratzer, Sprecher des Verkehrsclubs Österreich, erklärt: „Ein Indikator für mangelnde Qualität des öffentlichen Verkehrs ist die Anzahl der Pkw pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner. Eine hohe Anzahl an Pkw im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ist ein Zeichen von Mangel an öffentlichen Verkehrsverbindungen und Mangel an Nahversorgung sowie Infrastrukturen wie Ärzte, Post usw.“
Schlecht angebunden
Gemessen an diesem Indikator schneidet das Waldviertel katastrophal ab: Nirgendwo sonst in Österreich gibt es pro Kopf mehr Autos als in den vier Bezirken der
Region. In Waidhofen/Thaya kommen auf 1000 Einwohner 760 Autos, in Zwettl sind es 739, in Gmünd 723 und in Horn 716. Nur die Bezirke Krems und Krems-Land, die näher am Zentralraum St. Pölten liegen, haben Werte unter 700.
Ein zweiter Indikator für einen schwachen Öffiausbau ist der Faktor Zeit: Wer mit dem Auto schneller ans Ziel kommt, wird eher nicht auf Bus und Bahn umsteigen. Für Pendler ist besonders relevant, wie schnell sie überregionale Zentren wie Krems und St. Pölten erreichen können. Gut schaut es an Werktagen etwa von Waidhofen/Thaya nach Krems aus, da können die Busse einigermaßen mit den Autos mithalten. Anders nach St. Pölten: Autofahrer sind eine Dreiviertelstunde früher am Ziel. Wer ein Auto hat, wird es nützen.
Das Land dürfte sich das Negativ-Feedback zumindest teilweise zu Herzen genommen haben, wie auch der VCÖ anerkennt. Das Angebot sei verbessert worden, steigende Fahrgastzahlen seien die Folge. So fährt die Buslinie 170 (Krems – Zwettl – Gmünd) seit 2019 an Werktagen im Stundentakt und zählt inzwischen um rund 80 Prozent mehr Fahrgäste pro Werktag.“
Trotzdem gäbe es noch viel „Luft nach oben“, so Gratzer vom VCÖ.
Mehrheit gegen Waldviertel-Autobahn
Zurück zur Karmasin-Studie, die neben den Befindlichkeiten der Waldviertler auch die „Relevanz des Ausbaus der Waldviertel Autobahn“ zum Thema hatte. Über das Straßenprojekt wird in der Landespolitik seit Jahren heftig diskutiert, nachdem es 2018 von ÖVP-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner präsentiert worden war. Das Ziel der bisher geheimen Studie war offenbar, das Konfliktpotenzial des Projekts zu antizipieren: Karmasin wollte die „tieferliegenden Motive, Erwartungen und Ängste in Zusammenhang mit dem Bau der Waldviertel Autobahn“ herausarbeiten. Dabei geht es auch „um Empfehlungen zur Kommunikationslinie und dem Wording“.
Das Ergebnis wurde dem Land Ende 2019 präsentiert und musste die Entscheidungsträger alarmieren: Zwar ging die Befragung unter den 1200 Waldviertlern nur knapp gegen das Straßenprojekt aus (42 Prozent dagegen, 38 Prozent dafür). Allerdings ging aus den „psychologischen Einzelgesprächen“ laut der Meinungsforscherin „klar“ hervor, „dass die Gegnerinnen und Gegner der Waldviertel Autobahn aktuell viel emotionaler und überzeugter in ihrer Meinung sind, während die Befürworterinnen und Befürworter neben positiven Argumenten auch negative nennen. So sehen auch die BefürworterInnen, dass der öffentliche Verkehr ausgebaut werden muss und dass eine Autobahn eher dem Thema Klimaschutz widerspricht. (…) Sie sind also bei weitem nicht so gefestigt in ihrer Meinung wie die GegnerInnen.“ (Anmerkung am Rande: In der Studie wird fallweise gegendert.)
„Emotional“ ist eine höfliche Untertreibung von Karmasin: Die Gegner befürchteten eine „Zerstörung“ der Ursprünglichkeit, die sie an der Region so schätzen. Ein Befragter nannte das Projekt „eine Wahnsinns-Schneise durch die gewachsene Natur“, ein anderer fühlte sich schlicht „verarscht“.
Die Befürworter des Projekts hingegen brachten eher rationale Argumente wie eine Verbesserung für Pendler, eine Attraktivierung für Wirtschaftsbetriebe und die Schaffung von Arbeitsplätzen vor.
Karmasin gab dem Land eine ganze Reihe von Kommunikationsempfehlungen, wie das Ruder noch herumgerissen werden könnte – doch dazu kam es nicht mehr. Ein Jahr nach Präsentation der Studie verkündete Landeshauptfrau Mikl-Leitner Ende 2020 das Aus für das Autobahn-Projekt. Stattdessen wurden eine Verbesserung des bestehenden Straßennetzes und ein Ausbau der Öffis versprochen.
Wer seine Sorgen einer Meinungsforscherin anvertraut, kann damit manchmal mehr erreichen als mit einem Kreuz in der Wahlzelle.